Response to Intervention : So reagieren die PISA-Vorreiter auf Defizite
Wie gehen erfolgreiche Bildungsnationen mit Schülerinnen und Schülern um, die die Mindeststandards in Mathematik oder Sprache nicht erreichen? „Response to Intervention“ ist ein hochwirksamer Ansatz in der Unterstützung von Risikoschülern. Anne Sliwka und Britta Klopsch fragen in ihrem Gastbeitrag, warum die Chancen, die dieser Ansatz bietet, in Deutschland bisher so wenig genutzt werden. Die Bildungsforscherinnen plädieren für eine verbindliche Anwendung im hiesigen Bildungssystem.
Auch wenn mittlerweile fast zwei Jahrzehnte seit dem „PISA-Schock“ vergangen sind –so ist doch eins geblieben: Mit fast jeder Veröffentlichung einer neuen Schulstudie werden wir wieder damit konfrontiert, wie hoch der Anteil an Schülerinnen und Schülern in Deutschland ist, die man international mit dem Zusatz „at risk“ beschreiben würde – Kinder und Jugendliche, die in Deutsch und Mathematik deutlich unter den Regelstandards bleiben oder nicht mal die Mindeststandards erreichen.
Bildungsdisparitäten beginnen in der frühkindlichen Bildung
Wir wissen heute, dass die Bildungsbenachteiligung, die sich durch einen niedrigen sozioökonomischen Status, fehlendes kulturelles Kapital und geringe Bildungsaspirationen von Familien manifestiert, früh in der Biographie der Kinder beginnt: Schon bei der Einschulung sind die Weichen für spätere Fähigkeiten vieler Kinder gestellt, wenn Bildungsdisparitäten nicht gezielt kompensiert werden. Nicht nur die Forschungen des US-amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträgers James Heckman zu „Return on Investment in Education“, (vgl. Heckman; im Internet) sondern auch viele Interventionsstudien im Kontext der frühkindlichen Bildung und der Grundschulbildung zeigen, dass ein früher Ausgleich familiär bedingter Bildungsdisparitäten langfristig deutlich mehr Menschen die Möglichkeit eröffnet, ein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben zu führen und von den vielen positiven Wirkungen von Bildung auf Arbeit und Einkommen, politische und gesellschaftliche Teilhabe, Gesundheit und Lebenszufriedenheit zu profitieren.
Neben einer verbindlichen Bildungsqualität in Kitas muss dazu vor allem die Bedeutung der Grundschule für Chancengerechtigkeit und Teilhabe neu gefasst werden. An den Grundschulen fühlen sich viele Lehrkräfte zu Recht mit der Heterogenität ihrer Schülerschaft alleingelassen, denn die Kinder liegen in Bezug auf ihr Vorwissen und ihre Vorläuferfähigkeiten bis zu drei Entwicklungsjahre auseinander.
Doch nicht nur bezüglich der subjektiven Wahrnehmung der Lehrkräfte, diese Herausforderung meistern zu können, ist die Situation hoch problematisch: Vielmehr verweisen die Daten auf dringenden Handlungsbedarf, denn Kompetenzniveaus in der Sprache und der Mathematik sind in hohem Maße prädiktiv für den späteren Schulerfolg.
In der 2017 veröffentlichten IGLU-Studie zur Lesekompetenz von Grundschülern zum Beispiel war in keinem untersuchten Land die Abhängigkeit der Lesekompetenz von der sozialen Herkunft so hoch wie in Deutschland (Mercator Institut für Sprachförderung 2018). Doch woran liegt das?
„Response to Intervention“ als Möglichkeit der gezielten Prävention
Auch wenn es sicher keine einfachen Erklärungen gibt, so fällt uns aus der Perspektive der international vergleichenden Schulforschung eines deutlich auf: Außerhalb der Sonderpädagogik spricht hierzulande kaum eine Lehrkraft über „Response to Intervention“ (RTI). Doch genau dieser Ansatz erreicht in der Studie des neuseeländischen Pädagogen John Hattie mit 1.29 eine der höchsten Effektstärken überhaupt (Hattie; im Internet). Es ist bemerkenswert, dass praktisch alle Länder, die in internationalen Schulstudien bezüglich des Anteils an Risikogruppen über Deutschland liegen, mit diesem Ansatz arbeiten. Doch was bedeutet „Response to Intervention“?
Beschreiben lässt es sich am besten als eine Pädagogik der sofortigen, passgenauen Intervention bei Nichterreichen zentraler Kompetenzstandards.
Beschreiben lässt es sich am besten als eine Pädagogik der sofortigen, passgenauen Intervention bei Nichterreichen zentraler Kompetenzstandards. Dazu ist eine regelmäßige Lernstandsdiagnostik erforderlich, die genau erhebt, was ein Kind in Deutsch und in der Mathematik „schon kann“ und was „noch nicht“. Diese Diagnostik wird in vielen erfolgreichen Schulsystemen digital durchgeführt mit Software, die das staatliche Bildungssystem über eine Cloud zur Verfügung stellt und regelmäßig weiterentwickelt. In bestimmten zeitlichen Korridoren werden die Kinder aus dem Unterricht geholt und an einen PC gesetzt. Dort arbeiten sie sich durch ein altersgerecht und attraktiv gestaltetes diagnostisches Programm, das genau ermittelt, auf welchem Kompetenzstandard sie in zentralen Teilbereichen sprachlicher und mathematischer Bildung stehen. Die digital erstellte Diagnose steht den Lehrkräften dann sofort zur Verfügung und enthält bereits konkrete Hinweise auf passende Interventionsprogramme und Fördermöglichkeiten.
