Expertenstimme

Bildungsungerechtigkeit : „Sozial schwach“? Wie Sprache Familien und Kinder stigmatisiert

Zuschreibungen wie „sozial schwach“, „sozial Benachteiligte“ oder „Risikofamilien“ werden zu Stereotypen, die die gesellschaftliche Spaltung weiter vorantreiben, schreibt Susanne Schwartz in ihrem Gastbeitrag für das Schulportal. Gerade im Zusammenhang mit den Folgen der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Hilfsprogrammen für Schülerinnen und Schüler sind diese Unwörter in aller Munde. Susanne Schwartz plädiert für mehr Sorgfalt bei der Sprachwahl und für passgenaue Unterstützungen statt pauschaler Einordnungen für mögliche Mittelzuweisungen.

Susanne Schwartz
Einfamilienhäuser vor Plattenbauten
Brennpunkt oder Einfamilienhaus-Idylle? Soziale Stereotype grenzen ab, in der Realität sind die Übergänge fließend.
©iStock/Frank Wagner

Kinder und Jugendliche haben während der Corona-Pandemie besonders unter Einschränkungen gelitten und bedürfen unbürokratischer und vor allem schneller Hilfen. Die COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf kam zu dem Ergebnis, dass fast jedes dritte Kind ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten bis hin zu depressiven Symptomen und psychosomatischen Beschwerden leide. In den Blick gekommen sind dabei vor allem Kinder und Jugendliche aus sogenannten sozial schwachen Verhältnissen oder mit Migrationshintergrund.

Obwohl die Studie damit ganz richtig auf besondere Problemlagen weist, was den Bedarf an Schutz, Unterstützung und Hilfen betrifft, sollten wir die Wortwahl in der medialen Verbreitung solcher Erkenntnisse sehr kritisch betrachten. In Zeiten ohnehin allgemeiner Verunsicherung muss der Sprache in der öffentlichen Berichterstattung besondere Sorgfalt zukommen.

Zuschreibungen wie „Risikofamilien“ werden zu stigmatisierenden Stereotypen

Zuschreibungen wie „sozial Schwache“, „sozial Benachteiligte“ oder „Risikofamilien“ sind seit Langem vorgedrungen in Forschung, Politik und Medienlandschaft – und von da zu den Leserinnen und Lesern. Sie suggerieren fälschlich, arme Menschen hätten soziale Defizite, und sind – klebrig wie Etiketten – zu Stereotypen mit stigmatisierender Wirkung geworden. Mit dem Corona-Virus haben sie es geradezu inflationär wieder in die Schlagzeilen geschafft, nachdem sie zwischen 2013 und 2018 heftig und zu Recht öffentlich kritisiert worden waren.

Der verschleiernde Charakter solcher Wörter wurde offenbar, denn wer kein oder wenig Geld hat, ist arm, also ökonomisch schwach, hat aber nicht automatisch soziale Defizite. Im Gegenteil schärft oft genug die eigene Betroffenheit den Blick für die Nöte der Mitmenschen. Die Nationale Armutskonferenz setzte den Begriff „sozial schwach“ auf die Liste der sozialen Unwörter, und das Magazin „journalist“ kürte das Wortpaar zur Floskel des Monats.

Es ist ein simples Schwarz-Weiß-Denken entstanden, mit dem es sich entweder schlecht oder gut leben lässt – je nachdem auf welcher Seite man sich selbst verorten kann.

Diese soziale Sensibilität ist offenbar im Gefolge der Corona-Pandemie in vielen Redaktionsstuben wieder verloren gegangen. Stattdessen wird klar: Die Corona-Krise hat auch sprachlich das Potenzial zu Beschämung, Ausgrenzung und weiterer Spaltung der Gesellschaft. Es ist ein simples Schwarz-Weiß-Denken entstanden, mit dem es sich entweder schlecht oder gut leben lässt – je nachdem auf welcher Seite man sich selbst verorten kann.

Hört man von „sozial Schwachen“, ahnt man den Geruch von Junkfood, kaltem Zigarettenrauch und ganz viel Weichspüler. Vor dem geistigen Auge entstehen Bilder heruntergekommener Stadtviertel, in denen Risikofamilien auf engem Raum leben und Problemschülerinnen und -schüler aus bildungsfernen Elternhäusern Brennpunktschulen besuchen, in denen sich Gewaltvorfälle häufen und Kinder aus migrantischen Familien die Mehrheit der Schülerschaft sind.

