Expertenstimme

Andreas Schleicher : „Absolute Priorität für die Öffnung von Kindergärten und Schulen“

Die Schulen in Deutschland waren wegen der Corona-Pandemie 2021 länger geschlossen als in den meisten anderen Ländern weltweit – mit schwerwiegenden Folgen für die Leistung und die psychosoziale Stabilität der Kinder. OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher mahnt daher an, die Schulen in der vierten Welle zumindest für jüngere Kinder möglichst offen zu halten. Und er appelliert an die Bildungsverantwortlichen, aus der Pandemie Lehren zu ziehen und sich zukünftigen Herausforderungen mit mehr Offenheit, Kreativität und Engagement zu stellen.

Andreas Schleicher
Stühle auf Tisch - Andreas Schleicher lehnt Schulschließungen ab
OECD-Bildungsexperte Andreas Schleicher fordert die Bildungspolitik auf, Alternativen zu Schulschließungen zu finden.
©Klaus-Dietmar Gabbert/dpa

Kinder sind vom Coronavirus nur selten direkt betroffen. Es gibt aber wohl keine Gruppe, die wiederum von den Maßnahmen zur Eindämmung dieses Virus stärker betroffen war. Schulschließungen führen nicht nur zu Leistungsverlusten, sondern gerade für Kinder aus bildungsfernen Schichten ist die Schule oft einer der wichtigsten sozialen und emotionalen Bezugspunkte. Und insbesondere für kleine Kinder und Kinder mit Benachteiligungen bietet digitales Lernen wenig Alternativen.

Wir haben in den vergangenen Monaten viel dazugelernt. Zuallererst sollten wir auch bei schwieriger Infektionslage der Öffnung von Kindergarten und Grundschulen absolute Priorität einräumen – das ist vielerorts in Europa und der Welt seit dem ersten Lockdown auch der Fall. Verlässlichkeit und Planbarkeit von Schule sind für Schülerinnen und Schüler sowie Eltern unabdingbar. Von einem guten Bildungssystem können wir erwarten, dass jede Schülerin und jeder Schüler einen verlässlichen und täglichen Ansprechpartner in der Schule hat, was immer auch an Infektionsgeschehen passiert. Außerdem braucht man auf der einen Seite transparente Kriterien für Schulöffnungen, auf der anderen Seite aber auch viel mehr Verantwortung, Flexibilität und Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort.

Die vielleicht größte Gefahr für die Zukunft von Bildung liegt aber darin, dass wir so gebannt auf die nächste Corona-Welle schauen, dass uns dies den Blick auf zukünftige Herausforderungen verstellt.

Klar ist, dass dort, wo hybrides Lernen und Wechselunterricht aus Kapazitätsgründen notwendig werden, dieses viel besser im täglichen Wechsel funktioniert als im wöchentlichen Wechsel. Wichtig ist auch, bei der Verteilung von Ressourcen viel stärker auf den sozialen Kontext zu achten. Formelbasierte Schulfinanzierung, bei der sich die Mittel am Hintergrund der Schülerschaft und der Umgebung der Schule orientieren, ist heute internationaler Standard.

Die vielleicht größte Gefahr für die Zukunft von Bildung liegt aber darin, dass wir so gebannt auf die nächste Corona-Welle schauen, dass uns dies den Blick auf zukünftige Herausforderungen verstellt. Die Zukunft wird uns immer wieder überraschen.