Es geht darum, genau zu wissen, wer was „noch nicht kann“
Der Grundgedanke des „Response to Intervention“-Ansatzes ist, Kinder, die Mindest- und Regelstandards nicht erreichen, immer sofort so zu fördern, dass sie den Anschluss an die Klasse halten können. Es geht nicht darum, Kinder in „Förderbedürftig“ und „Nicht förderbedürftig“ zu sortieren, sondern darum, genau zu wissen, wer was „noch nicht kann“, mit gezielter Unterstützung und Förderung aber durchaus erreichen kann.
Das Modell des RTI weist dabei drei Stufen aus, die oftmals als Pyramide visualisiert sind. Die unterste Stufe, die allen Lernenden zugutekommt, ist der reguläre Unterricht, der stets auch adaptiv auf unterschiedliche Lernvoraussetzungen reagiert. Allerdings stößt er auch an Grenzen. Kinder, deren Diagnostik dann Kompetenzen aufweist, die sie „noch nicht“ zeigen können, erhalten auf der nächsten Stufe, der „fokussierten Intervention“, jeweils kurzfristig curricular intensive Kleingruppen- und/oder Einzelinterventionen, um den Anschluss an die Klasse wiederzugewinnen.
Dies betrifft in vielen Schulsystemen zwischen 15 und 20 Prozent aller Schülerinnen und Schüler, je nach Kontext der Schule kann der Anteil sogar höher sein. Die dritte Stufe, die „spezielle Intervention“, greift bei den Lernenden, für die die fokussierte Intervention noch nicht ausgereicht hat. Sie ist längerfristig angelegt, ist individualisiert und basiert auf einer vertieften Diagnostik. Häufig betrifft dies etwa fünf Prozent der Lernenden, für die durch diese Form der Intervention ein verantwortliches und professionelles pädagogisches Handeln gewährleistet werden kann.
Die zusätzliche Unterstützung zum regulären Unterricht wird damit bis zu einem Viertel aller Kinder zuteil, in Finnland liegt der Prozentsatz bei 22 Prozent aller Schülerinnen und Schüler, im kanadischen Alberta sind es zwischen 15 und 18 Prozent aller Schülerinnen und Schüler, die über „fokussierte Interventionen“ oder „spezielle Interventionen“ zusätzlich gefördert werden.
Es fällt auf, dass wir im deutschen Raum bisher unzureichend und auch nicht mit der notwendigen personellen und technischen Professionalität diagnostizieren, welche Kinder wann der Intervention bedürfen. Stattdessen nehmen wir in Deutschland häufig billigend in Kauf, dass ein gewisser Prozentsatz von Schülerinnen und Schülern mit der Last unzureichender Kompetenzen durch die Schuljahre „geschleift“ wird und Klassen wiederholen muss, statt dafür zu sorgen, dass die Schülerinnen und Schüler zentrale Mindeststandards beziehungsweise, noch besser, Regelstandards erreichen.
Es ist also genau die Risikogruppe, die uns mit jeder neuen empirischen Schulstudie vorgehalten wird, die in unserem Schulsystem nicht die Förderung erhält, die eigentlich notwendig wäre und dem internationalen Standard leistungsstarker Schulsysteme entspricht. Für diese Schülerinnen und Schüler wird ursächlich nicht klar ermittelt, wo offenkundige Lernprobleme ihre Wurzeln haben, und es findet keine strategische Ressourcenallokation statt, um diesen Kindern passgenau das Erreichen der Regelstandards in Deutsch („Literacy“) und in der Mathematik („Numeracy“) als zentrale Voraussetzungen für eine gelingende Bildungsbiografie zu ermöglichen.
Gezielte Diagnose und individuelle Unterstützung auf der Basis einer starken Kooperationskultur
Ausschlaggebend an dem Förder- und Präventionsprozess RTI ist, dass nicht nur dann zusätzlich und intensiv gefördert wird, wenn offensichtlich große Bildungsrückstände durch Wissenslücken und Lernstörungen vorliegen, sondern unmittelbar, wenn auffällt, dass ein Schüler oder eine Schülerin sein oder ihr Potenzial nicht voll ausschöpft. Für eine einzelne Lehrkraft wäre dies nicht zu bewältigen.
Schulen brauchen zudem dazu vom Staat bereitgestellte verbindliche und professionelle Verfahren der Diagnostik. Weltweit (z. B. in Kanada, Australien, Estland, Singapur) kann man schon heute Beispiele sehen, wie mithilfe digitaler Programme nicht nur der Lernstand des oder der Einzelnen erhoben wird, sondern wie gleichzeitig Lehrkräften Informationen und Materialien zu passenden Fördermaßnahmen bereitgestellt werden.
