Gastbeitrag : Demokratiebildung – gefordert, aber auch gefördert?
Die Kultusminister der Länder wollen die Demokratiebildung an Schulen stärken. Wolfgang Beutel, Bildungsforscher und Gastautor des Schulportals, verbindet damit die Hoffnung, dass Schule und Forschung jetzt die nötige Unterstützung erhalten, um flächendeckend eine Demokratiepädagogik zu etablieren. Konzepte und Initiativen gibt es viele – es fehlt jedoch an der wissenschaftlichen Evaluation und an der konsequenten Umsetzung im Schulalltag.
Bildung für die Demokratie braucht Demokratiepädagogik: Sie benötigt zweifelsohne Unterricht in Politik, sozialwissenschaftlichen Fächern und ein solides Wissen über das Wesen, das Werden und die institutionellen Voraussetzungen und Praxen demokratischer Gesellschaften sowie der ihnen zugehörigen Politik. Ebenso sicher ist aber auch, dass all dies nicht zureichend ist für eine wirksame „Bildung für die Demokratie“ oder „Demokratiepädagogik“.
Fachgebundenes, statisches Wissen alleine führt nicht zwangsläufig schon zur demokratischen Handlungskompetenz.
Fachgebundenes, statisches Wissen alleine führt nicht zwangsläufig schon zur demokratischen Handlungskompetenz. Demokratie ist also mehr als ihre Institutionen und ein darin zentriertes Wissen. Demokratische Bildung wiederum ist das Ergebnis des Zusammenspiels von Wissen, belastbaren prodemokratischen Werthaltung und der Bereitschaft zum Engagement in der Demokratie.
Die Schulforschung weiß, dass man vieles in der Schule lernen und erfahren kann, was zur demokratischen Bildung beiträgt. Sie zeigt aber auch, dass man gerade in der Schule auch vieles erfahren und lernen kann, was zur demokratischen Bildung sich geradezu kontraproduktiv verhält: Repression, Ausgrenzung, Intransparenz, unkontrollierte und asymmetrische Macht, Mobbing, Gewalt und soziale Vereinsamung – um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Schule braucht eine demokratische Schulkultur
Überdies ist die Schule in Deutschland kein auf Entschluss der Lernenden basierender Wahlakt, sondern eine gesetzliche Pflicht, die tief und zeitumfangreich in das Leben von Kindern, Jugendlichen und letztlich auch Eltern eingreift. Schule ist ein rationaler Ort organisierten Lernens, effizient und für die gesellschaftliche Reproduktion unumgänglich. Sie beeinflusst die Verteilung gesellschaftlichen Wohlstands erheblich und reguliert Lebenschancen, idealiter unter dem Aspekt von Angemessenheit und Gerechtigkeit – und in Widerspruch zu dieser Ideal-Funktion für die moderne Gesellschaft ist sie bekanntermaßen zugleich bis heute vor allem in Deutschland sozial in hohem Maße ungerecht.
Die Schule ist als also in der Summe als Ort demokratischer Bildung ein sehr ambivalentes Konstrukt.
Die Schule ist als also in der Summe als Ort demokratischer Bildung ein sehr ambivalentes Konstrukt. Um in ihr Demokratie lernen und erfahren zu können, muss sie deshalb demokratisch zivilisiert, durch demokratiepädagogische Aufklärung und entsprechende pädagogische Erweiterung demokratisch kultiviert werden – sie braucht „demokratische Schulkultur“.
Politik und Zivilgesellschaft unterstützen Demokratiebildung
Die KMK hat in Ihrem letzten Plenum Mitte Oktober 2018 die Überarbeitung ihrer Empfehlung zum Demokratielernen aus dem Jahr 2009 als bildungspolitischen Impuls unter dem Titel „Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule“ vorgestellt. Ein direkter, steuernder Eingriff in die Bildungs- und die zugehörige Lernpraxis der Schulen ist das nicht, aber das symbolische Kapital einer solchen Empfehlung sollte nicht unterschätzt werden.
Parallel dazu stabilisieren sich inzwischen etablierte, gleichwohl bislang keinesfalls auf Dauer gestellte Unterstützungsangebote für die Schulen: Zu nennen sind etwa der Schulverbund-Wettbewerb „Jugend debattiert“, für den sich künftig auch das Bundesministerium für Bildung engagieren wird sowie die „Deutsche Schulakademie“ und der „Deutsche Schulpreis“ als Stiftungsinitiativen aus dem Hause Bosch.
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Die Bertelsmann-Stiftung hat einen inzwischen akkreditierten MOOC zur „Demokratiepädagogik“ als online-Qualifikationsangebot aufwendig erarbeitet und bereitgestellt. Die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik hat einen „Bündnisaufruf“ für demokratische Bildung gestartet. Und auch der Wettbewerb „Demokratisch Handeln“ soll bei seiner 30. Durchführungsrunde im Jahr 2020 auf breitere Beine gestellt werden.
