Expertenstimme

Gastbeitrag : Demokratie­bildung – gefordert, aber auch gefördert?

Die Kultusminister der Länder wollen die Demokratie­bildung an Schulen stärken. Wolfgang Beutel, Bildungs­forscher und Gast­autor des Schulportals, verbindet damit die Hoffnung, dass Schule und Forschung jetzt die nötige Unter­stützung erhalten, um flächen­deckend eine Demokratie­pädagogik zu etablieren. Konzepte und Initiativen gibt es viele – es fehlt jedoch an der wissen­schaftlichen Evaluation und an der konsequenten Umsetzung im Schul­alltag.

Wolfgang Beutel
Kinder arbeiten an einem gemeinsamen Projekt
Kinder sollten Demokratie in der Schule nicht nur in der Theorie lernen sondern auch selbst erleben können, sagt Wolfgang Beutel.
©shutterstock

Bildung für die Demokratie braucht Demokratie­pädagogik: Sie benötigt zweifels­ohne Unterricht in Politik, sozial­wissen­schaftlichen Fächern und ein solides Wissen über das Wesen, das Werden und die institutionellen Voraus­setzungen und Praxen demokratischer Gesellschaften sowie der ihnen zugehörigen Politik. Ebenso sicher ist aber auch, dass all dies nicht zureichend ist für eine wirksame „Bildung für die Demokratie“ oder „Demokratie­pädagogik“.

Fachgebundenes, statisches Wissen alleine führt nicht zwangsläufig schon zur demokratischen Handlungs­kompetenz.

Fachgebundenes, statisches Wissen alleine führt nicht zwangs­läufig schon zur demokratischen Handlungs­kompetenz. Demokratie ist also mehr als ihre Institutionen und ein darin zentriertes Wissen. Demokratische Bildung wiederum ist das Ergebnis des Zusammen­spiels von Wissen, belastbaren prodemokratischen Wert­haltung und der Bereitschaft zum Engagement in der Demokratie.

Die Schulforschung weiß, dass man vieles in der Schule lernen und erfahren kann, was zur demokratischen Bildung beiträgt. Sie zeigt aber auch, dass man gerade in der Schule auch vieles erfahren und lernen kann, was zur demokratischen Bildung sich geradezu kontra­produktiv verhält: Repression, Ausgrenzung, Intransparenz, unkontrollierte und asymmetrische Macht, Mobbing, Gewalt und soziale Vereinsamung – um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Schule braucht eine demokratische Schul­kultur

Überdies ist die Schule in Deutschland kein auf Entschluss der Lernenden basierender Wahlakt, sondern eine gesetzliche Pflicht, die tief und zeit­umfangreich in das Leben von Kindern, Jugendlichen und letztlich auch Eltern ein­greift. Schule ist ein rationaler Ort organisierten Lernens, effizient und für die gesellschaftliche Reproduktion unumgänglich. Sie beeinflusst die Verteilung gesellschaftlichen Wohl­stands erheblich und reguliert Lebens­chancen, idealiter unter dem Aspekt von Angemessenheit und Gerechtig­keit – und in Wider­spruch zu dieser Ideal-Funktion für die moderne Gesellschaft ist sie bekannter­maßen zugleich bis heute vor allem in Deutschland sozial in hohem Maße ungerecht.

Die Schule ist als also in der Summe als Ort demokratischer Bildung ein sehr ambivalentes Konstrukt.

Die Schule ist als also in der Summe als Ort demokratischer Bildung ein sehr ambivalentes Konstrukt. Um in ihr Demokratie lernen und erfahren zu können, muss sie deshalb demokratisch zivilisiert, durch demokratie­pädagogische Aufklärung und entsprechende pädagogische Erweiterung demokratisch kultiviert werden – sie braucht „demokratische Schulkultur“.

Politik und Zivilgesellschaft unter­stützen Demokratie­bildung

Die KMK hat in Ihrem letzten Plenum Mitte Oktober 2018 die Über­arbeitung ihrer Empfehlung zum Demokratie­lernen aus dem Jahr 2009 als bildungs­politischen Impuls unter dem Titel „Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule“ vorgestellt. Ein direkter, steuernder Eingriff in die Bildungs- und die zugehörige Lern­praxis der Schulen ist das nicht, aber das symbolische Kapital einer solchen Empfehlung sollte nicht unterschätzt werden.

