Jenseits der Fächer : Warum „Well-being“ mehr Beachtung verdient
Das Wohlbefinden von Schülerinnen und Schülern rückt unter dem Schlagwort „Well-being“ weltweit immer stärker ins Blickfeld. Nicht ohne Grund: Auch in Deutschland klagen Kinder und Jugendliche zunehmend über Depressionen, Leistungsdruck oder Mobbing. Michael Schratz, Kolumnist für das Deutsche Schulportal, stellt fest, dass bisher bewährte Instrumente zur Intervention versagen. Sein Blick nach Kanada zeigt, welche Faktoren bei der Entwicklung von „Well-being“ entscheidend sind.
In den vergangenen Jahren habe ich hierzulande zunehmend erlebt, dass Lehrkräfte sich mit den heutigen Bedürfnissen und Erwartungen der Schülerinnen und Schüler schwertun. Interventionen, die bisher erfolgreich waren, helfen nicht mehr, Unterstützung ist selten zur Stelle – vor allem oft dann nicht, wenn man sie braucht. Dies ist nicht erst seit den jüngsten Migrationsbewegungen der Fall, die Rufe nach Abhilfe wurden durch diese aber noch lauter.
Als Gründe für die gegenwärtigen Herausforderungen in Bezug auf die Schülerschaft bekomme ich meist genannt: die Zunahme an „besonderem Förderbedarf“ aufgrund physischer oder psychischer Beeinträchtigungen, Depressionen, die abnehmende Bereitschaft, sich auf Vorgaben einzulassen, bis hin zu Leistungsverweigerung und Gewalttätigkeiten. Dazu kommen Cybermobbing und religiöse oder ethnische Konflikte. Und dann sind da noch die „Helikoptereltern“, die für ihr eigenes Kind die Ansprüche an Schule und Unterricht erhöhen und Lehrkräfte unter Druck setzen. Vielfach fehlt den Lehrkräften angesichts dieser Herausforderungen eine ausreichende Unterstützung durch die Behörden.
Da sich diese Phänomene länderübergreifend zeigen, können Lösungen nicht einzelnen Lehrkräften abverlangt werden – sie erfordern vielmehr ein systemisches Herangehen, auf allen Ebenen: auf der Ebene des Bildungssystems als Gesamtstrategie, aber auch auf der Schulebene, da sich lokale Probleme nicht zentral lösen lassen.
Nicht zuletzt deshalb haben die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker in vielen Ländern weltweit das Thema „Well-being“ aufgegriffen. Mit entsprechenden Policy-Maßnahmen wird versucht, die Basis für eine lebenswerte Zukunft der nächsten Generationen zu legen.
Der Begriff „Well-being“ lässt sich nicht eins zu eins ins Deutsche übersetzen – er beinhaltet Aspekte wie Wohlbefinden und Wohlergehen, aber auch eine bejahende Lebensführung. Diesbezügliche Policy-Empfehlungen reichen von vertrauensbildenden Maßnahmen über kognitive, emotionale, soziale und physische Unterstützungssysteme und Resilienzförderung bis zu Fragen der Sinnfindung in der individuellen und gemeinschaftlichen Lebensgestaltung.
Scheitern verletzt die Würde des Menschen
Eine aktuelle Studie in Ontario hat vier Trends ausfindig gemacht, die sich bei der gezielten Förderung von „Well-being“ als schulischem Auftrag in der kanadischen Provinz gezeigt haben:
- Steigerung in „Well-being“ bringt bessere Schülerleistungen:
Viele Kinder leisten wenig, wenn sie sich mental oder emotional nicht wohl fühlen, gemobbt werden, zu wenig Schlaf haben, Wutausbrüche erleben oder Angst haben und depressiv werden. - Schülerleistungen sind entscheidend für „Well-being“:
Scheitern verletzt die Würde des Menschen. Die Fokussierung auf konkrete Aufgaben und deren Erfüllung mindern Angst bei Kindern und Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen. - „Well-being“ ist komplementär zu Schülerleistungen:
Es hilft der Entwicklung gereifter Persönlichkeiten, die erfolgreich und zufrieden sind sowie ein erfülltes Leben führen. - „Well-being“ als solches ist eine besondere Leistung:
Dies ist der Fall, wenn junge Menschen erleben, dass das in der Schule Gelernte ihnen ermöglicht, Sinn und Ziele im Leben zu finden und danach zu leben.
„Well-being“ durch Teilhabe der Kinder an der Unterrichtsgestaltung
Diese Trends legen nahe, dass das Zusammenspiel von „Well-being“ und Schülerleistungen eine große Rolle spielt, wenn es um Perspektiven von Schule und Unterricht geht. Dieses Ziel wird am ehesten dann erreicht, wenn alle Lehrkräfte im Unterricht so zusammenwirken, dass ihre Schülerinnen und Schüler zu den Menschen werden können, die sie sein wollen und sein können, um ein Leben führen zu können, das sie wertschätzen und Grund haben, wert zu schätzen, argumentiert der indische Nobelpreisträger und Wirtschaftswissenschafter Amartya Sen.
Dies entspricht den Grundrechten des Kindes auf Schutz und Fürsorge, auf Bildung und auf Teilhabe an allen gesellschaftlichen Prozessen – vor allem aber an der Teilhabe an jenen Prozessen, die ganz direkt auf das Kind selbst einwirken.
Unterrichtsgestaltung und Schule sind Prozesse, die massiv auf Kinder einwirken – doch vielfach ohne ihre Möglichkeit, diese Prozesse aktiv mitzugestalten, sodass sie aus der Sicht der Kinder Sinn machen. Teilhabe daran, „was mit mir geschieht“, aber ist der erste Schritt zur Selbstwirksamkeit. Selbstwirksamkeit wiederum ist ein zentraler Faktor für Wohlbefinden und Glück. Und zur Entwicklung von Resilienz – der Fähigkeit, an Herausforderungen zu wachsen, statt daran zu zerbrechen.
Teilhabe von Schülerinnen und Schülern heißt also nicht, dass im Unterricht ab und zu ein Demokratieprojekt durchgeführt wird. Es geht vielmehr darum, die Prozesse und Inhalte der Gestaltung von Schule und Unterricht sorgsam darauf abzuklopfen, inwieweit sie jungen Menschen bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung überhaupt dienlich sind.
Die entscheidende Frage dabei ist: Tragen die jeweiligen Maßnahmen für Erziehung und Bildung dazu bei, die Schülerinnen und Schüler zu jungen Menschen zu erziehen, die in der Lage sind, sich in Krisen zu behaupten und Verantwortung für sich und ihre Gemeinschaft zu übernehmen?
Beim Zukunftscamp „Well-Being und Resilienz in Krisenzeiten“ im Mai 2022 auf dem Campus des Deutschen Schulpreises hat Michael Schratz einen Input zum Workshop „Well-Being als Grundlage für erfolgreiches Lehren und Lernen“ gegeben.