Expertenstimme

Corona-Pandemie : Plädoyer für intelligenten Schichtbetrieb in der Schule

Mit dem Herbst steigt auch das Infektionsrisiko an den Schulen. Warum nicht einen Mittelweg einschlagen – zwischen Risikoschule und Schulschließung?, fragt Michael Felten. Der Bildungsexperte und Schulentwicklungsberater plädiert für Schule nach der Faustformel „Halbierte Klassen, halbierte Stundenzahl!“. Zu einfach gedacht?

Michael Felten
Schulflur mit offenen Türen
Von Montag bis Freitag zwei bis drei Stunden Präsenzunterricht für jede Lerngruppe, dazwischen eine Stunde für Wechsel, Lüftung und Desinfektion - so könnte der Schichtbetrieb ablaufen.
©Uli Deck/dpa

Die Frühsommerphase der Pandemie hat – mal positiv betrachtet – als großes Flächenexperiment gezeigt: Lernen ohne leibhaftig anwesende Lehrkräfte und Mitschülerinnen und Mitschüler, Unterricht nur per Videokonferenz, Haufen von Arbeitsblättern ohne Lehrerfeedback – das alles ist auf Dauer höchst demotivierend und ineffektiv. In manchen Bundesländern gab es dann noch frühzeitig die Parole, es werde sowieso jeder versetzt und niemand werde sich verschlechtern – offensichtlich hatten die dortigen Bildungsverwaltungen das Prinzip Freiwilligkeit im Jugendalter massiv überschätzt.

Volle Klassen bedeuten im Winter Aerosolwolken

Nun also seit geraumer Zeit wieder Vollbetrieb in unseren Schulen, mit ganzen Klassen. Indes werden die Tage kürzer, die Temperaturen sinken. Das Infektionsrisiko ist deshalb nicht unerheblich – wichtigstes Stichwort: „Aerosole“; insbesondere bei reduzierten Lüftungsmöglichkeiten im Winter. „Volle Klassen“ bedeuten in der kälteren Jahreszeit aber für die einzelne Lehrkraft: bis zu acht Stunden täglich in nicht einschätzbaren Aerosolwolken unterwegs sein – immer im Ungewissen, ob man selbst vielleicht schon infiziert ist und Schülerinnen und Schüler anstecken könnte. Oder ob man sich bei diesen etwas einfangen könnte bzw. alle einander anstecken. Unterrichten ist eben Beziehungssache, eine gewisse räumliche Nähe zu den Lernenden lässt sich nicht nur nicht umgehen, sondern gehört zum unentbehrlichen Handwerkszeug. Gerade jüngere und leistungsschwächere Kinder und Jugendliche brauchen das persönliche Moment des Motivierens und Erklärens, des Veranschaulichens und Ermutigens. Deshalb schneiden ja auch in der wegweisenden Hattie-Studie alle Unterrichtsaspekte, bei denen das Beziehungshafte besonders mitspielt, ausgesprochen wirkungsmächtig ab.

Unterrichten ist eben Beziehungssache, eine gewisse räumliche Nähe zu den Lernenden lässt sich nicht nur nicht umgehen, sondern gehört zum unentbehrlichen Handwerkszeug.

Stundenlanges gedrängtes Miteinander halte ich deshalb für nicht wirklich verantwortbar. Dazu womöglich wieder Maskenpflicht – die wäre ja in vollen Klassen, bei Unterschreitung des Mindestabstands eigentlich geboten. Pädagogisch bedeutet die Mund-Nasen-Bedeckung aber eine erhebliche Einschränkung. Zudem tut sich ein neues Stör- und Disziplinierungsfeld auf. Stillsitzen im Unterricht ist ohnehin eine Zumutung – aber wenn man wegen der Maske auch noch schlecht Luft kriegt oder zusätzlich ermüdet? Zudem vermögen die Lehrkräfte kaum mehr die Mimik ihrer Schülerinnen und Schüler zu erkennen, sie sehen kein Unverständnis, keine Begeisterung. Andererseits: Neuerliche Schulschließungen würden viele Eltern an den Rand des Wahnsinns treiben und die Wirtschaft unzumutbar belasten. Und ein permanentes Hin und Her bringt es ja wohl auch kaum.

