Expertenstimme

Internationaler Vergleich : Was macht den Lehrerberuf attraktiv?

Viel zu wenige junge Menschen interessieren sich in Deutschland für ein Lehramtsstudium. Wie lässt sich das ändern? Wie kann der Lehrerberuf wieder an Attraktivität gewinnen? Am Verdienst, an der Zahl der Unterrichtsstunden und an der Klassengröße liegt es nicht, sagt der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher, der auch für die PISA-Studien verantwortlich ist. Viel wichtiger seien gute pädagogische Beziehungen, Arbeiten im Team, Gestaltungsfreiraum und Eigenverantwortung. In seinem Gastbeitrag für das Schulportal beschreibt er, was Deutschland von anderen Ländern lernen könnte, um den Lehrerberuf wieder attraktiv zu machen.

Andreas Schleicher
Kinder sitzen auf einer Wiese
Zur Attraktivität des Lehrerberufs gehört auch, dass Lehrkräfte Freiräume haben - zum Beispiel bei der Unterrichtsgestaltung.
©Shutterstock

Nur Luxemburg bezahlt seine Lehrkräfte besser als Deutschland. Finnische Lehrerinnen und Lehrer verdienen etwas mehr als die Hälfte ihrer deutschen Kollegen. Trotzdem gibt es in Finnland sieben Bewerberinnen und Bewerber auf jede Lehrerstelle, während in Deutschland Lehrermangel herrscht. Das zahlenmäßige Verhältnis von Grundschülerinnen und Grundschülern pro Lehrkraft unterscheidet sich zwischen beiden Ländern kaum. Wenn nicht Geld und Klassengrößen – was macht den Lehrerberuf dann attraktiv?

Die Erwartungen an Lehrkräfte sind hoch und steigen beständig. Wir erwarten von ihnen Expertenwissen darüber, was sie unterrichten, wen sie unterrichten und wie Schülerinnen und Schüler lernen. Wir erwarten von ihnen, leidenschaftlich und mitfühlend zu sein; Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Hintergründen und Sprachen als Coach und Mentorin oder Mentor individuell zu begleiten und Toleranz und sozialen Zusammenhalt zu fördern.

Lehrkräfte als Vorbilder lebenslangen Lernens

Und nicht zuletzt werden Schülerinnen und Schüler nur dann zum lebenslangen Lernen motiviert, wenn sie ihre Lehrkräfte als aktive, lebenslang lernende Personen wahrnehmen, die dazu bereit sind, ihren eigenen Horizont zu erweitern und das etablierte Wissen ihrer Zeit infrage zu stellen.

Wir erwarten aber noch mehr, als in den Stellenbeschreibungen steht. Die meisten erfolgreichen Menschen hatten in ihrer Schulzeit wenigstens eine Lehrkraft, die ihr Leben entscheidend beeinflusst hat – weil sie ein Vorbild war, sich wirklich für das Wohlergehen ihrer Schülerinnen und Schüler und deren Zukunft interessierte und emotionale Unterstützung bot, wenn sie sie brauchten. Eine Arbeitsorganisation und Unterstützungskultur zu schaffen, in denen diese Eigenschaften gedeihen, trägt wesentlich dazu bei, dass alle Schülerinnen und Schüler erfolgreich sind und der Lehrerberuf attraktiv ist.

Gestaltungsspielraum macht den Beruf attraktiv

Einfache Rezepte wie Gehälter erhöhen, Klassen zu verkleinern oder Stundendeputate zu verringern greifen nicht. Die Klassengrößen liegen in Deutschland im OECD-Mittel, die Stundendeputate leicht unter dem OECD-Mittel. Vielerorts hört man, unterrichtsferne Aufgaben sollten auf andere Dienstleister ausgelagert werden, damit sich Lehrerinnen und Lehrer ganz auf den Unterricht konzentrieren können. Das scheint zunächst effizient, aber in Finnland verbringen Lehrkräfte ein Drittel ihrer Zeit mit Schülerinnen und Schülern außerhalb des Klassenverbands, oft kümmern sie sich dort um soziale Belange. In Japan reinigen die Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit ihren Lehrerinnen und Lehrern am Ende des Schultags sogar noch das Schulgebäude, denn es ist ihr gemeinsames Haus, für das sie gemeinsam verantwortlich sind. Sie arbeiten außerdem über ihren Unterricht hinaus in Teams und gemeinsam mit anderen Schulen an der Entwicklung und Umsetzung von innovativen Lernformaten.

Vorschriftslastige Unterrichtsmodelle bringen selten kreative Lehrkräfte hervor.

In all dem liegt ein wesentlicher Schlüssel zur Attraktivität des Lehrerberufs. Fragt man Lehrerinnen und Lehrer, die mit ihrem Beruf zufrieden sind, was ihnen am wichtigsten ist und womit sie viel Zeit verbringen, dann beziehen sich die häufigsten Antworten auf die Qualität der Beziehungsarbeit, das Arbeiten im Team einschließlich Unterrichtshospitationen, Mentoring und gemeinsame professionelle Weiterentwicklung sowie Gestaltungsfreiraum und Eigenverantwortung.