Parallel dazu stabilisieren sich inzwischen etablierte, gleich­wohl bislang keines­falls auf Dauer gestellte Unter­stützungs­angebote für die Schulen: Zu nennen sind etwa der Schul­verbund-Wett­bewerb „Jugend debattiert“, für den sich künftig auch das Bundes­ministerium für Bildung engagieren wird sowie die „Deutsche Schulakademie“ und der „Deutsche Schulpreis“ als Stiftungs­initiativen aus dem Hause Bosch.

Umfrage

Gab es im aktuellen Schuljahr für Ihre Schülerinnen und Schüler Gelegenheiten des demokratischen Lernens, zum Beispiel bei der Lösung eines Schulkonfliktes, bei der Auseinandersetzung mit politischen Themen in der Gemeinde oder in einem Klassenrat?
111 Antworten wurden in der Umfrage abgegeben.

Die Bertelsmann-Stiftung hat einen inzwischen akkreditierten MOOC zur „Demokratie­pädagogik“ als online-Qualifikations­angebot aufwendig erarbeitet und bereit­gestellt. Die Deutsche Gesellschaft für Demokratie­pädagogik hat einen „Bündnisaufruf“ für demokratische Bildung gestartet. Und auch der Wettbewerb „Demokratisch Handeln“ soll bei seiner 30. Durch­führungs­runde im Jahr 2020 auf breitere Beine gestellt werden.

Auch außerhalb des Schulbereichs ist die Förderung von Demokratie und Demokratie­pädagogik kein Fremd­wort: So hat das Programm „Demokratie leben!“ des Bundes­ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend viele Aktivitäten angestoßen und sich über den Sozialraum Schule mit dem Schul­partner-Programm Openion der Deutschen Kinder- und Jugend­stiftung eben­falls intensiv dem Thema zugewendet.

Der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) protegiert seit über einem Jahr die Kampagne „Haltung zählt“. Es fehlt nicht an Initiativen, Handlungs­formen, guter Praxis und didaktisch durch­dachten Konzepten, das Demokratie-Lernen in der Schule zu stärken.

Demokratiebildung ist eine Quer­schnitts­aufgabe

Das ist schon viel und doch noch nicht genug. Geht es um das Bildungs­wesen der Gegen­wart, dann erwarten wir messbare Ergebnisse, sicht­bare Erträge, belastbare Daten, evidenz­basierte Effekte in der Schule – die nun sind aber im komplexen Feld der Demokratie­bildung nicht so schnell nach­zuweisen. Wir können nicht mit auf diese Art belastbarem Daten­material sagen, dass der Jugendliche, der sein Erst­wahl­recht nutzt, dies auf der Basis demokratie­pädagogischen Erfahrungs­lernens oder gar eines guten Unterrichts der Politischen Bildung tut. Wir wissen nicht, weshalb Jugendliche, aber auch Erwachsene gar der populistischen Verführung anheimfallen, in das Lager der Nicht-Wähler über­zuwechseln, bei Pegida „Wir sind das Volk“ zu rufen oder gar in der Neonazi-Szene aktiv zu werden.

Hinzu kommt, dass die Schule insgesamt ein Abbild der Gesellschaft gibt. Wenn dort inzwischen bundes­weit im Durch­schnitt weit mehr als zehn Prozent der Wählerinnen und Wähler abseits der etablierten demokratischen Parteien wählen, so muss man auch befürchten, dass darunter auch Pädagoginnen und Pädagogen sind – das gilt nicht nur für den Vorsitzenden der AfD-Fraktion im Land­tag in Erfurt. Die aktuelle Auswertung des sächsischen, von der Bosch-Stiftung geförderten Interventions­programms „Starke Schule – starke Schüler“ thematisiert auf ernüchternde Weise, dass im Berufs­bildungs­bereich Lehrende sicht­bares Verständnis dafür entwickeln, dass die Jugendlichen sich frustriert von der Politik und der demokratischen Gesellschaft ab- und rechten Orientierungen zuwenden.

Wie kann das sein? Weshalb ist der Möglichkeitsraum Schule und Bildung immer noch so zaghaft in der Ausprägung demokratischer Werthaltungen, die belastbar sind und Engagement sowie Eigen­verantwortung in das Konzept von Demokratie integrieren?

