Lesen lernen : Bringt „Success for All“ Erfolg für alle?
Der Bildungsexperte Ekkehard Thümler hat sich an einer Londoner Grundschule angesehen, wie das Programm „Success for All“ funktioniert. Grundschülerinnen und Grundschüler sollen damit, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, effektiv Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Die Ergebnisse sind erstaunlich. In seinem Gastbeitrag für das Schulportal spricht sich Thümler dafür aus, das Programm für Deutschland zu adaptieren.
„Keine Ausreden mehr!“, fordert John Halliwell, Schulleiter der Applegarth Academy. Die Grundschule mit 400 Kindern liegt in Croydon in einem sozialen Brennpunkt im Süden Londons. Egal, wie ungünstig die Voraussetzungen sein mögen, die viele der Schülerinnen und Schüler mitbringen – dort herrscht die Einstellung, dass sie trotzdem alle erfolgreich sein können und müssen. Dabei konzentriert sich die Schule bei ihrer Arbeit nicht vorwiegend auf leistungsschwache Kinder, sondern legt großen Wert darauf, dass auch die starken Schülerinnen und Schüler ihren Fähigkeiten entsprechend gefördert werden.
Es ist beeindruckend, dass es der Schule tatsächlich gelingt, diesen Anspruch einzulösen. Im nationalen Leistungstest am Ende der Grundschulzeit erreichten 98 Prozent der Kinder die Regelstandards in Lesen, 76 Prozent meisterten sogar die höheren Standards. Die Ergebnisse für Mathematik fielen ähnlich positiv aus.
War die Academy wegen ihrer schlechten Leistungen noch vor wenigen Jahren von der Schließung bedroht, belegte sie zuletzt im nationalen Vergleich aller 14.479 Schulen in England den siebten Platz. Bemerkenswert an dieser Erfolgsgeschichte ist, dass sie nicht allein auf die gute Arbeit von Schulleitung und Kollegium zurückzuführen ist. Aus Sicht von John Halliwell machte den entscheidenden Unterschied, dass er in Applegarth vor vier Jahren das US-amerikanische Schulentwicklungsprogramm „Success for All“ (SFA) einführte.
„Success for All“ – eines der weltweit am besten evaluierten Programme der Schulentwicklung
SFA ist anerkannt als eines der weltweit am besten erforschten und evaluierten umfassenden Programme der Schulentwicklung. Das Programm wurde in den 1980er-Jahren an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, Maryland, USA, von Robert Slavin und Nancy Madden entwickelt. Seit 1987 wird es von der „Success for All Foundation“ angeboten und weiterentwickelt.
Das Modell richtet sich insbesondere an Schulen im Primarbereich, die von Schülerinnen und Schülern in benachteiligten Lebenslagen besucht werden. Im Mittelpunkt des Vorhabens steht ein wissenschaftlich fundiertes Lese- und Schreibförderprogramm, das in ein umfassendes Entwicklungskonzept für die gesamte Schule eingebettet ist. Die große Stärke von SFA besteht darin, dass es tatsächlich zu einer Veränderung von schulischem Unterricht und im Ergebnis zu langfristig besserem Lernen führt. Zugleich wird die gesamte Schulkultur und -qualität vorteilhaft beeinflusst. Diese positiven Effekte wurden in einer Vielzahl wissenschaftlicher Vergleichsstudien immer wieder nachgewiesen.
In den über dreißig Jahren ihres Bestehens haben sich in den USA mehrere Tausend Schulen dem Programm angeschlossen, das auf diese Weise Millionen benachteiligter Kinder wirksam unterstützt hat. Eine internationale Verbreitung – allerdings in deutlich geringerem Umfang – erfolgte nach Großbritannien, China, Südafrika und in die Niederlande.
Hauptziel ist das erfolgreiche Erlernen der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen
Hauptzielsetzung des Programms ist eine erfolgreiche Einführung in „Literacy“, hier in einem erweiterten Sinne zu verstehen: Der Begriff umfasst nicht nur die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben, sondern auch die Vertrautheit mit weiteren grundlegenden Kulturtechniken, insbesondere mit den Grundlagen der Mathematik. Hinzu kommt ein Augenmerk auf soziales Lernen. Der Hauptakzent des Programms liegt jedoch auf der Lesefähigkeit.
Dieses Ziel wird mittels eines systematischen Schulentwicklungsprogramms verfolgt, das denjenigen Schulen, die sich daran beteiligen möchten, sehr klare, weitreichende und verbindliche Vorgaben macht. So wird in den teilnehmenden Schulen eine starke Schulleitung vorausgesetzt, die imstande ist, das anspruchsvolle Programm umzusetzen. 80 Prozent des Kollegiums müssen sich für die Mitwirkung aussprechen.
Den Kern des Vorhabens machen jedoch die folgenden Maßnahmen aus, die für SFA-Schulen verpflichtend sind.
Täglich 90 Minuten SFA-Unterricht in leistungshomogenen Gruppen
An der Applegarth Academy gibt es für alle Kinder ein tägliches gemeinsames SFA-Zeitfenster von 90 Minuten. In dieser Zeit arbeiten sie in gesonderten Klassen zusammen am SFA-Curriculum.
Wohl am ungewöhnlichsten ist dabei aus deutscher Perspektive, dass die Lerngruppen etwa alle acht Wochen neu zusammengesetzt werden. Dies geschieht auf Grundlage eines Tests des individuellen Leistungsstands. Die Einteilung der Gruppen folgt dabei zwei Prinzipien: relative Homogenität nach Leistung, Heterogenität nach anderen Kriterien wie etwa Geschlecht und Alter sowie weitere soziodemografische oder individuelle Merkmale. Hinter dieser Einteilung steht die Philosophie, dass Schülerinnen und Schüler mit vergleichbarer Leistungsfähigkeit am besten miteinander lernen und voneinander profitieren – zugleich aber die Kinder auch in neu zusammengesetzten Gruppen gut miteinander auskommen und kooperieren sollen.