Algorithmen sortieren Menschen in Gruppen von Gleichgesinnten

Wir leben in einer Welt, in der Dinge, die leicht zu lernen und zu testen sind, auch leicht digitalisiert und automatisiert werden können. Die Welt belohnt uns nicht mehr allein für das, was wir wissen – Google weiß ja schon alles –, sondern für das, was wir mit dem, was wir wissen, tun können. In der Zukunft geht es darum, die künstliche Intelligenz von Computern mit den kognitiven, sozialen und emotionalen Fähigkeiten und Werten von Menschen zu verknüpfen. „Erfolg in der Bildung“ bedeutet heute, nicht nur Sprache, Mathematik oder Geschichte, sondern ebenso Identität, Handlungsfähigkeit und Sinnhaftigkeit. Es geht darum, Neugier und Wissensdurst zu wecken – den Intellekt für Neues zu öffnen; es geht um Mitgefühl – die Herzen zu öffnen; und es geht um Mut und die Fähigkeit, unsere kognitiven, sozialen und emotionalen Ressourcen zu mobilisieren. Denn das werden auch unsere besten Waffen sein gegen die größten Bedrohungen unserer Zeit: Ignoranz, Hass und Angst.

Wir werden geboren mit dem Gefühl der Zugehörigkeit zu unserer Familie und zu anderen Menschen mit gemeinsamen Erfahrungen oder kulturellen Normen. Hinzu kommt im Computer-Zeitalter, dass uns Algorithmen zunehmend in Gruppen von Gleichgesinnten sortieren. Und damit virtuelle Blasen schaffen, die unsere eigenen Ansichten verstärken, uns aber von divergierenden Perspektiven isolieren. Um dem zu begegnen, bedarf es bewusster und kontinuierlicher Anstrengungen, die Art von verbindendem sozialen Kapital zu schaffen, durch das wir Erfahrungen und Ideen teilen und ein gemeinsames Verständnis aufbauen können.

Dies wiederum ist Voraussetzung, um unseren Vertrauensradius zu erweitern. Bei der Arbeit, zu Hause und in der Gemeinschaft werden Menschen ein tiefgehendes Verständnis dafür benötigen, wie andere denken – ob als Wissenschaftlerin und Wissenschaftler oder als Künstlerin und Künstler – und wie andere in verschiedenen Kulturen und Traditionen leben. Gesellschaften, denen dies gelingt, waren schon immer kreativer, da sie von überallher auf die besten Talente zurückgreifen und auf vielfältigen Perspektiven aufbauen können, und damit Innovation fördern. Die letzte PISA-Studie hat gezeigt, dass das Interesse deutscher Schülerinnen und Schüler an anderen Kulturen vergleichsweise gering ist.

Andreas Schleicher: Lernen, mit Unwägbarkeiten umzugehen

Die wachsende Komplexität des modernen Lebens für den Einzelnen und für Gemeinschaften bedeutet, dass auch die Lösungen für unsere Probleme komplex sein werden: In einer strukturell unausgeglichenen Welt bedeutet die Notwendigkeit, unterschiedliche Perspektiven und Interessen miteinander in Einklang zu bringen – in einem lokalen Umfeld, aber mit oft globalen Auswirkungen –, dass wir mit Spannungsfeldern und Dilemmata umgehen müssen. Es geht darum, das richtige Gleichgewicht zwischen konkurrierenden Forderungen zu finden – ob Gerechtigkeit und Freiheit, Autonomie und Gemeinschaft, Innovation und Kontinuität oder Effizienz und demokratischem Prozess. Dazu müssen wir in einer stärker integrierenden Weise denken können. Unsere Fähigkeit, mit Unwägbarkeiten und Mehrdeutigkeiten umzugehen, wird zum Schlüssel.

Die Aufgabe von Bildung ist, Menschen erster Klasse zu entwickeln – nicht Roboter zweiter Klasse.

Das führt uns zu der schwierigsten Frage in der Bildung: Es geht um die Werteorientierung von Bildungsprozessen. Werte waren schon immer von zentraler Bedeutung für die Bildung, aber es ist an der Zeit, dass sie von impliziten Bestrebungen zu expliziten Bildungszielen und -praktiken werden, damit sie uns helfen, uns von situationsbedingten Wertesystemen – „Ich tue, was immer eine Situation mir erlaubt“ – zu nachhaltigen Wertesystemen zu entwickeln, die Vertrauen und soziale Bindungen stärken. Wo Bildung den Menschen nicht ein solides Fundament bietet, werden viele versuchen, Mauern zu errichten, egal, wie selbstzerstörerisch das ist.