Die wohlhabende Gegenseite wird unweigerlich idealisiert

Als „sozial Schwache“ werden also Menschen wahrgenommen, die Probleme haben und vor allem Probleme machen. Bezogen auf Familien haben sich weitere Erkennungszeichen etabliert. Arme Kinder sollen charakteristische Vornamen tragen, aus denen sich das mangelnde Bildungsniveau ihrer Eltern herauslesen lässt. Sie stören den Unterricht, können nicht lernen und machen keine Hausaufgaben. Sie haben einen eigenen Fernseher im Kinderzimmer, ihre Eltern lesen ihnen niemals vor und kümmern sich sowieso nur darum, wie sie das Kindergeld verschwenden können. Häufig leben ihre Eltern getrennt, und ein Elternteil ist allein erziehend. Aus der COPSY-Studie lässt sich sogar noch ein weiterer Zusammenhang herauslesen, der von den Forschenden womöglich nicht intendiert war: Arme Kinder haben keine Strukturen gelernt.

Als sonnige Gegenseite drängt sich das Bild einer wohlhabenden Familie auf. Dort gibt es kaum oder nur kleinere Probleme. Die Eltern gehören zum Bildungsbürgertum und üben Berufe mit hoher Verantwortung und Prestige aus. Die Putzfrau kommt zweimal in der Woche, ein Kindermädchen springt ein, wenn die Eltern Überstunden machen müssen, und die Nachhilfe kommt ins Haus, wenn die Schulnoten schwanken. Die Kinder tragen klassische Vornamen und lernen gern in ihren schönen großen Kinderzimmern. Sie werden musisch und kulturell umfassend und liebevoll gefördert. Die Eltern lesen ihnen vor und lassen sie nie mit der Chipstüte vor dem Fernseher allein. Sie verfügen über einen festen Halt und Strukturen zur Lebensgestaltung.

Die Wirklichkeit sieht natürlich ganz anders aus und zeigt eine bunte Gemengelage mit vielen fließenden Übergängen. Die Dunkelziffer der Armut und der Bedürftigkeit kann mit dem Wortpaar „sozial schwach“ oder „sozial bedürftig“ überhaupt nicht erfasst werden. Viele Familien leben in relativer Armut, also knapp oberhalb des gesetzlich garantierten Existenzminimums, wie der Werkstattbericht „Der Einfluss von Armut auf die Entwicklung von Kindern“ der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2015 feststellt. Deren Anteil an der Bevölkerung dürfte in der Corona-Zeit noch einmal stark gewachsen sein. Zunehmend können Familien unterschiedlichste Unterstützungsbedarfe haben, egal, ob die Eltern Beschäftigte im Niedriglohnsektor, Saisonarbeitende oder Künstlerinnen sind, Bezieher von Erwerbsminderungsrenten oder Erwerbslose im Hartz IV-Bezug. Oder Freischaffende, Soloselbstständige, alleinerziehende Väter oder Akademikerinnen mit befristeten halben Stellen.

Die beständig wiederholten pejorativen Begriffe spiegeln dagegen eine klare Zugehörigkeit vor, die es nicht gibt. Sie treiben zugleich den Klassismus in der Gesellschaft voran, indem sie unseren Blickwinkel verengen und soziale Spaltungen vertiefen.

Auch deshalb sind Begriffe wie „sozial schwach“ oder „sozial bedürftig“ im Gebrauch abseits der Forschung problematisch. Neben der Stigmatisierung der einen Seite idealisieren sie unweigerlich die andere. Egal aus welcher Perspektive – es gibt immer nur „Wir und die anderen“.

Soziale Unwörter verhindern den wertfreien Blick auf Familien mit Problemen

Was machen die genannten Unwörter mit denen, auf die sie gemünzt sind? Und mit denen, die von außen auf die so bezeichneten Gruppen schauen – als Nicht-Betroffene, als Pädagogen oder Jugendhelferinnen?

