Expertenstimme

Lernatmosphäre : Schule als Angstbetrieb?

Verglichen mit den Kinderzuchtanstalten früherer Jahrhunderte wirken viele Schulen heute auf den ersten Blick wie ein Spielplatz: offene Räume, bunte Bilder, gebastelte Figuren. Dennoch haben viele Kinder Angst vor der Schule. Sie sind nervös, wenn der Lehrer sie aufruft, haben Bauchweh, wenn sie an die Klassenarbeit denken. Schlechte Leistungen können Angst machen – aber Angst kann auch zu schlechten Leistungen führen und das Leben der Kinder überschatten. Tanjev Schultz, Autor des Buches „Schule ohne Angst“, erklärt in seinem Gastbeitrag für das Schulportal, was sich ändern muss.

Tanjev Schultz
Schüler lehnt den Kopf an die Tafel
©iStock

Der jüngste IQB-Bildungstrend hat für die deutschen Grundschulen einen besorgniserregenden Trend festgestellt. Immer weniger Viertklässler erreichen die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik, bei vielen Kindern mit familiärer Migrationsgeschichte ist die Entwicklung besonders ungünstig. Zugleich ist das Ausmaß an „fachbezogener Ängstlichkeit“, wie dies im IQB-Bericht heißt, erschreckend hoch: Mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler hat eine mittlere oder starke Ängstlichkeit in den Fächern Deutsch und Mathematik. Starke Ängstlichkeit plagt fast jedes fünfte Kind (18 Prozent) in Deutsch und fast jedes vierte Kind (23 Prozent) in Mathematik.

Bei vielen Kindern wird sich die fachbezogene Ängstlichkeit verfestigen, bei etlichen in eine allgemeine Schulangst verwandeln, die bis zum Schulabbruch führen kann.

Manche werden lernen, mit dem schlechten Gefühl zu leben; einigen mag es sogar gelingen, ihre Ängste zu überwinden. Doch lebensnah ist auch diese Prognose: Bei vielen Kindern wird sich die fachbezogene Ängstlichkeit verfestigen, bei etlichen in eine allgemeine Schulangst verwandeln, die bis zum Schulabbruch führen kann. Eine Gesellschaft, die das zulässt, raubt jungen Menschen die Aussicht auf eine gute Zukunft – und beraubt sich selbst der Möglichkeit, die nächste Generation ordentlich in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu integrieren.

Kinder benötigen ein Gefühl der Sicherheit

Noch immer schwanken viele pädagogische Debatten in Deutschland zwischen der alten Sehnsucht nach Drill und Disziplin auf der einen Seite und einer verklärenden Sichtweise auf freie Bildung und anti-autoritäre Erziehung auf der anderen Seite. Dabei ist es doch kein Geheimnis, was Kinder brauchen: Michel de Montaigne erkannte schon im 16. Jahrhundert, dass sowohl Zwang und Gewalt als auch Verwöhnung und Verzärtelung die falschen Wege sind und es darauf ankommt, den Kindern Lust aufs Lernen zu machen. Bei der Erziehung sollte mit „strenger Sanftmut“ verfahren werden, empfahl Montaigne. Nötig ist eine Form von mildem Stress, der fordert, ohne zu überfordern. Kinder benötigen ein Gefühl der Sicherheit, das ihnen erlaubt, Fehler zu machen und sich auch auf wacklige Pfade zu wagen.

Längst wissen wir zudem: Schülerinnen und Schüler benötigen Klarheit im Unterricht, an ihren jeweiligen Leistungsstand angepasste Aufgaben und zielgenaue Rückmeldungen, die nichts beschönigen, aber auch nicht entmutigen. Dass viele Kinder Angst haben, nicht mitzukommen, liegt gewiss auch daran, dass die Bedingungen, unter denen sie lernen und Hausaufgaben machen, alles andere als ideal sind. Kleine Wohnungen, kaum Bücher, ständige Ablenkung durch Smartphones, Geschwister oder familiäre Verpflichtungen – die Lebenswirklichkeit vieler Kinder und Jugendlicher ist weit entfernt von den Bullerbü-Fantasien der gehobenen Mittelschicht.

Individuelle Defizite ausgleichen

Wenn dann auch noch die Pubertät einsetzt, ist es schlicht unrealistisch, dass sich alle Schülerinnen und Schüler für Algebra begeistern werden oder fürs Geräteturnen oder für die Photosynthese. Das Mindeste ist aber nun einmal, wenigstens die Mindeststandards in den zentralen Fächern zu erreichen. Statt im Stoff stur weiterzuschreiten, obwohl die Grundlagen fehlen, müssten also die individuellen Defizite ausgeglichen werden, ohne die Kinder, bei denen das mehr Zeit braucht, abzustempeln. Kannst du vergessen, das wird eh nichts mehr? Doch, das kann noch etwas werden! Mit Geduld.

Statt im Stoff stur weiterzuschreiten, obwohl die Grundlagen fehlen, müssten also die individuellen Defizite ausgeglichen werden, ohne die Kinder, bei denen das mehr Zeit braucht, abzustempeln.

Leider fehlt vielen Lehrerinnen und Lehrern die Zeit, manchen vielleicht auch der Wille, die Lage jedes Kindes zu berücksichtigen und sich auch um so etwas Heikles wie Gefühle zu kümmern. Gewiss, sie sind weder Sozialarbeiter noch Therapeuten. Doch können Lehrkräfte die Angst so vieler Kinder einfach ausblenden? Diese Gefühle und der Umgang mit ihnen müssten ein wichtiges Thema an den Schulen sein und das konstruktive Gespräch darüber eingeübt werden. Je früher, desto besser, denn mit zunehmendem Alter wird es den Kindern immer unangenehmer und peinlicher, sich zu offenbaren.

Austausch über eine angstfreie Lernatmosphäre

Was in den ersten Klassen oft noch gut gelingt, geht zum Ende der Grundschulzeit schnell wieder verloren, erst recht nach dem Übergang in die Sekundarstufe: der Austausch über eine anregende und angstfreie Lernatmosphäre und der Aufbau und die Pflege einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden. So etwas lässt sich nicht verordnen, es lässt sich aber vorleben und zunächst einmal als Ziel formulieren. An einer Schule in Göttingen hat der Autor einmal einen Schulleiter getroffen, der es sich zur Regel gemacht hatte, neue Kinder so zu begrüßen: „Das wichtigste Prinzip an dieser Schule ist, dass niemand vor anderen Angst haben darf.“

Zunächst einmal ist so etwas nur eine Losung, ein Versprechen. Aber darauf lässt sich berufen. Und darüber lässt sich auch immer wieder sprechen, sogar mitten im Mathe- oder Physik-Unterricht. Eine Schule ohne Angst – das ist weiterhin eine nötige, konkrete Utopie.

Zur Person

  • Tanjev Schultz ist Autor des Buches „Schule ohne Angst: Wie eine Pädagogik mit Herz Wirklichkeit werden kann“ (Herder Verlag).
  • Als Redakteur der Süddeutschen Zeitung recherchierte und schrieb er jahrelang über bildungspolitische Themen.
  • Seit 2016 ist er Professor am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.