Expertenstimme

Deutscher Schulpreis : Wenn ein Schulbesuch zur Schatzsuche wird

Zurzeit besuchen die Jurymitglieder die 20 Schulen, die sie für die nächste Bewerbungsphase ausgewählt haben und die sich nun Hoffnung auf den Deutschen Schulpreis 2020 machen können. Bildungsforscher und Jurysprecher Michael Schratz ist seit dem ersten Wettbewerbsjahr 2006 dabei. Die Schulbesuche sind für ihn oft eine Entdeckungsreise, bei der er viel Unerwartetes erlebt. Über drei ganz besondere Überraschungen schreibt er in seiner Kolumne für das Schulportal.

Michael Schratz
Jurysprecher Deutscher Schulpreis bei einem Schulbesuch
Immer offen für Überraschungen: Michael Schratz, Sprecher der Jury für den Deutschen Schulpreis, bei einem Schulbesuch im vergangenen Jahr.
©Robert Bosch Stiftung / Stefan Schott

Jedem Schulbesuch liegt ein Zauber inne. Denn immer, wenn wir als Besuchsteam für die Auswahl der Nominierungen an die Schulen kommen, erleben wir Unerwartetes: Schätze im Schulsystem, die der Deutsche Schulpreis sichtbar machen möchte. Drei davon stelle ich im Folgenden vor: Eine Schule wie keine. Eine Schule für Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher. Und eine Schule, in der Schülerinnen und Schüler den Unterricht übernehmen.

Eine Schule wie keine

Wir trafen 2010 in dem am höchsten gelegenen Ski- und Bergdorf Deutschlands, in Bad Hindelang, auf eine Rehaklinik zur Behandlung von Atemwegserkrankungen und Hautkrankheiten, dem ein Förderzentrum für körperliche und motorische Entwicklung angeschlossen ist. Dort werden bis zu 200 Kinder und Jugendliche unterrichtet, die die ganze Vielfalt an Leistungsunterschieden, Lernprofilen, Begabungen und Interessen mitbringen und die aus allen Schichten sowie sozialen und kulturellen Kontexten kommen.

Wir wurden von der didaktischen Virtuosität überrascht, mit der es die Lehrkräfte der Sophie-Scholl-Schule über alle Jahrgangsstufen von der ersten Klasse bis zum Abitur und über alle Schulformen hinweg meisterhaft verstehen, durch den punktgenauen Einsatz verschiedenster Materialien, Lernformen und Methoden dafür zu sorgen, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Zeit während der Reha optimal für ihr Lernen nutzen können.

Die Jury hat die Schule ausgezeichnet, obwohl diese von den Kindern und Jugendlichen aus allen Bundesländern meist nur etwa sechs Wochen besucht wird und dadurch von Vergleichsarbeiten und sonstigen Leistungserhebungen nicht erfasst werden kann.

Die zweite Chance

An der Werkstattschule Bremerhaven haben wir 2008 als Besuchsteam fast alles als ungewöhnlich erlebt. Das fängt schon bei der ehemaligen Fabrikhalle an, die vom Personal der Schule eigenhändig als Lernraum saniert wurde. Hier findet Aufrichten statt Unterrichten statt, denn die „Kundschaft“, wie die Lernenden hier bezeichnet werden, sind junge Menschen, die an der herkömmlichen Schule gescheitert sind – oder auch umgekehrt: Menschen, an denen die Schule gescheitert ist.

Sie dürfen nicht verloren gehen ist der Leitspruch der Schule – und darauf zielt ein beeindruckend vielfältiges Projektangebot.

Ob man sie üblicherweise als Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher, Wohlstandsverwahrloste oder Fortschrittsverliererinnen und -verlierer abstempelt, spielt für die Lehrkräfte der Werkstattschule Bremerhaven keine Rolle. „Sie dürfen nicht verloren gehen“, ist der Leitspruch der Schule – und darauf zielt ein beeindruckend vielfältiges Projektangebot ab.

Neben den Werkstätten gibt es die sogenannte „Känguruklasse“, in der drei Tagesmütter die Kleinkinder von jungen Müttern betreuen, die aufgrund ihrer frühen Schwangerschaft bislang keinen Schulabschluss gemacht haben. „Ich kam von der Bahn ab, klaute und nahm Drogen“, bereute rückblickend eine Schülerin. „Jetzt mache ich den Schulabschluss, weil ich Vorbild für mein Kind sein möchte.“ Wie vielen anderen, die die Schule abbrechen, hat ihr das Engagement der Lehrkräfte eine zweite Chance im Leben eröffnet.