Zuallererst verhindern sie einen wertfreien Blick auf Familien und Kinder mit Problemen. Klischees schwingen stets mit. Das führte in Berlin jahrelang dazu, dass es an Gymnasien so gut wie keine Schulsozialarbeit gab. Man ging wohl davon aus, dass Schülerinnen und Schüler dieser Schulform kaum aus armen Elternhäusern kommen, keine Probleme haben und deshalb kein Bedarf besteht.

Die Bedürftigkeit muss vom Hilfesuchenden nachgewiesen werden, das ist für viele beschämend. Es geht ständig um Defizite. Die negativen Zuschreibungen, die den Begriffen innewohnen, exkludieren, statt das Ziel der Inklusion voranzutreiben. Sie degradieren Menschen zu Bittstellern und Hilfeempfängern. Hilfesuchende Eltern und Kinder sehen sich gezwungen, vor fremden Menschen persönlichste Lebensumstände darzulegen, um Mittel zu erlangen, die Abhilfe in akuten Problemlagen versprechen.

In unserer Gesellschaft, in der der Spruch „Jeder ist seines Glückes Schmied“ so großes Gewicht hat, erzeugt das eine permanente Beschämung, die das Familienklima zusätzlich belastet und die Selbsthilfekräfte schmälern kann. Das Unwort „Risikofamilie“ signalisiert einen alarmierenden Zustand und befeuert die eigenen Ängste und Unsicherheiten in belasteten Familien zusätzlich.

Hilfesuchende Eltern erfahren häufig, dass als Erstes bei ihnen selbst nach den Markern der Schwäche gesucht wird, nach familiären und persönlichen Fehlstellen und Störungen, die die aufgetretenen Probleme erklären sollen. Nach dem Motto „Irgendetwas muss doch zutreffen!“ wird oft wenig sensibel in ihr Privat- und Familienleben eingedrungen. Selbstverständlich sind detaillierte und auch sensible Auskünfte die Basis für passgenaue Hilfen. Dennoch laufen Hilfegespräche viel zu oft nach dem oben beschriebenen Muster ab, nicht nur einer Person gegenüber, sondern oft verschiedenen, da Hilfeangebote vernetzt werden müssen. Sozialarbeiter, Lehrerinnen, Psychologen, Mitarbeiterinnen der Jugendhilfe und andere Beraterinnen oder Therapeuten erfahren Persönlichstes und tauschen sich untereinander über die Defizite aus.

Diese Erfahrungen sind ganz sicher auch ein Grund, aus dem viele Eltern zusätzlich zu ihren Problemen so empfindlich geworden sind, dass sie die Kooperation mit Hilfestellen verweigern und Gesprächsangebote ablehnen oder sie gar nicht erst suchen. Resignation macht sich breit.

Aus Scham gestehen viele Familien ihre Bedürftigkeit nicht ein und nehmen die ihnen möglichen Hilfen für sich und ihre Kinder nicht in Anspruch. Sie finden sich nicht in der Zuordnung zu marginalisierten Gruppen wieder. Wer möchte schon dazugehören? Sogar Notbetreuungsangebote während coronabedingter Schließungen wurden aus diesen Gründen ausgeschlagen, wie die Interministerielle Arbeitsgruppe (IMA) des Bundesgesundheitsministeriums in ihrem Abschlussbericht „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ feststellt.

Das Problem der Ressourcen: Beschränkte Mittel erreichen nicht alle Bedürftigen

Als Bildungsverlierer galten arme Kinder schon immer, in der Corona-Pandemie aber erst recht. Im Bewusstsein der verschärften sozialen Ungleichheiten sind vonseiten der Politik in den vergangenen Jahren umfangreiche Programme aufgelegt und Mittel bereitgestellt worden. Jedoch erweisen sie sich schnell als unzureichend und aus verschiedenen Gründen schwerfällig in der Umsetzung.

Allein aus den sozialen Zuschreibungen entsteht ein Ungleichgewicht – in der Annahme, dass sich sozial gut gestellte Familien besser selbst helfen könnten. Bis zu einem gewissen Grad mag das zutreffen, aber eine akademische Ausbildung oder ein akademisches Beschäftigungsverhältnis sichern heute längst nicht mehr, dass man davon sorgenfrei leben könnte, und Krankheit und Arbeitsplatzverlust können jeden treffen.