In den Niederlanden entscheiden Schulen viel mehr selbst

Vorschriftslastige Unterrichtsmodelle bringen selten kreative Lehrkräfte hervor. Personen, die nur ausgebildet werden, um vorgebratene Hamburger aufzuwärmen, werden keine Spitzenköche. Im Gegensatz dazu findet produktiver Unterricht statt, wenn Lehrkräfte Eigenverantwortung für ihre Schulklassen haben und wenn sich die Schülerinnen und Schüler für ihr Lernen verantwortlich fühlen. Die Lösung besteht also darin, Vertrauen, Transparenz, professionelle Autonomie und die kooperative Kultur des Berufs gleichzeitig zu stärken. Wenn Lehrkräfte Eigenverantwortung übernehmen, kann man kaum mehr von ihnen verlangen, als sie selbst von sich verlangen.

In den Niederlanden werden 90 Prozent aller Entscheidungen vor Ort, in den Schulen und Klassenzimmern getroffen; in Deutschland sind es gerade einmal 17 Prozent. Vor einigen Jahren haben wir untersucht, wie das niederländische Bildungsministerium Fachstandards entwickelte, die von den Lehrkräften selbst ausgingen.

Lehrkräfte stärker an der Entwicklung von Lehrplänen beteiligen

Anfangs gab es die Sorge, dass die Berufsstandards auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners festgelegt würden, wenn diese Aufgabe der Lehrerschaft überlassen werde. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Wahrscheinlich wäre keine Regierung der Niederlande jemals in der Lage gewesen wäre, so anspruchsvolle Standards für den Beruf festzulegen wie die Lehrerschaft selbst. Letztendlich haben Lehrkräfte, ebenso wie andere Fachkräfte, ein Interesse daran, die Standards und das Ansehen ihres Berufs zu sichern.

Die Umsetzung eines staatlich festgelegten Lehrplans in die Unterrichtspraxis zieht sich in der Regel über zehn Jahre hin, weil es so lange dauert, die Ziele und Methoden über die verschiedenen Ebenen des Bildungssystems hinweg zu vermitteln und in die Lehrerausbildung zu integrieren. Wenn sich Lerninhalte und Lernmethoden aber schnell ändern, vergrößert dieser langsame Umsetzungsprozess die Kluft zwischen dem, was die Schülerinnen und Schüler lernen sollten, und den Unterrichtsinhalten und -methoden der Lehrkräfte.

Null Prozent Schulautonomie bedeutet für die Lehrkräfte hundert Prozent Isolation hinter geschlossenen Klassenzimmertüren.

Die einzige Möglichkeit, diesen zeitlichen Rahmen zu verkürzen, besteht darin, die Lehrertätigkeit so zu professionalisieren, dass die Lehrkräfte den Lehrplan nicht nur als Endprodukt bekommen, sondern auch an seiner Entwicklung entscheidend beteiligt sind.

Genau dies fehlt in Deutschland. Außerdem werden die Lehrinhalte in Zukunft immer weniger den Kern und immer mehr den Kontext eines guten Unterrichts ausmachen.

Paradoxerweise werden Lehrkräfte durch eine industrielle Arbeitsorganisation häufig auf sich allein gestellt. Null Prozent Schulautonomie bedeutet für die Lehrkräfte hundert Prozent Isolation hinter geschlossenen Klassenzimmertüren. Die Position der Lehrkräfte kann aber in dem Maß gestärkt werden, wie der von Vorschriften geprägte Ansatz zurückgeht.

Zunehmende berufliche Autonomie bedeutet jedoch auch, eigene Praktiken zu hinterfragen. Es geht nicht darum, dass Lehrkräfte ihre eigene Herangehensweise entwickeln, sondern dass sie von der Lehrerschaft gemeinsam entwickelte Praktiken anwenden – was Unterrichten nicht nur zu einer Kunst, sondern auch zu einer Wissenschaft macht.

Lehrerschaft entwickelt gemeinsam Praktiken

Herauszufinden, welche pädagogischen Ansätze in welchen Umgebungen am besten funktionieren, erfordert Zeit, aber auch Investitionen in die Forschung und Arbeitskultur in den Schulen. Um das zu erreichen, muss die industrielle Arbeitsorganisation in eine wirklich professionelle Arbeitsorganisation umgewandelt werden, in der bürokratische und administrative Organisations- und Kontrollformen durch professionelle Transparenz und Arbeit im Team ersetzt werden. Wenn Lehrkräfte mehr berufliche Ermessensfreiheit erhalten, entwickeln sie den notwendigen Handlungsspielraum, um bei Schülerinnen und Schülern Kreativität und kritische Denkfähigkeiten zu fördern, die im 21. Jahrhundert für den Erfolg von entscheidender Bedeutung sind und die in stark von Vorschriften geprägten Lernumgebungen viel schwerer entstehen.

Zur Person

OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher
©Jörg Carstensen/dpa
  • Andreas Schleicher ist Direktor für Bildung und Kompetenzen bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
  • Jedes Jahr gibt er den Bericht „Bildung auf einen Blick“ zum Stand der Bildung weltweit heraus. Außerdem ist er Chefkoordinator der PISA-Studie, die er auch entwickelt hat und die 2001 erstmals erschien.
  • Schleicher hat in Hamburg Physik studiert und danach in Australien einen Master in Mathematik und Statistik gemacht.