Expertenstimme

Lernen zu Hause : „Pandemie-Schooling“ – und kein Ende in Sicht

Im ersten Lockdown haben drei Väter, die normalerweise Politikdidaktik lehren, in einem Gastbeitrag auf dem Schulportal berichtet, wie sie sich den Herausforderungen des Homeschoolings mit ihren Kindern gestellt haben. Im zweiten Lockdown ziehen sie nun einen Vergleich – was läuft besser, was tritt auf der Stelle, welche Erfahrungen sollten Schulen aus dem „Pandemie-Schooling“ mitnehmen?

Pandemie-Schooling Kind beim Schreiben, Mutter mit Handy
Seit Wochen lernen die meisten Kinder wieder zu Hause. Das „Pandemie-Schooling“ ist auch für die Eltern eine Herausforderung, weil besonders jüngere Kinder viel Unterstützung brauchen.
© Roland Weihrauch/dpa

Nach mehr als zwei Monaten erneutem Fernunterricht befinden wir uns aktuell in einer Übergangsphase. Während Grundschulen schrittweise geöffnet werden, bleiben weiterführende Schulen noch weitestgehend geschlossen. Fernunterricht steht neben Präsenzlernen. Die elterliche Arbeitswelt verharrt derweil vielerorts im Lockdown-Modus.

Für uns, drei Väter und gleichzeitig Politikdidaktiker, bietet das die Möglichkeit, einen kritischen Blick auf die Phase des zweiten Schul-Lockdowns zu werfen. Vor fast einem Jahr haben wir das schon einmal getan und eine Bestandsaufnahme der ersten Tage des Lernens im Krisenmodus verfasst.

Richtungsgebend waren und sind dafür neben zahlreichen Gesprächen mit Lehrkräften und Eltern vor allem auch die Erfahrungen im „Pandemie-Schooling“ mit unseren eigenen Kindern, die unterschiedliche Schulen und Schulformen besuchen.

Im Kleinen hat sich beim zweiten „Pandemie-Schooling“viel entwickelt – im Großen weniger

Am Ende des ersten Beitrags stand unsere Hoffnung, dass die Pandemie auch zu neuen Wegen des Lehrens und Lernens führen könnte und dass auch digitales Lernen nicht per se im Widerspruch zu ganzheitlichen Lernerfahrungen stehen müsse. Leider sind viele dieser Hoffnungen bis heute überwiegend enttäuscht worden.

Aber, wie schon im Frühjahr dieses Jahres, ist die Bildungslandschaft nicht schwarz-weiß, sind Erfahrungen von Bundesland zu Bundesland, ja von Schule zu Schule unterschiedlich und in der täglichen Praxis auch von der jeweiligen Lehrkraft abhängig.

So können auch wir aus der persönlichen Erfahrung von positiven Beispielen berichten, die aufzeigen, dass im Kleinen stellenweise viel entwickelt wurde. In einzelnen Fällen hat sich hierbei das Lernen vom Krisenmodus in eine neue Qualität überführt. Lichtblicke im „Pandemie-Schooling“, über die man sich freuen sollte.

Digitaler Morgenkreis und kooperative Lernformen

Während im ersten Lockdown bei einem unserer Kinder in der Grundschule unübersichtliche Aufgabensammlungen an die Elternhäuser übergeben wurden, bekommen die Schülerinnen und Schüler heute klar strukturierte Arbeitspläne. Diese werden zu Beginn jeder Woche gemeinsam mit den Klassenlehrerinnen und Klassenlehrern in einem Videochat für jedes Fach besprochen. In diesen Sitzungen arbeiten die Kinder bereits gemeinsam an den Themen, können Fragen stellen und erhalten Hilfe. Über die Woche verteilt schließen sich immer wieder gemeinsame Klassensituationen an, in denen vertieft und zusammengefasst wird.

An einer anderen Grundschule wurde nach Möglichkeiten gesucht, über digitale Wege mit jüngeren Schülerinnen und Schülern in Verbindung zu bleiben. Im digitalen Morgenkreis stehen die persönlichen Belange und Anliegen der Kinder sowie der gemeinsame Austausch im Vordergrund. Die Eltern haben das als extrem entlastend erlebt, da der Morgenkreis für die Kinder Struktur und Motivation durch Einbindung geschaffen hat.

Weiterhin brechen Lernplattformen zusammen und sind Fragen zum Datenschutz ungeklärt

Darüber hinaus können wir an allen Schulen unserer Kinder – wenn auch teils zaghafte – Schritte in eine digitalisierte Lernumgebung beobachten. Dabei reagierten unsere Kinder meist positiv motiviert auf Arbeitsformen, die mit kollaborativen Arbeitstools (zum Beispiel Padlet) experimentieren und mediale Abwechslung bieten.