Vielfach fehlt der Mut, bestehende Konzepte auch umzusetzen

Wir diskutieren immer noch über die Frage, wie eine lernförderliche Form der partizipativen Leistungs­beurteilung auch jenseits der verbalen Lern­berichte in den ersten beiden Jahr­gangs­stufen der Grund­schule aussehen kann – obwohl wir wissen, wie das geht. Wir kennen die Grenzen der verfassten Schule mit ihren Gremien und Mit­bestimmungs­organen und haben doch vielfach keinen Mut, diese durch bewährte und begründete demokratie­pädagogische Konzepte wie einen schul­umfassenden „Klassenrat“ in allen Jahrgängen und Stufen, ein unter­richts­integriertes Projektlernen und ein mutiges Bekenntnis zum politischen Engagement in der Schule zu unter­stützen – zumindest ist das noch nicht hinreichend stark verankert im Bildungswesen in der Fläche.

Stattdessen sehen wir mit Erschrecken, wie eine politische Partei, die nunmehr in allen Landes­parlamenten sitzt, online ihre Denunziations­portale mit dem „Indoktrinations­verbot“ des sogenannten Beutels­bacher Konsens der politischen Bildung begründet. Bis heute hat die Politische Bildung beim Projektlernen, beim Service-Learning und bei Projekten „demokratischen Handelns“ scheinbar Furcht vor einem bindenden und normativ wirksamen Bekenntnis zur Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und vor allem als Lebens­form. Mit Staunen liest man die Forderung des Politologen Claus Leggewie in der kaum links-verdächtigen FAZ, dass die Politik­wissen­schaft sich „dem normativen Kern der liberalen Demokratie“ zuwenden sollte, statt auf ungute Weise mit der Effizienz auto­kratischer Systeme zu kokettieren.

Dieser kritische Blick auf die Angst der Politikwissenschaft vor einer normativen Demokratie­theorie und entsprechendem praktischem, auch forschungs­praktischem Engagement spricht Bände. In einer hochrationalisierten, schnellen und wirtschaftlich sowie daten­technisch äußerst effizienten Welt scheint das skeptische, auf Wider­spruch, Beratung, Erklärung und andauernde Verständigung setzende Procedere demokratischer Institutionen ebenso wie einer entsprechenden demokratischen Kultur im Alltags­leben wenig reizvoll zu sein.

Es gibt so vieles – man muss es nur tun

Nun fehlt es nicht an interessanter und im positiven Sinne bewährter Praxis demokratischer Erfahrung und eines entsprechenden Lernens in der Schule. Zahl­reiche Beispiele liegen vor. Wettbewerbe wie „Demokratisch Handeln“ und „Der Deutsche Schulpreis“ führen zu hervor­ragenden Projektbeschreibungen und Material­sammlungen für eine gute demokratie­pädagogische Praxis. Natürlich weiß die Pädagogik, dass es eine eins-zu-eins-Übertragung solcher Praxen nicht geben kann, dass dort allenfalls ein Anregungs­gehalt für andere Schulen, andere demokratie­pädagogische Aufgaben und andere Formen des Lernens liegen kann.

Entsprechend haben diese Wettbewerbe Praxisnetzwerke und pflegen den Austausch und Fortbildungen sowie praxis­gesättigte Anregungen zur Weiter­entwicklung des Demokratie­lernens. Es gibt dabei eine große Vielfalt, wie das „Handbuch Wett­bewerbe zur Demokratie­bildung“ (Beutel/Tetzlaff 2018) oder das Handbuch „Gute Schule“ (Beutel/Höhman/Pant/Schratz 2016) exemplarisch zeigen.

Es fehlen Formen der Lehrer­bildung für die Demokratie­pädagogik als Teil des beruflichen Handelns in der Schule

So bleibt es bei diesem bildungspolitischen Thema doch auch bei einer klassischen Schwäche aller Quer­schnitts­aufgaben der Schule: Sie sollen alle messbare Ergebnisse erreichen, sie liegen in der Verantwortung aller Lehr­kräfte aller Schul­formen und –arten. Und wie so vieles, was die Allgemein­heit einer großen Gruppe eint und teilt, fehlt es an ausgeprägter und fachlich stabilisierten Routinen, Instrumenten und einem entsprechenden Aufgaben­bewusst­sein, aber oft auch am Handlungs­plan. Sie sind anspruchs­voll und zu gering ausgestattet mit Zeit, Geld und vor allem professioneller Begleitung.

