Expertenstimme

Lehrermangel : „Lehrkräfte stärken statt ausbrennen lassen!“

Angesichts des Lehrermangels ist vielfach Orientierungslosigkeit zu spüren, dabei sollten wir jetzt definieren, was Schule in Zukunft leisten soll, schreibt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, in ihrem Gastbeitrag für das Schulportal. Notmaßnahmen zur Unterrichtsversorgung in Bayern würden die Probleme nicht lösen, sondern allenfalls verstärken. Stattdessen fordert Simone Fleischmann eine einheitliche Besoldung für Lehrkräfte aller Schularten und mehr Flexibilität in der Lehrerbildung.

Simone Fleischmann
Lehrkräftemangel werfe die Frage auf, was den Kern von Schule ausmacht, schreibt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV).
©dpa

In der derzeitigen Diskussion über Schule und Bildung kommt man meist an einem Thema nicht vorbei: dem Lehrermangel, der mittlerweile in ganz Deutschland deutlich wird. Auch in Bayern werden seit dem Schuljahr 2019/20 Maßnahmen umgesetzt, die eine Unterrichtsversorgung irgendwie gewährleisten sollen. Bei der Pressekonferenz des bayerischen Kultusministers Michael Piazolo zum Ende des Schuljahres und zum bevorstehenden Schuljahr wurde wieder mal offensichtlich, dass sich eigentlich nichts an der Kommunikation über die schwierige Lage verändert hat: Die Situation des Lehrermangels an den Grund-, Mittel- und Förderschulen sei durch die oben genannte Maßnahmen fast in Gänze behoben worden. Man werde nun aber dennoch 800 sogenannte „Teamlehrkräfte“ einstellen, die die Stammlehrkräfte unterstützen sollen. Diese benötigen lediglich einen Hochschulabschluss.

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Man kann sich nur wundern: Einerseits gibt es offensichtlich einen eklatanten Lehrermangel, der durch die Coronakrise nur noch verschärft wurde, andererseits soll dieser Mangel aber durch das Kultusministerium abwiegelnd mit dem Einsatz von Ersatzlehrern gelöst werden. Natürlich wissen wir um die schwierige Situation, aber diese besteht bereits seit Jahrzehnten und wenn man sich endlich ehrlich machen würde, könnte man vielleicht über Lösungen sprechen. Aber es ist viel Orientierungslosigkeit und Unsicherheit spürbar. Viele Fragen sind unbeantwortet, viele Herausforderungen stehen im Raum. Wenn wir diese beantworten wollen, dann müssen wir vor allem festlegen, was Schule im 21. Jahrhundert eigentlich leisten soll und leisten kann. Wir müssen definieren, was den Kern von Schule, das Ziel einer modernen Pädagogik und eine gute Bildung ausmacht.

Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband steht seit Jahrzehnten für Bildungsgerechtigkeit. Für einen Bildungsbegriff, der den ganzen Menschen in den Blick nimmt und ganzheitlich bildet, erzieht und der alle Kinder, unabhängig von ihrem individuellen Hintergrund, maximal fördert. Eine moderne Gesellschaft setzt auf ganzheitliche Persönlichkeiten. Eine moderne Schule setzt auf ganzheitliche Bildung und Erziehung. Schülerinnen und Schüler werden in der Welt von morgen nur dann bestehen, wenn sie neben kognitiven Kompetenzen auch emotionale Intelligenz, musisch-künstlerische und praktische Fähigkeiten sowie eine demokratische Werteorientierung erwerben. Unsere Kinder brauchen Offenheit, Kreativität, Eigeninitiative, Selbsttätigkeit und die Fähigkeit, sich in der immer komplexer werdenden Welt zu orientieren. Denn egal, wie die Welt von morgen tickt: Wir brauchen Menschen, die ganzheitlich gebildet sind. Eine ganzheitliche Bildung des Kindes und die Entwicklung all seiner Potenziale sind der Kern pädagogischen Denkens. Nur so gelingt Bildung.

