Expertenstimme

Ein moderner Mythos : Warum wir den Leistungsbegriff neu denken müssen

Wer von Leistung spricht, spricht in der Regel von individueller Leistung. Die Rede von der individuellen Leistung verdeckt allerdings soziale Zusammenhänge und schadet insofern mehr, als sie nutzt. Schulportal-Autor Jakob Erichsen argumentiert daher in seinem Gastbeitrag für den Versuch und den Mut, ein soziales Leistungsverständnis zu entwerfen.

Jakob Erichsen
Zwei Schülerinnen sitzen im Klassenraum.
„Schulischer Erfolg liegt nicht in den individuellen Händen der Schülerinnen und Schüler, sondern ist maßgeblich von der Unterstützung anderer Personen abhängig“, sagt Gastautor Jakob Erichsen.
©Getty Images

Die Idee der Leistungs­gesellschaft ist eine Idee der Hoffnung.

Mit ihr einher geht der optimistische Glaube an eine gerechte und durchlässige Gesellschaft, in der Status, Einkommen, Prestige, Bildungs­möglichkeiten und Anerkennung eben nicht von der Herkunft, dem Geschlecht, der Haut­farbe oder anderen askriptiven, also unveränderlich zugeschriebenen Faktoren abhängig sind, sondern lediglich davon, was ein Mensch getan hat und tut – von der gezeigten individuellen Leistung also.

Schulischer Leistung kommt in diesem Ideal­bild eine zentrale Rolle zu: als rationale büro­kratische Zuteilungs­größe für Lebens­chancen. Grund­lage und Legitimation für diese Zuteilung ist die schulische objektive Leistungs­hierarchie der Schüler­innen und Schüler. Diese Idee klingt – bei aller kursierenden Leistungs­kritik – grandios.

Dennoch möchte ich gegen ein individuelles Leistungs­verständnis argumentieren. Ich halte es schlicht­weg für nicht halt­bar. Der vielleicht am wenigsten relevante Grund ist, dass es kein objektives oder allgemein gültiges Verständnis von Leistung gibt – das wäre nicht weiter schlimm, alle gesellschaftlich relevanten Begriffe sind strittig.

Für wichtig halte ich dagegen die beiden folgenden Argumente:

Argument 1: Soziale Konstellationen wirken sich auf Leistung und Lern­erfolg aus

Zum einen ist Leistung immer eine Frage sozialer Konstellationen und damit per se nie individuell. Auf den Lehrer und die Lehrerin kommt es an, heißt es nicht zuletzt mit Bezug auf John Hatties berühmte Studie. Der Lern­erfolg und damit die Leistung von Schüler­innen und Schüler wird maß­geblich von deren Gegen­über beeinflusst. Die Lehr­kräfte sollen in der Sache kompetent sein, ein positives Verhältnis zu den Schüler­innen und Schülern haben, klare Aufgaben stellen, ein gutes „Class­room Management“ betreiben und durch die Augen der Kinder und Jugendlichen sehen können. Hinzu kommt, dass die bildungs­soziologische Forschung uns seit Jahr­zehnten zeigt, wie sehr die soziale Herkunft – und damit einher­gehend der familiäre Hinter­grund – sowohl mit dem schulischen Erfolg als auch mit der Verteilung sozialer Positionen korrelieren.

Schulischer Erfolg liegt also nicht in den individuellen Händen der Schüler­innen und Schüler, sondern ist maß­geblich von der Unter­stützung anderer Personen abhängig.

Schulischer Erfolg liegt nicht in den individuellen Händen der Schülerinnen und Schüler, sondern ist maßgeblich von der Unterstützung anderer Personen abhängig.
Jakob Erichsen

Vermeintlich individuelle Leistung wird also hoch­gradig von sozialen Konstellationen bestimmt. Während es bei den Lehr­kräften noch vor­stell­bar ist, dass sie regulierend und ausgleichend eingreifen, ist schon sehr viel schwerer vorstell­bar, wie familiär bedingte „Rück­stände“ aufgeholt werden sollen, ohne die Integrität der Familien zu verletzen.