Gestärkt wird diese neue Kultur der sofortigen Intervention, wenn speziell geschulte Förderkräfte für den sprachlichen und den mathematischen Bereich eingestellt werden und flexibel und nach Bedarf eingesetzt werden können, um flankierend zum Unterricht unterschiedliche Förderangebote, auch in Kleingruppen, anbieten zu können. Diese Förderung muss nicht zwangsläufig im regulären Unterricht geschehen, sondern kann auch so gestaltet werden, dass Lernende für kurze Zeitspannen am Tag aus dem Unterricht herausgenommen werden und – je nachdem, ob es sich um eine „fokussierte“ (Stufe 2) oder um eine „spezielle Intervention“ (Stufe 3) handelt – eine intensive Förderung in Kleingruppen oder individuell erhalten.
Schulen in schwierigen Lagen benötigen über eine sozialindexbasierte Mittelzuweisung zusätzliche Ressourcen, um „Reponse to Intervention“ im notwendigen Umfang zu organisieren.
Multiprofessionelle Teams als Schlüssel zu wirksamer Förderung
Multiprofessionelle Teams sind also der eine Schlüssel zu wirksamer Förderung. Zusätzlich dazu hat sich im kanadischen Schulsystem bewährt, dass Lehrkräfte grundsätzlich in Teams arbeiten und sich mindestens einmal in der Woche systematisch über den Lernstand aller Kinder einer Jahrgangsstufe besprechen, um sowohl Fördermaßnahmen als auch die temporäre Nutzung flexibler Lerngruppen für die Folgewoche strategisch zu planen.
Ziel dieser professionellen Kooperation ist, im Zusammenspiel ein Angebot zu gestalten, das allen Kindern gerecht wird. Kinder werden dabei grundsätzlich nie so wahrgenommen, dass sie etwas „nicht können“, sondern immer als Heranwachsende, die etwas „noch nicht können“. Diese durchgängige Pädagogik des „Noch nicht“ (englisch: „not yet“) reflektiert die Grundhaltung, dass alle Kinder und Jugendlichen lernen können, dazu jedoch die jeweils für sie passenden Impulse und Unterstützung benötigen.
Kinder werden dabei grundsätzlich nie so wahrgenommen, dass sie etwas „nicht können“, sondern immer als Heranwachsende, die etwas „noch nicht können“.
Um Kinder auf ein Leben vorzubereiten, das ihnen Selbstbestimmung sowie ökonomische und politische Teilhabe an unserer Gesellschaft in vollem Umfang ermöglicht, ist es unausweichlich, alle Lernenden so zu fördern, dass sie – unabhängig von den Rahmenbedingungen, die eine Familie bieten kann – ihr volles Potenzial bestmöglich ausschöpfen. Ein klares operatives Ziel von Schulen sollte daher sein, dass möglichst viele Schülerinnen und Schüler die Regelstandards in Deutsch und Mathematik erreichen. Grundlage für alle anspruchsvolleren Bildungsprozesse muss dabei die regelmäßige professionelle Diagnostik und sofortige Förderung von sprachlichen Kompetenzen (Literacy) und mathematischen Kompetenzen (Numeracy) als Fundament von Bildung sein.
Je früher das „Not yet“ diagnostiziert wird und daraufhin gezielt interveniert wird, desto besser. Daraus leitet sich auch die große Bedeutung der frühen Bildung und der Grundschulbildung für die Kompensation von herkunftsbedingen Bildungsdisparitäten ab.
Das Modell „Response to Intervention“, dem die Hattie-Daten die enorm hohe Effektstärke von 1.29 (Hattie; im Internet) bescheinigen, sollte daher endlich verbindlich auch im hiesigen Schulsystem zur Anwendung kommen. Herkunftsbedingte Bildungsdisparitäten früh aufzufangen ist eine Win-win-Situation – für die Kinder selbst und für unsere demokratische Gesellschaft, die nicht nur auf qualifizierte Arbeitskräfte, sondern auch auf zur Teilhabe fähige Bürgerinnen und Bürger angewiesen ist.
Weiterführende Links
- Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache, 2018: „Faktencheck – Entwicklung der Lese- und Schreibleistungen“. www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/de/forschung
- James Heckman: https://heckmanequation.org/
- John Hattie: https://visible-learning.org/hattie-ranking-influences-effect-sizes-learning-achievement/
Zur Person
- Anne Sliwka ist Professorin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg. Sie forscht über Schul- und Schulsystementwicklung sowie Lehrerprofessionalität in international-vergleichender Perspektive. Sie gehört zum wissenschaftlichen Beirat für das neue Qualitätskonzept in Baden-Württemberg.
- Britta Klopsch ist ausgebildete Lehrerin und ist Juniorprofessorin am Zentrum für Lehrerbildung am KIT (Karlsruher Institut für Technologie). Vorher war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Professionalisierung von Lehrkräften und die Schulentwicklung. 2015 promovierte Britta Klopsch zum Thema: „Die Erweiterung der Lernumgebung durch Bildungspartnerschaften”.