Expertenstimme

Hans Anand Pant : Nicht ein Virus ist schuld

Die Corona-Krise ist auch eine Krise des Schulsystems. Die Gründe liegen in vier Verirrungen, die schon lange vor der Pandemie existierten. Nun wird es Zeit für ein neues Verständnis von Leistung, für Kooperation und Ko-Konstruktion statt Rückkehr zum vermeintlich Bewährten.

Dieser Beitrag ist am 11. September im Magazin des Bayerischen Lehrer– und Lehrerinnenverbands (BLLV) „Bayerische Schule“ erschienen. 

Hans Anand Pant
Abiturprüfung in der Turnhalle mit Sicherheitsabstand
Die offiziellen Regelungen in der Krise zielten vor allem darauf ab, die Prüfungen stattfinden zu lassen.
©Felix Kästle/dpa

Es ist eine selbstwertdienliche, zumindest aber geschönte, Darstellung zu behaupten, das deutsche Bildungssystem habe sich auf ein Ereignis wie die Corona-Krise nicht vorbereiten können. Die Folgen seien quasi unvorhersehbar und unabwendbar über uns gekommen. Es ist vielmehr das dritte Mal innerhalb weniger Jahre, dass unsere Schulen und das gesamte Schulsystem durch disruptive Ereignisse vor ganz außergewöhnliche Herausforderungen gestellt werden.

Zuerst galt es, die gesetzlichen Vorgaben zur Inklusion, zum gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf umzusetzen – für viele Schulen bis heute ein fast nicht einlösbar erscheinender Anspruch. Es folgte die „Flüchtlingskrise“, die sich vor allem als eine Krise des Einsprachigkeitshabitus unseres Bildungssystems erwies und die das hektische Organisieren von Übergangs- und Deutschförderklassen zur Folge hatte. Die Corona-Krise jedoch lässt die Schwächen unseres Bildungssystems noch einmal sehr viel deutlicher zu Tage treten, denn sie trifft landauf, landab jede Schule und jede Schulart. Wir erleben also zum dritten Mal in kurzer Zeit Situationen mit Überforderungspotenzial für das Schulsystem.

Dieses Moment der Überforderung, das nicht nur in den Schulen, sondern auch bei Eltern, Lernenden oder in der Schulverwaltung fast körperlich spürbar war, ist jedoch nicht den historischen „Zufälligkeiten“ globaler Kriegsereignisse oder einer Pandemie geschuldet, sondern weitgehend hausgemacht. Grund dafür – so die These, die ich hier vertreten möchte – ist ein tiefgreifender und lange zurückreichender Innovationsstau im deutschen Schulsystem.

Der Alltag in unseren Schulen ist durch vier innovationshinderliche Primate gekennzeichnet, das heißt durch fälschlich als „alternativlos“ betrachtete Vorrangstellungen im Denken und Handeln. Diese Primate überlagern und bedingen sich zum Teil und haben zusammen genommen der Corona-Krise eine äußerst problematische Wirkmacht verliehen.

Irrweg I: Das Primat des Lernorts Schule über den Lernort Lebenswelt

In der repräsentativen Forsa-Umfrage „Schulbarometer Spezial“ im Auftrag der Robert Bosch Stiftung vom April 2020 gaben 84 Prozent der Lehrkräfte an, die bevorzugte Art der Kommunikation mit ihren Schülerinnen und Schülern seien Aufgabenblätter. Ein Drittel davon stellten diese Aufgabenblätter per Post oder per Abholung persönlich zu. Das sind markierende Werte, die einerseits zeigen, wie wenig wir auf das Lernen in sozialer Distanz eingestellt sind. Auf der anderen Seite verweisen sie auf die tiefsitzende Vorstellung, dass „richtiges“ Lernen eigentlich nur durch physische Präsenz im Klassenzimmer möglich sei.

Manches Angebot in der Corona-Zeit wirkt wie ein hilfloser Versuch, die Vorgänge und Rituale des Lernens im Klassenzimmer zu Hause als Kulisse nachzustellen.

Manches Angebot in der Corona-Zeit wirkt wie ein hilfloser Versuch, die Vorgänge und Rituale des Lernens im Klassenzimmer zu Hause als Kulisse nachzustellen. Wäre es nicht zumindest den Versuch wert gewesen, die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler in ihren digitalen Räumen, und mit zunehmen- den Lockerungen auch in ihrer realen Lebensumwelt, zum Ankerpunkt von Lernprozessen zu machen? Entsprechende Modelle des digitalen Flipped Classroom oder von digitalen Portfolios oder Lernreisen gibt es.