Argument 2: Individuell gedachte Leistung recht­fertigt gesellschaftliche Ungleich­heiten

Zum anderen verdeckt ein individueller Leistungs­begriff die strukturellen Ursachen ungleicher Bildungs­chancen und sozialer Ungleich­heit und gibt ihnen gleich­zeitig eine meritokratische Legitimation: Es zählt allein die Leistung des und der Einzelnen. Immer wenn Leistung als individuelle Leistung gedacht wird, wird die kategorial definierte Ungleich­heit durch eine individuelle Ungleich­heit nach Leistung ersetzt. Die Individualisierung der Leistung ist somit ein Prozess, in dem sowohl Chancen wie auch Risiken zu individuellen Heraus­forderungen umdefiniert werden und strukturell Risiken als individuelle Verantwortung und Entscheidung gedacht werden.

Individuell gedachte Leistung ist damit ein Recht­fertigungs­prinzip für gesellschaftliche Ungleichheit. Sie ist eine defensiv eingesetzte Begründung zur Absicherung bestehender Ungleich­heiten. Soziologen wie Pierre Bourdieu oder Michael Hartmann konnten mit sehr unter­schiedlichen Methoden und auf breiter empirischer Grundlage zeigen, dass soziale Ungleich­heit nicht trotz, sondern wegen des Glaubens an das Leistungs­prinzip reproduziert wird. Wer oben ist, wird als leistungs­stark wahr­genommen und deutet sich auch selbst so. Chancen­ungleich­heit wird im Namen individueller Leistung geleugnet und kaschiert.

Individuelle Leistung gibt es nicht. Der argumentative Einsatz dieses modernen Mythos verdeckt mehr, als er eröffnet. Jede Leistung ist das Produkt von sozialen Zusammen­hängen. Anders gesagt: Daran sind immer mehrere beteiligt.

Individuelle Leistung gibt es nicht. Und jetzt?

Ich habe keine Lösung für dieses Problem und auch keinen Definitions­vorschlag für ein soziales Leistungs­verständnis. Beim Thema Leistung geht es um die grundlegende Frage, was wir gesellschaftlich anerkennen und wert­schätzen wollen. Damit geht es um etwas Gestalt­bares. Ich möchte dazu auffordern, sowohl in Debatten als auch in all­täglichen Praktiken zu über­denken, was als Leistung anerkannt wird und was nicht – und wie es bewertet wird.

Die sozialen Parameter der Leistungs­bewertung sind nicht in Stein gemeißelt. Stellen wir also die Frage nach der sozialen Leistung und überlegen zum Beispiel bei den Diskussionen zum individualisierten Unter­richt, wie dieser die Idee der individuellen Leistung reproduziert.

Die Frage nach der Leistung ist zentral in vielen Schul­debatten. Es wäre fatal, hier ein individuelles Verständnis von Leistung unkommentiert stehen zu lassen. Die Debatte um ein soziales Leistungs­verständnis greift Gerechtig­keits­vor­stellungen sowohl auf als auch an. Eben deshalb verspricht diese Debatte produktiv zu sein.

Dabei sollte es meines Erachtens weder darum gehen, den Leistungs­begriff vor der viel­fältigen Leistungs­kritik zu retten, noch darum, die Kategorie der Leistung aufzugeben. „Umdenken“ ist das Stich­wort.

Zur Person

  • Jakob Erichsen ist Mit­gründer des Vereins Kreidestaub – einer bundes­weiten Initiative von Studierenden aus dem Bildungs­bereich.
  • Er ist Mitinitiator des „Prinzips Lern­reise“. Dieses neue Format für die Lehr­amts­aus­bilung schickt Studierende auf selbst organisierte Reisen zu den inter­essant­esten Schulen Deutsch­lands.
  • Jakob Erichsen promoviert an der Humboldt-Universität zu Berlin.
  • Schwerpunkt seiner Interessen sind Legitimations­strategien von Organisationen, Meritokratie, soziale Un­gleich­heit sowie die Entstehung, Plausibilisierung und Legitimation von Bildungs­programm­atiken.