In der Breite betrachtet sehen wir jedoch den durch die Pandemie erzwungenen Digitalisierungsschub der vergangenen Monate allenfalls als verspäteten Start in einen viel zu lange sträflich vernachlässigten Bereich der Unterrichts- und Bildungsgestaltung. Dies wird insbesondere daran deutlich, dass auch Monate nach den Schulschließungen weiterhin im „Pandemie-Schooling“ Lernplattformen zusammenbrechen, die Ausstattung mit Geräten mangelhaft ist, Zugänge zu digitalen Unterstützungsportalen fehlen und Datenschutzfragen ungeklärt sind. All das sind keine Erscheinungen des anfänglichen Krisenmodus, sondern gehören nach wie vor zum Alltag der Schulen.

Insgesamt wird digitaler Unterricht überwiegend nur als „Technik” gedacht, mit deren Hilfe traditioneller Präsenzunterricht ungebrochen übertragen werden soll.

Spätestens im Sommer hätte aber die Zeit des „Krisen-Schoolings” überwunden sein müssen. Man wusste, dass sich im Herbst das „Pandemie-Schooling“ zur vorläufigen Normalität entwickeln würde. An vielen Stellen ist die notwendige Vorbereitung verdrängt oder nach unten delegiert worden. Leider ändern daran nun auch engagierte Lehrerinnen und Lehrer wenig, die in den Schulen die Netzwerke pflegen, Rechner aufsetzen oder ambitioniert die digitale Lehre voranbringen.

Aber auch didaktisch gesehen bleiben noch etliche Aspekte zu ergründen. Eine Herausforderung liegt weiterhin darin, dass das Digitale selbst als eigener Lernzugang und als Lernumgebung noch zu wenig erkannt wird. Insgesamt wird digitaler Unterricht überwiegend nur als Technik gedacht, mit deren Hilfe traditioneller Präsenzunterricht ungebrochen übertragen werden soll.

Die Nutzung digitaler Tools müsste selbst Lerngegenstand sein

Das klassische Arbeitsblatt, inklusive Korrekturaufwand, behält seine Vormachtstellung. Und die Lehrkräfte scheinen sich in ganz eigenem Maße dieser Technik zu bedienen, sodass die Schülerinnen und Schüler an ein und derselben Schule ganz unterschiedlichen Ansprüchen und Verfahren gerecht werden müssen.

Auch müsste die Nutzung digitaler Tools mit Schülerinnen und Schülern stärker als bisher zum Lerngegenstand gemacht und nicht einfach vorausgesetzt werden. Die heutige Generation von Schülerinnen und Schülern ist zwar wie keine andere vor ihr mit der Nutzung digitaler Techniken im Alltag vertraut. Daraus folgt aber nicht automatisch eine versierte Nutzungskompetenz. Fähigkeiten für Textverarbeitung, Kalkulation, aber auch Video- und Fotobearbeitung oder Dokumentenmanagement sind nicht einfach vorhanden, nur weil der Unterricht jetzt an heimischen Endgeräten stattfindet. Hier böten sich wertvolle und notwendige Lernanlässe, auch und gerade in unteren Jahrgängen.

Die soziale Dimension des Lernens sollte stärker im Fokus stehen 

Unabhängig von der Umsetzung des Fernunterrichts mit digitalen Mitteln führt die gegenwärtige Situation aber vor allem zu einer Vereinzelung der Schülerinnen und Schüler. Die Tagesgestaltung findet nicht selten allein vor dem heimischen Endgerät statt. Es ist den meisten derzeit nicht möglich, sozialen Austausch in ihrer Peergroup zu erleben. Private Kommunikation in Schule und Unterricht findet nicht mehr statt, Zufälligkeit in der sozialen Begegnung ist ausgeschlossen, Austausch mit Gleichaltrigen ist generell in ein digitales Format verschoben. Letztlich bleibt primär nur die eigene Familie als Ort der Auseinandersetzung.

Auch wenn wir oben positive Beispiele genannt haben, bilden Aufgabenstellungen, die soziale Aspekte des Lernens aufgreifen, eher eine Randnotiz. Schier endlose Aufgabenberge verengen den Bildungsprozess der Schülerinnen und Schüler auf banale Erfüllungsverpflichtungen. „Fertig sein“ wird das oberste Lernziel der Kinder. Es geht nur noch darum, so schnell wie möglich die Aufgaben hinter sich zu bringen. Ob dabei etwas Neues gelernt oder bereits Gelerntes durchdacht wird, ist nicht von Belang.