Demokratiepädagogik braucht Lehrer­bildung und Forschung

Es fehlen Formen der Lehrerbildung für die Demokratiepädagogik als Teil des beruflichen Handelns in der Schule einer­seits. Und andererseits fehlt umfassende Forschung zu den Wirkungen und Handlungs­bedingungen demokratie­pädagogischer Instrumente und Praxen in der Schule. Es gibt zu wenig Forschungs­potenzial für die vorliegenden Projekte und Praxen der Demokratie­pädagogik und es fehlt auch an Mitteln zur praktischer Stärkung von Demokratie­pädagogik in der Schule: „Woran liegt es“, fragte nicht zuletzt deshalb zuspitzend Peter Fauser vor Jahren schon in einem öffentlichen Vortrag zur Feier des 85. Geburtstags von Wolfgang Edelstein, des Nestors der Demokratie­pädagogik, „dass die Versuche, für demokratie­pädagogische Arbeit Ressourcen zu bekommen, die in einem auch nur annähernd ernst­zunehmenden Verhältnis zur Bedeutung der Aufgabe, zur Größe des Schul­wesens oder dem Umfang der Bildungs­ausgaben stehen, seit einem Viertel­jahr­hundert einer beschämenden Bettelei gleichen – beschämend nicht für die Bettelleute, wohlgemerkt“ (2016, S. 235).

Möglicherweise ist die „Demokratie“ als Aufgabe von Unterricht, Lern- und Schul­qualität politisch gesehen doch noch nicht eine so bedeutungs­volle Quer­schnitts­aufgaben, wie sie sich aus Sicht der Akteure in der Schul­praxis und der schul­begleitenden Unter­stützungs­systeme darstellt. Vielleicht – so die bescheidene Hoffnung – ändert die Neuauflage der KMK-Empfehlung an diesem Sach­verhalt mittel­fristig doch noch etwas und wir gestalten in einer breiten fachlichen und schul­praktischen Offensive die Schule zu einer wirklichen demokratischen Umgebung.

Deshalb empfiehlt es sich, mit demokratie­pädagogischen Projekten sich im Netzwerk der außer­schulischen Unter­stützer zu beteiligen: beim Wettbewerb „Demokratisch handeln“, beim Deutschen Schulpreis oder bei „Openion“, denn wir wissen: Damit fördern wir eine Schule, in der man durch Erfahrung und praktisches Engagement lernt, was die Demokratie braucht und als staatliche Verfassung selbst nicht einfach erzeugen kann: Überzeugte Demokratinnen und Demokraten, denen die Zukunft keine Furcht bereitet, Vielfalt und Minderheitenschutz ein Wert und eine Handlungs­norm ist und die wissen, dass es auf sie ankommt, wenn unser Gemeinwesen als demokratischer Staat in Freiheit und Verantwortung auch in Zukunft funktionieren soll.

Der vorliegende Beitrag ist eine gekürzte Fassung. Die vollständige Version wurde im News­letter des Bundes­netzwerkes Bürgerschaftliches Engagement in BBE Europa-Nachrichten veröffentlicht.

Mehr zum Thema

  • Beutel, Wolfgang (2016):  Demokratiepädagogik als Querschnittsaufgabe aktueller Schul­entwicklung. In: Die Deutsche Schule, Heft 3, S. 226-238.
  • Fauser, Peter (2016): Was heißt und zu welchem Ende treiben wir Demokratiepädagogik? Ein skeptischer Appell. Eine Festrede. In: Rademacher, Helmolt/Wintersteiner, Werner (Hrsg.) (2016): Jahrbuch Demokratiepädagogik Bd. 4 – 2016/17: Friedenspädagogik und Demokratiepädagogik. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag, S. 215-236.
  • Beutel, Wolfgang/Tetzlaff, Sven (Hrsg.) (2018): Handbuch Schülerwettbewerbe zur Demokratiebildung. Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag.
  • Beutel, Silvia-Iris/Höhmann, Katrin/Schratz, Michael/Pant, Hans-Anand (Hrsg.) (2016): Handbuch Gute Schule. Die sechs Qualitäts­bereiche des Deutschen Schulpreises. Seelze: Klett/Friedrich.

Zur Person

  • Wolfgang Beutel ist seit 1989 Geschäftsführer des Projektes „Demokratisch Handeln“.
  • 1996 promovierte er an der Universität Jena zum Thema „Schule als Ort der politischen Bildung“.
  • Wolfgang Beutel ist Mitglied im pädagogischen Expertenkreis des Deutschen Schulpreises, Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin sowie Mit­herausgeber Jahrbuch Demokratie­pädagogik.
  • Am 15. November 2018 äußerte sich Wolfgang Beutel im Web-Radio-Interview auf detektor.fm zum Thema Demokratiebildung in der Schule.