Natürlich: Wir haben zu wenig technisch hochwertige Ausstattung verbunden mit zu geringen digitalen Kompetenzen bei Lehrkräften. Hier gibt es Nachholbedarf. Nur ist dies nicht die Ursache dafür, dass wir nicht einfach souverän auf digital gestützte außerschulische Lernsettings umsteigen konnten. Umgekehrt: Weil wir dem Lernort Lebenswelt keinen höheren Stellenwert zubilligen, haben wir im Unterschied zu manchen baltischen und skandinavischen Bildungssystemen die digitalen Konzepte und Infrastrukturen nicht systematisch ausgebaut.

Irrweg II: Das Primat des Prüfens über das Lernen

Die offiziellen Regelungen in der Krise zielten vor allem darauf ab, die Prüfungen stattfinden zu lassen. Erst zweitrangig ging es darum, wie man Kinder im Distanzlernen gut begleitet, insbesondere diejenigen, die als sozial benachteiligt gelten oder in anderer Weise besondere Lernvoraussetzungen haben (Stichwort: Inklusion).

Für viele Verantwortliche in den Schulen mag dahinter das aufrichtige Motiv stehen, Kindern und Jugendlichen auch im Zeichen der Krise eine geordnete Bildungslaufbahn zu ermöglichen. Systemisch kann man es aber auch als vehementen Versuch betrachten, die Deutungshoheit darüber, was Schule im Kern legitimiert, nicht zu verlieren: Leistungsbeurteilung, Zertifizierung, Übertrittsberechtigungen und damit die „Gralshüterfunktion“ für das Leistungsprinzip der Gesellschaft. Der mancherorts geradezu bizarre Noten- und Prüfungsfetischismus offenbart eine tiefsitzende systemische Angst vor Kontroll- und Machtverlust für so manchen Akteur im Schulsystem.

Der mancherorts geradezu bizarre Noten- und Prüfungsfetischismus offenbart eine tiefsitzende systemische Angst vor Kontroll- und Machtverlust für so manchen Akteur im Schulsystem.

In Corona-Zeiten kommen sich im heimischen Lernsetting plötzlich Deutschdidaktik und Dinkelbrötchen, Matheaufgabe und Müsli gefährlich nahe. Wissenschaftlicher ausgedrückt: Die bestehenden Grenzen zwischen den beiden zentralen gesellschaftlichen Institutionen Schule und Familie werden in Frage gestellt oder bedürfen teilweise der Neuverhandlung. Ein aktuelles Umfrageergebnis macht Hoffnung: Fast 70 Prozent der im „Schulbarometer Spezial“ befragten Lehrkräfte geben an, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler künftig stärker dazu befähigen wollen, mehr Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess zu übernehmen. Dazu gehört es auch, an Schulen neue Formen des lernförderlichen Feedbacks und der partizipativen Leistungsbewertung zu etablieren.

Irrweg III: Das Primat des Fachlichen über das Überfachliche

Manche Lehrerinnen und Lehrer werden in den letzten Wochen gespürt haben, wie absurd es ist, angesichts einer überkomplexen Krise an starren Fächergrenzen festzuhalten, anstatt andere Lernformen wie beispielsweise das Projektlernen oder fächerverbindende Portfolioarbeit produktiv zu nutzen. Das Denken in festen Fächerstrukturen und das Agieren in abgeschotteten Fächerkulturen wirken wie Senkbleie angesichts der realen Herausforderungen.

Das Denken in festen Fächerstrukturen und das Agieren in abgeschotteten Fächerkulturen wirken wie Senkbleie angesichts der realen Herausforderungen.

Beides trägt mit Sicherheit nicht zur Lernmotivation außerhalb der eingeübten schulischen Arrangements bei. So geben denn auch 75 Prozent der Lehrkräfte im „Schulbarometer Spezial“ an, dass sie bei länger anhaltender Schulschließung sinkende Schülermotivation befürchten. Auch die bisher von vielen eher als ein akademischer Hype betrachteten überfachlichen Fähigkeiten (zum Beispiel 4K: Kreativität, Kritisches Denken, Kommunikation, Kollaboration) bekommen in der Corona-Krise eine ganz praktische Relevanz. Denn ohne sie sind die Aussichten auf ein erfolgreiches selbstreguliertes Lernen von Kindern und Jugendlichen – und auch von Lehrkräften! – schlicht nicht vorstellbar. Und damit zum vierten Primat, das unser Bildungssystem als Altlast mit sich herumträgt.