Wir müssen uns auf den Kern der Schule besinnen

Wir müssen keineswegs neu anfangen. Wir müssen die Schule nicht revolutionieren. Wir müssen nicht alles über Bord werfen. Wir müssen auch keine endlosen Strukturdiskussionen führen, auch wenn natürlich die Selektionskultur Ursache einiger Probleme ist. Wir müssen uns auf den Kern der Schule besinnen. Auf das Fundament. Und dieses Fundament steht z. B. in Bayern in Artikel 131 der Verfassung:

  • Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.
  • Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt.
  • Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen.

Wir müssen nicht mehr oder weniger, als genau diesen Verfassungsauftrag ernst nehmen und umsetzen. Das ist nämlich die Wahrheit – das ist der Kern – und das ist das Fundament. Wir müssen diesen Auftrag ehrlich und energisch herausholen aus dem Museum der Geschichte, aus den Sonntagsreden und aus den Präambeln der Lehrpläne. Wir müssen damit ernst machen.

Ganzheitliche Bildung muss auch in Zeiten des Lehrermangels möglich sein

Eine auf Kante genähte Unterrichtsversorgung hatte bereits in der Vergangenheit große Auswirkungen auf unsere Schulen und die Kinder und Jugendlichen gehabt: In Bayern blickt ein Abiturient am Ende seiner schulischen Laufbahn auf ein Jahr und drei Wochen nicht planmäßig erteilten Unterricht zurück. Das darf nicht sein. Das hat mit Bildungsqualität nichts mehr zu tun. Der Lehrermangel, der nun für viele Jahre ein großes Thema ist und sein wird, verschärft diese Situation nochmals. Auch in Bayern wird das bis mindestens 2025 an den Grund-, Haupt- und Förderschulen der Fall sein. Erste Notmaßnahmen wurden vom bayerischen Kultusministerium Anfang Januar 2020 verkündet. Sie werden das Problem der Unterversorgung der Schulen nicht lösen. Nicht kurzfristig und schon gar nicht langfristig.

Die Lehrerinnen und Lehrer leisten Immenses – und über Belastungsgrenzen hinaus. Nur deshalb ist eine gewisse Bildungsqualität in den Schulen noch vorhanden.

Die Lehrerinnen und Lehrer leisten Immenses – und über Belastungsgrenzen hinaus. Nur deshalb ist eine gewisse Bildungsqualität in den Schulen noch vorhanden. Es kann aber nicht sein, dass sie permanent für Versäumnisse der Bildungspolitik herhalten müssen, und das werden sie auch nicht mehr lange können. Denn sie werden ohne Unterstützung irgendwann ausgebrannt sein.

Gleichwertige Besoldung für Lehrkräfte aller Schularten

Für die Zukunft und die Attraktivität des Lehrerberufs sind die Notmaßnahmen ein verheerendes Signal. Viele junge Menschen werden sich überlegen, ob sie in einem Beruf arbeiten möchten, der sehr erfüllend, aber auch sehr anstrengend ist unter diesen Voraussetzungen.

Was es jetzt braucht, sind bessere Arbeitsbedingungen an den Schulen, damit eine individuelle, ganzheitliche Förderung der Kinder möglich ist. Es braucht dringend eine gleichwertige Besoldung der Lehrerinnen und Lehrer aller Schularten. Es braucht eine flexible Lehrerbildung. Ziel muss es sein, die Qualität dieser Ausbildungsphase zu steigern und eine größere Flexibilität beim Einsatz an den unterschiedlichen Schularten zu ermöglichen.

Lehrerinnen und Lehrer wollen und können die Herausforderungen von Schule und Bildung leisten. Aber nur mit entsprechenden Rahmenbedingungen. Denn ganzheitliche Bildung in Schule leistbar machen heißt: die Lehrerinnen und Lehrer stärken.

Zur Person

  • Simone Fleischmann ist seit Mai 2015 Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV).
  • Nach dem Studium absolvierte Simone Fleischmann ihren Vorbereitungsdienst als Hauptschullehrerin. Anschließend war sie als Lehrerin und Schulpsychologin tätig. Später arbeitete sie als Konrektorin und Schulleiterin an der Anni-Pickert-Grund- und Mittelschule Poing.