Fähigkeiten, die wir in unseren Computern geschaffen haben, sollten wir ergänzen und nicht mit ihnen konkurrieren. Die Aufgabe von Bildung ist, Menschen erster Klasse zu entwickeln – nicht Roboter zweiter Klasse.

Nur: Wie schaffen wir das? Politiker behaupten gern, Bildung habe oberste Priorität. Gerade die Corona-Krise hat gezeigt, dass sie diesem Anspruch in der Praxis oft nicht gerecht werden. In Japan oder China investieren Eltern und der Staat die letzten Mittel in die Zukunft ihres Landes, das heißt: die Bildung ihrer Kinder. In Deutschland haben wir das Geld unserer Kinder bereits für unseren eigenen Konsum ausgegeben und sind deshalb hoch verschuldet. Das müssen wir ändern.

In deutschen Schulen werden Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Bedürfnissen meist noch in einheitlicher Weise unterrichtet. Zukünftige Schulsysteme begegnen den vielfältigen Schülerbedürfnissen in der Regel mit differenzierten pädagogischen Ansätzen – ohne Abstriche an die Leistungserwartungen.

Lehrkräfte stärker zu Innovationen anregen

Und nirgendwo ist ein Schulsystem besser als seine Lehrkräfte. Zukünftige Schulsysteme wählen und bilden ihre Lehrkräfte sorgfältig aus, und sie gehen von administrativer Kontrolle und Rechenschaftslegung über zu professionellen Formen der Arbeitsorganisation. Sie ermutigen ihre Lehrkräfte dazu, innovativ zu sein, ihre eigenen Fähigkeiten und die ihrer Kolleginnen und Kollegen weiterzuentwickeln und an beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen, die Unterrichtspraxis verbessern. In leistungsstarken Schulsystemen geht es weniger darum, den Blick innerhalb der Verwaltung des Schulsystems nach oben zu richten. Vielmehr geht es darum, den Blick nach außen zu richten, auf die Kolleginnen, Kollegen und Schulen nebenan, um eine Kultur der Zusammenarbeit und starke Innovationsnetzwerke zu schaffen.

Heute dominiert oft das Trennende – Lehrkräfte und Lehrinhalte werden auf Fächer aufgeteilt, die Lernenden nach ihren künftigen Berufsaussichten getrennt. In den Schulen bleiben die Schülerinnen und Schüler unter sich und der Rest der Welt außen vor. Moderne Lernumgebungen schaffen Synergien und öffnen neue Wege, um berufliches, soziales und kulturelles Kapital zu stärken. In einer Welt komplexer Lernsysteme begrenzt Isolation das Entfaltungspotenzial erheblich.

Bildungssysteme, die sich durch alternative Denkweisen bedroht fühlen, werden immer weiter zurückfallen. Die Zukunft ist mit denjenigen, die offen sind für die Welt und bereit, von und mit den leistungsfähigsten Bildungssystemen der Welt zu lernen.

Die Herausforderungen sind gewaltig, aber wir haben die Fähigkeit, zu gestalten. Die Aufgabe lautet nicht, das Unmögliche möglich zu machen, sondern das Mögliche zu realisieren.

Zur Person

  • Andreas Schleicher ist seit 1994 bei der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) und dort seit sieben Jahren Direktor für Bildung und Kompetenzen.
  • Jedes Jahr gibt er den Bericht zum Stand der Bildung weltweit heraus. Außerdem ist er Chefkoordinator der PISA-Studie, die er auch entwickelt hat und die 2001 erstmals erschien.
  • Schleicher hat in Hamburg Physik studiert und danach in Australien einen Master in Mathematik und Statistik gemacht.
OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher
©Jörg Carstensen/dpa