Irrweg IV: Das Primat der Vereinzelung über das Kooperative

In einer weiteren repräsentativen Forsa-Umfrage zeigten mehr als 40 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer bundesweit kein Interesse daran, sich fachlich mit ihren Kolleginnen und Kollegen auszutauschen und gemeinsam Unterricht vorzubereiten oder Projekte zu planen. Solange wir diese „strukturelle Asozialität“ im deutschen Schulwesen haben, können wir nicht erwarten, dass komplexe Probleme arbeitsteilig gelöst werden und dass Lehrkräfte Rollenvorbilder für das kooperative Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler sind.

Solange wir diese „strukturelle Asozialität“ im deutschen Schulwesen haben, können wir nicht erwarten, dass komplexe Probleme arbeitsteilig gelöst werden und dass Lehrkräfte Rollenvorbilder für das kooperative Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler sind.

In der Krise konnten wir beobachten, dass diejenigen Schulen besonders gut durch die Zeit des Distanzlernens gekommen sind, die bereits Formen des digitalen Lernens erprobt und in der eigenen Organisation etabliert hatten. Sie setzen auf Kooperation und Ko-Konstruktion auf allen Ebenen und haben es verstanden, die Beziehungen zu ihren Schülerinnen und Schülern auch während des Lockdowns aufrechtzuerhalten.

Im „Schulbarometer Spezial“ gab mehr als jede dritte Lehrkraft an, dass sie während der Schulschließungen mit weniger als der Hälfte oder sogar mit nur sehr wenigen ihrer Schülerinnen und Schüler regelmäßig Kontakt hatte. Das ist ein erschütterndes Ergebnis. Denn es bedeutet, dass eine professionelle pädagogische Beziehungsgestaltung schlicht nicht mehr möglich war. Zwar haben wir auch viele engagierte Lehrkräfte erlebt, aber unser System war an vielen Stellen nicht in der Lage, ein Mindestmaß an professioneller Beziehungsquantität und -qualität flächendeckend zu gewährleisten.

Die Lehren aus Corona – was tun?

Aktuell werden zahlreiche Handreichungen, wissenschaftliche Studien und politische Positionspapiere zum weiteren Umgang mit der Corona-Krise in Schulen veröffentlicht. Viele von ihnen geben ausgesprochen nützliche und konkrete Hinweise für das nächste Schuljahr oder die nahe Zukunft. Die hier vorgenommene Zuspitzung auf die „vier falschen Primate“ möchte ich eher als einen Appell verstanden wissen, die Chance auf eine fundamentale Beschäftigung mit scheinbar unverrückbaren Pfeilern unseres Schulsystems zu nutzen.

Die hier vorgenommene Zuspitzung auf die „vier falschen Primate“ möchte ich eher als einen Appell verstanden wissen, die Chance auf eine fundamentale Beschäftigung mit scheinbar unverrückbaren Pfeilern unseres Schulsystems zu nutzen.

Natürlich geht es bei allen vier genannten Aspekten (fast) nie um ein Entweder-oder, sondern es geht um das Sichtbarmachen und Erkennen des Möglichen und um das Absichern von neuen Prozessen und Strukturen, die zwischen Schulen, Eltern und Lernenden auszuhandeln sind. Denn ich fürchte, sobald ein wirksamer Impfstoff gegen das Virus vorhanden ist, wird der Sog zur Vor-Corona-Normalität stark sein. Schulen sollten deshalb jetzt die Räume schaffen, in denen Lehrkräfte ihr Leistungsverständnis reflektieren und gemeinsam neue Formen der Leistungsbewertung identifizieren und in denen sie Kooperation und Ko-Konstruktion auch wirklich ausüben können.

Zur Person

  • Hans Anand Pant hat Psychologie und Soziologie studiert.
  • Er war drei Jahre wissen­schaftlicher Leiter des Instituts für Schul­qualität der Länder Berlin und Brandenburg (ISQ) an der FU Berlin und fünf Jahre Direktor des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).
  • Seit 2010 ist er Professor für Erziehungs­wissenschaftliche Methodenlehre an der Humboldt-Universität zu Berlin.
  • Seit 2011 ist er Mitglied in der Jury des Deutschen Schulpreises, und seit 2015 verantwortet er als Geschäfts­führer das Programm der Deutschen Schulakademie.