Zweifellos haben viele Familien und Kinder, die in Armut aufwachsen müssen, besondere Probleme, und die Gegenseite hat – zumindest wenn sie über Geld und soziales Kapital verfügt – davon weniger. Aber die Fähigkeit, seinen Kindern Liebe und Fürsorge zu geben, wächst nicht proportional mit dem Einkommen. Selbstverständlich gibt es viele Migrantenfamilien, Alleinerziehende und arme Familien, in denen die Kinder kaum oder keine Probleme haben und auch kein anderer Hilfebedarf besteht. Es ist ein Unding, diesen Kindern über die Zuordnung zu sozialen Gruppen pauschal Schwächen zuzumessen, aufgrund ihrer Herkunft oder der mangelnden finanziellen Ausstattung ihres Elternhauses.

Im Zuge der Corona-Pandemie sind die Problemlagen vieler Familien noch komplexer, ist die Bestimmung individuellen Hilfebedarfs noch diffuser geworden. Eine Familie mit drei Kindern an drei verschiedenen Schulen kann vielleicht den normalen Alltag organisatorisch und finanziell noch einigermaßen stemmen, gerät jedoch finanziell an eine Grenze, wenn Zusatzbelastungen wie Nachhilfe für drei Kinder hinzukommen. Anspruch auf Sozialleistungen hat diese Familie unter Umständen dennoch nicht. Damit entfällt die Voraussetzung, die an vielen Schulen den Zugang wie etwa zu den gerade stattfindenden Herbstferienschulen ebnet, die es Schülerinnen und Schülern ermöglichen sollen, Schulstoff aus den Corona-Monaten nachzuholen.

Hilfen aus dem Aufholprogramm werden nicht passgenau, sondern nach sozialen Faktoren verteilt

Die Pandemie hat gezeigt, wie wenig viele Lehrkräfte darüber wissen, wie die Situation ihrer Schüler und Schülerinnen zu Hause wirklich aussieht. Dennoch sind es Lehrerinnen und Lehrer, die nach 1,5 Jahren ungeregelten Schulbetriebs am besten wissen sollten, wer von ihren Schülerinnen und Schülern abgetaucht ist, wer sich aus dem wochenlangen Homeschooling verabschiedet hat, wer keine Lösungen abgegeben und also sehr wahrscheinlich auch nichts gelernt hat.

All diese Kinder und Jugendlichen, ob arm oder nicht, haben Hilfe und Unterstützung nötig – sie werden nicht auf wundersame Weise plötzlich motiviert und mit selbst erworbenem Schulwissen wieder in den Schulbänken sitzen. Dafür braucht man keine extra Erhebungen der Lernrückstände. Gäben wir an dieser Stelle denjenigen das Vertrauen, die die Schülerinnen und Schüler am besten kennen, könnten Fördervorgänge entbürokratisiert werden und nötige Hilfen passgenauer ankommen. Stigmatisierende und beschämende Situationen für Eltern und Kinder könnten vermieden werden.

Was richtig gemeint ist, vertieft die soziale Kluft

Nicht nur treffen die Auswirkungen der Corona-Pandemie arme Menschen und arme Familien besonders stark, sondern die mediale Berichterstattung vertieft die Kluft zwischen gesellschaftlichen Schichten und grenzt Arme weiter aus. Mit den Klischees, die Unwörter wie „sozial schwach“ oder „Risikofamilie“ vermitteln, klingt zwiespältig, was richtig gemeint und dringend vonnöten ist.

Der Abschlussbericht der IMA und der aktuelle UNICEF-Bericht „On My Mind: die psychische Gesundheit von Kindern fördern, schützen und unterstützen“ kommen übrigens ohne diese Wortpaarungen aus und ersetzen sie durch „vulnerable Gruppen“.

Zur Person

  • Susanne Schwartz lebt mit Mann und Kind in Berlin. Die Corona-Zeit traf in der Familie auf Pubertätsjahre.
  • Sie arbeitet mit Büchern, engagierte sich als Elternsprecherin und erfuhr als Nachhilfelehrerin von den zahlreichen Hürden der Schülerinnen und Schüler, denen das Lernen aus unterschiedlichsten Gründen nicht leichtfällt.
  • Ihren Blick auf das, was Sprache und pejorative Zuschreibungen bei Kindern und Familien anrichten können, hat sie hier zusammengefasst.