Kinder konzentrieren sich darauf, Aufgabenberge abzubauen

Dies wird besonders deutlich, wenn Kinder kurz vor dem Start der Grundschulen in den Präsenzunterricht nicht schlafen können, weil sie noch nicht alle Aufgaben der vergangenen zwei Monate erledigt haben, oder wenn Totalverweigerung aufgrund von gefühltem Abgabestress den heimischen Schulalltag blockiert.

Warum sollten alle Schulen eine besondere Insel im Meer der Zumutungen dieser Zeit sein?

Aus politikdidaktischer Sicht fragen wir uns, warum es in der gegebenen Situation unmöglich erscheint, Lernen in heterogenen Lerngruppen zu gestalten, Eigenverantwortlichkeit bei Themen und Inhaltswahl zu fördern, differenzierte Erarbeitungswege zu ermöglichen und Mitsprache und Eigenverantwortung für einen gemeinsamen Lernprozess zumindest teilweise an Schülerinnen und Schüler zu übergeben.

Zunächst sollten wir von Schule als einem Teilsystem der Gesellschaft nicht mehr erwarten, als sie systemisch zu leisten imstande ist. Warum sollten alle Schulen eine besondere Insel im Meer der Zumutungen dieser Zeit sein? In unseren Schulen arbeiten Menschen unter schwierigen Bedingungen, und sie alle haben ein Leben, Kinder, Angehörige, die selbst mit dem Leben in der Pandemie verstrickt sind. Insofern möchten wir auch nicht in einen destruktiven Chor des Wehklagens verfallen, der die Unzulänglichkeiten einfach an bestimmte einzelne Personen oder Schulen adressiert.

Gerade im „Pandemie-Schooling“ ist die Vermittlung der Inhalte im gleichen Tempo schwierig

Vielmehr möchten wir an Strukturen und Glaubenssätzen rütteln. Gerade im Hinblick auf unsere Profession, die sich mit Partizipation, Demokratie-Lernen und der Förderung von Jugendlichen zu mündigen Menschen befasst, wollen wir eine Auseinandersetzung über diese Aspekte anregen.

So ist in der aktuellen Situation weithin der Anspruch sichtbar, die Vermittlung des gesamten Stoffs an alle im gleichen Tempo sicherzustellen. Überdeutlich wird aber auch, dass dies nicht gelingt. Schon im „Normalbetrieb“ ist die Fähigkeit zur Differenzierung ein großes Problem. Gepaart mit dem Streben nach der Bewertung von Leistungen durch Noten, um vermeintlich sachliche Vergleichsmaßstäbe zu setzen, verkommt die aktuelle Situation an vielen Stellen zu einem unwürdigen Theater.

Wenn es vielerorts noch nicht mal möglich scheint, die Halbjahresinformationen in Notenform auszusetzen, wenn stattdessen Noten im Eiltempo eingesammelt werden, nur um irgendetwas bewerten zu können, wenn Kopfnoten gegeben werden, obwohl man Schülerinnen und Schüler monatelang nicht gesprochen oder gesehen hat, zeigt das das starre System, in dem Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler agieren. Aber dieses System kann den pandemiebedingten Entwicklungen nicht mehr gerecht werden und sollte auch im Hinblick auf Fragen zu Bildungsungerechtigkeiten gründlich reflektiert werden.

Zur Person

Rico Behrens, Peter Birkenhauer und Stefan Breuer forschen und lehren im Bereich Politischer Bildung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Technischen Universität Dresden.

Rico Behrens ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Bildung und Didaktik der Sozialkunde an der Katholischen Universität Eichstätt. Zuvor hat er das Modellprojekt „Starke Lehrer – Starke Schüler“ geleitet. Das Projekt wurde von 2015 bis 2018 auf Initiative der Robert Bosch Stiftung von der Technischen Universität Dresden umgesetzt.

Peter Birkenhauer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Didaktik der politischen Bildung an der Technischen Universität Dresden. Neben der Tätigkeit als Dozent beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von kultureller und politischer Bildung in außerschulischen Kontexten. Er promoviert zum Thema „Politische Bildung in sozialwissenschaftlichen Ausstellungen“.

Stefan Breuer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Bildung und Didaktik der Sozialkunde an der KU Eichstätt. Er ist zuständig für die bundesweite Evaluation des Modellprojekts „Starke Lehrer – Starke Schüler“. Er forscht und lehrt unter anderem zu den Themen Rechtsextremismus und Schule, Engagement und Beteiligung von Jugendlichen sowie zu demokratischer Bildung in pädagogischen Kontexten.