„Schüler machen Schule“

Beim Besuch der Evangelischen Schule Neuruppin 2012 hat uns das Konzept „Schüler machen Schule“ beeindruckt, das in variantenreichen Formen umgesetzt wird, um die fachliche Kompetenz leistungsstarker Schülerinnen und Schüler wirkungsvoll zu nutzen: Ist zum Beispiel eine Lehrkraft nicht da, übernehmen Schülerinnen und Schüler der Oberstufe im Teamteaching den Unterricht an der Grundschule.

Im Lateinunterricht der Sekundarstufe I führt eine dreiköpfige Schülergruppe aus dem Leistungskurs der Sekundarstufe II einen Stationenbetrieb zum Thema „Perfekt“ durch: Anhand eines „Laufzettels“ sollen mit großem Variantenreichtum unterschiedliche Möglichkeiten der Perfekt-Form im Lateinischen geübt, abgefragt, ergänzt, zusammengefügt und im Gesamtensemble der Zeitformen positioniert werden.

Eine Gelegenheit, Führung und Management zu üben, haben die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe durch die selbstständige Leitung des Cafés „Tasca“, einer Schüler-Aktiengesellschaft, durch die sie über Gewinn-Verlust-Rechnung praxisnahes Wissen der Unternehmensführung erlernen.

Das Zutrauen in und die hohen Erwartungen an die Kinder und Jugendlichen sind der Schlüssel für besondere Leistungen.

Höhepunkt an der Schule ist jedes Jahr, wenn die Abiturklasse für einen Tag die Schule übernimmt und die einzelnen Funktionen von Schulleitung, Lehrkräften und Hausmeister untereinander verteilt, während sich die Lehrerinnen und Lehrer fortbilden. Wenn ich außerhalb des Schulpreises davon erzähle, begegnet mir oft das „Es-geht-nicht, weil“-Argument in der Formulierung „Wer übernimmt denn die Verantwortung, wenn etwas passiert?“ Dass dies für die Abiturientinnen und Abiturienten eine echte „Reifeprüfung“ sein kann, zeigte sich im Jahr vor unserem Besuch: Im nahe gelegenen See gab es an dem Tag, als sie die Leitung übernommen hatten, einen Bombenalarm, und die jungen Erwachsenen mussten in der Ausübung ihrer Leitungsfunktionen volle Verantwortung zeigen.

Wir Jurymitglieder sind immer wieder begeistert, dass wir bei unseren Schulbesuchen jedes Jahr wieder soviel Unerwartetes erleben – was zeigt, dass es im Deutschen Schulsystem noch viele Schätze zu heben gibt. Das Besondere an diesen Schätzen ist, dass das Zutrauen in und die hohen Erwartungen an die Kinder und Jugendlichen der Schlüssel für besondere Leistungen sind.

Zur Person

  • Der österreichische Erziehungswissenschaftler und Schulpädagoge Michael Schratz ist Gründungsdekan der School of Education an der Universität Innsbruck.
  • In seiner Arbeit fokussiert sich Michael Schratz auf die Schulentwicklung und die Professionalisierung von Führungspersonen im Bildungsbereich.
  • Als hochkarätiger Experte aus der Wissenschaft ist er Mitglied der Jury des Deutschen Schulpreises und zugleich deren Sprecher.
  • Für Das Deutsche Schulportal schreibt Michael Schratz regelmäßig Kolumnen und beobachtet Entwicklungen in der Bildungslandschaft.

Auf einen Blick

  • Aus allen eingereichten Bewerbungen hat die Jury im Dezember die Top 20 gewählt. Diese 20 Schulen werden zurzeit von Mitgliedern der Jury und Vorjury besucht.
  • Im März nennt die Jury dann die 15 nominierten Schulen für den Deutschen Schulpreis 2020.
  • Die Preisverleihung findet voraussichtlich Ende Mai in Berlin statt.
  • Das neue Wettbewerbsjahr ist bereits eröffnet: Allgemeinbildende und berufliche Schulen in öffentlicher oder privater Trägerschaft in Deutschland sowie Deutsche Auslandsschulen können sich jetzt für den Deutschen Schulpreis 2021 Die Bewerbungsfrist für das 15. Wettbewerbsjahr endet am 15. Oktober 2020.