Jede Schülerin, jeder Schüler säße an einem eigenen Tisch

Aber warum nicht einen Mittelweg einschlagen: zwischen Risikoschule und Distance Learning? Ich plädiere vehement für einen intelligenten Schichtbetrieb. Er wäre einfach zu organisieren, und er ließe sich auch mit der ohnehin mageren, durch Corona zusätzlich ausgedünnten Personaldecke bewältigen. Die Faustformel hieße: halbierte Klassen, halbierte Stundenzahl! Die Klassen würden geteilt, jede Schülerin, jeder Schüler säße an einem eigenen Tisch, jede Hälfte hätte täglich je nach Alter zwei bis drei Stunden Präsenzunterricht. Nacheinander, dazwischen eine Stunde für Wechsel, Lüftung und Desinfektion. Es gibt auch positive Erfahrungen mit der Variante „Eine Woche Schule, die andere Woche Heimarbeit“ – aber das Prinzip „Jeden Tag halbe Schule“ ist lernwirksamer, und auch Eltern könnten damit besser planen.

In der Sekundarstufe etwa gäbe es täglich eine Doppelstunde im Kernfach sowie eine Einzelstunde Nebenfach, und ein Tag der Woche wäre für Kunst oder Musik und Sport reserviert. In aufgelockertem, aber vertrautem Verbund würden die fachlichen Kerninhalte erarbeitet – solch kleine Gruppen arbeiten ja eminent effektiv, ohne direkten Banknachbarn ist’s eben viel störungsärmer…Die Oberstufe müsste man risikoarm reformieren, dort wechseln die Schüler ja sonst ständig die Kurse, sprich: die Keimzone. Warum nicht auch hier übergangsweise feste Lerngruppen bilden – so ein Hit waren Kurszersplitterung und Freiheit jetzt auch nicht.

Geübt würde zu Hause mit digitaler Unterstützung oder in der Schule in (freiwilliger) Ganztagsbetreuung – und die Fachlehrkräfte müssten wöchentlich Feedback geben sowie erbrachte Leistungen auch beurteilen.

Geübt würde zu Hause mit digitaler Unterstützung oder in der Schule in (freiwilliger) Ganztagsbetreuung – und die Fachlehrkräfte müssten wöchentlich Feedback geben sowie erbrachte Leistungen auch beurteilen. Der bisherige Verzicht auf Leistungsbewertung hat ja förmlich zur Passivität eingeladen, Schülerinnen und Schüler mit Lernschwächen bzw. bildungsfernem Hintergrund hat das zusätzlich benachteiligt. Schriftliche Tests und Klassenarbeiten wären durchaus obligatorisch, wenn auch verringert in Anzahl und Umfang. Zur Unterstützung lernschwächerer Schülerinnen und Schüler gäbe es zusätzliche Stützkurse in den Kernfächern Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen. Alles in allem: in Präsenz fordern und fördern, in Distanz üben und vertiefen.

Manche Fächer müssten wohl kürzertreten

„Halbe Klasse, halbe Zeit“ leistet sicher nicht das Gleiche wie ein schulischer Vollbetrieb, manche Fächer müssten wohl kürzertreten – aber Corona-Risiko und -Ungewissheit ließen sich so erträglich überstehen, auch mit pandemiebedingt reduziertem Personal.

Zu einfach gedacht? Als Richtschnur könnte das ja nicht schaden. Und wäre natürlich zu konkretisieren, für verschiedene Schulformen, nach einzelnen Schulstandorten. Die Leopoldina jedenfalls hat in ihrer fünften Ad-hoc-Stellungnahme (unter Verweis etwa auf Dänemark) durchaus in diese Richtung plädiert. Die Situation erfordert es jedenfalls, dass alle Beteiligten etwas investieren – und auf einen zügigen, dem Risiko angemessenen Konsens bedacht sind. Denn Schule als Beziehungsfeld und Lernbaustelle ist eine unersetzliche Entwicklungsheimat für unsere Jugend.

Zur Person

  • Der Pädagoge und Publizist Michael Felten arbeitet nach langem Lehrerleben als freier Schulentwicklungsberater und beantwortet Fragen unter www.eltern-lehrer-fragen.de.
  • Felten ist außerdem Autor pädagogischer Sachbücher. Soeben erschien von ihm „Unterricht ist Beziehungssache“, Reclam, 2020.