Das engmaschige Testverfahren ermöglicht zudem, dass ungewöhnliche Leistungsentwicklungen rasch bemerkt werden. Bei Leistungsabfall erhalten die betroffenen Kinder zusätzliche Unterstützung – dabei kann es sich um individuelle Maßnahmen oder die Teilnahme an kleinen Fördergruppen handeln. Diese Zusatzförderung hält so lange an, bis ein Kind sein spezielles Lernproblem bewältigt hat.
Standardisiertes Material und kooperatives Lernen
Ein didaktisches Kernmerkmal von „Success for All“ ist, dass die Förderung der Lesefähigkeit auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Schrifterwerb erfolgt. Den Lehrkräften steht ein konsequent auf diesen Ansatz hin entwickeltes Paket an Lehr- und Lernmaterialien – auch in elektronischen Versionen – zur Verfügung, das jede einzelne Unterrichtsstunde während der gesamten Grundschulzeit abdeckt. Grundmuster der Arbeit ist, dass im Lauf einer Woche ein Text in relativ hohem Tempo aus verschiedenen Perspektiven erschlossen wird. Er soll verstanden und reproduziert werden können.
In den Schülerteams wird nach dem Prinzip kooperativen Lernens gearbeitet, angeleitet und eng begleitet durch die Lehrkraft. Für die Lösung der Aufgaben in den Teams – also deren Erfolg – sind alle Teammitglieder verantwortlich. Dafür werden mit den Kindern grundlegende Verhaltensweisen erarbeitet, wie etwa Strategien aktiven Zuhörens, der wechselseitigen Unterstützung sowie der gemeinsamen Fertigstellung und Darstellung von Produkten ihrer Zusammenarbeit.
Unterstützung durch eine geschulte SFA-Fachkraft an jeder beteiligten Schule
Für die Realisierung der genannten Organisationsprinzipien steht den Schulen eine spezifisch qualifizierte und nicht mit anderen Aufgaben betraute Person zur Verfügung, die gemeinsam mit der Schulleitung für die regelmäßige schulinterne Leistungsüberprüfung sowie die Zusammenstellung der Lerngruppen auf der Grundlage der Testergebnisse und anderer Merkmale verantwortlich ist. SFA-Koordinatoren sind zudem in den SFA-Unterrichtsstunden ihrer Kolleginnen und Kollegen anwesend, achten auf die Umsetzung der SFA-Prinzipien und helfen dabei, die Methode zunehmend aktiver, besser und effektiver anzuwenden.
Durch diese umfangreiche Unterstützung, verbunden mit aufwendiger und intensiver Schulung bei der Einführung von SFA in einer Schule gelingt es mithilfe dieses Programms, die professionellen Routinen von Lehrerinnen und Lehrern gezielt und nachhaltig zu verändern. Anfangs empfinden viele von ihnen die Einschränkung ihrer Unterrichtsfreiheit als Nachteil. Nach etwa einem Jahr fällt ihr Urteil jedoch ganz anders aus, und in der Applegarth Academy ist immer wieder die Aussage zu hören: „Mit SFA lernen die Kinder viel schneller – und ich habe das Gefühl, sie zum ersten Mal wirklich professionell zu unterrichten“.
Der hoch spezialisierte Rahmen von SFA hat zugleich den Vorteil, dass der Unterricht stets auf der gleichen inhaltlichen und methodischen Grundlage erfolgt – ganz gleich, ob er durch ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer, Vertretungskräfte oder auch durch Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger erteilt wird.
Wäre „Success for All“ auch in Deutschland möglich?
Die spannende Frage ist, ob das Programm „Success for All“ auch auf deutsche Schulen übertragbar wäre. Eine Machbarkeitsstudie von Professor Ingrid Gogolin und Kollegen gibt Antwort darauf. Ihr Befund lautet, dass der Transfer zwar anspruchsvoll und aufwendig wäre und sehr professionell vorbereitet und umgesetzt werden müsste. Zugleich könnte das Programm aber auch an viele bereits vorhandene Initiativen anknüpfen, sodass „eine Adaption von SFA in didaktischer und methodischer Hinsicht auf einen gut bereiteten Boden treffen würde“. Zusammenfassend kommt die Studie zu dem Schluss, dass sich eine Adaption von „Success for All“ in Deutschland lohnen würde. Sollte es dazu kommen, könnte das Programm vielleicht also schon in einigen Jahren auch hierzulande „Erfolg für alle“ Kinder ermöglichen.
Die Darstellung der Geschichte des Programms in diesem Beitrag folgt weitgehend der Studie von Gogolin, I., Ticheloven, A. und Schroedler, T. (2018): „Success for All (SfA) – ,Erfolg für alle‘ in Deutschland? Erste Ergebnisse einer Machbarkeitsstudie“. Hamburg: Universität Hamburg (79 S. mimeo).
Zur Person
- Ekkehard Thümler ist Senior Fellow am Centre for Social Investment (CSI) der Universität Heidelberg, wo er auch das internationale Forschungsprogramm „Strategies for Impact in Philanthropy“ leitete.
- Er berät zugleich die Geschäftsführung von Teach First Deutschland zu Bildungsinnovationen.
- Ekkehard Thümler war für Joachim Herz Stiftung, Bertelsmann Stiftung, Baden-Württemberg Stiftung sowie die Vodafone Stiftung tätig.
- An der Universität Heidelberg wurde er mit einer Arbeit über Wirkungs- und Innovationsstrategien philanthropischer Organisationen promoviert.