Auch außerhalb des Schulbereichs ist die Förderung von Demokratie und Demokratiepädagogik kein Fremdwort: So hat das Programm „Demokratie leben!“ des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend viele Aktivitäten angestoßen und sich über den Sozialraum Schule mit dem Schulpartner-Programm Openion der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung ebenfalls intensiv dem Thema zugewendet.
Der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) protegiert seit über einem Jahr die Kampagne „Haltung zählt“. Es fehlt nicht an Initiativen, Handlungsformen, guter Praxis und didaktisch durchdachten Konzepten, das Demokratie-Lernen in der Schule zu stärken.
Demokratiebildung ist eine Querschnittsaufgabe
Das ist schon viel und doch noch nicht genug. Geht es um das Bildungswesen der Gegenwart, dann erwarten wir messbare Ergebnisse, sichtbare Erträge, belastbare Daten, evidenzbasierte Effekte in der Schule – die nun sind aber im komplexen Feld der Demokratiebildung nicht so schnell nachzuweisen. Wir können nicht mit auf diese Art belastbarem Datenmaterial sagen, dass der Jugendliche, der sein Erstwahlrecht nutzt, dies auf der Basis demokratiepädagogischen Erfahrungslernens oder gar eines guten Unterrichts der Politischen Bildung tut. Wir wissen nicht, weshalb Jugendliche, aber auch Erwachsene gar der populistischen Verführung anheimfallen, in das Lager der Nicht-Wähler überzuwechseln, bei Pegida „Wir sind das Volk“ zu rufen oder gar in der Neonazi-Szene aktiv zu werden.
Hinzu kommt, dass die Schule insgesamt ein Abbild der Gesellschaft gibt. Wenn dort inzwischen bundesweit im Durchschnitt weit mehr als zehn Prozent der Wählerinnen und Wähler abseits der etablierten demokratischen Parteien wählen, so muss man auch befürchten, dass darunter auch Pädagoginnen und Pädagogen sind – das gilt nicht nur für den Vorsitzenden der AfD-Fraktion im Landtag in Erfurt. Die aktuelle Auswertung des sächsischen, von der Bosch-Stiftung geförderten Interventionsprogramms „Starke Schule – starke Schüler“ thematisiert auf ernüchternde Weise, dass im Berufsbildungsbereich Lehrende sichtbares Verständnis dafür entwickeln, dass die Jugendlichen sich frustriert von der Politik und der demokratischen Gesellschaft ab- und rechten Orientierungen zuwenden.
Wie kann das sein? Weshalb ist der Möglichkeitsraum Schule und Bildung immer noch so zaghaft in der Ausprägung demokratischer Werthaltungen, die belastbar sind und Engagement sowie Eigenverantwortung in das Konzept von Demokratie integrieren?
Vielfach fehlt der Mut, bestehende Konzepte auch umzusetzen
Wir diskutieren immer noch über die Frage, wie eine lernförderliche Form der partizipativen Leistungsbeurteilung auch jenseits der verbalen Lernberichte in den ersten beiden Jahrgangsstufen der Grundschule aussehen kann – obwohl wir wissen, wie das geht. Wir kennen die Grenzen der verfassten Schule mit ihren Gremien und Mitbestimmungsorganen und haben doch vielfach keinen Mut, diese durch bewährte und begründete demokratiepädagogische Konzepte wie einen schulumfassenden „Klassenrat“ in allen Jahrgängen und Stufen, ein unterrichtsintegriertes Projektlernen und ein mutiges Bekenntnis zum politischen Engagement in der Schule zu unterstützen – zumindest ist das noch nicht hinreichend stark verankert im Bildungswesen in der Fläche.
Stattdessen sehen wir mit Erschrecken, wie eine politische Partei, die nunmehr in allen Landesparlamenten sitzt, online ihre Denunziationsportale mit dem „Indoktrinationsverbot“ des sogenannten Beutelsbacher Konsens der politischen Bildung begründet. Bis heute hat die Politische Bildung beim Projektlernen, beim Service-Learning und bei Projekten „demokratischen Handelns“ scheinbar Furcht vor einem bindenden und normativ wirksamen Bekenntnis zur Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und vor allem als Lebensform. Mit Staunen liest man die Forderung des Politologen Claus Leggewie in der kaum links-verdächtigen FAZ, dass die Politikwissenschaft sich „dem normativen Kern der liberalen Demokratie“ zuwenden sollte, statt auf ungute Weise mit der Effizienz autokratischer Systeme zu kokettieren.
Dieser kritische Blick auf die Angst der Politikwissenschaft vor einer normativen Demokratietheorie und entsprechendem praktischem, auch forschungspraktischem Engagement spricht Bände. In einer hochrationalisierten, schnellen und wirtschaftlich sowie datentechnisch äußerst effizienten Welt scheint das skeptische, auf Widerspruch, Beratung, Erklärung und andauernde Verständigung setzende Procedere demokratischer Institutionen ebenso wie einer entsprechenden demokratischen Kultur im Alltagsleben wenig reizvoll zu sein.
Es gibt so vieles – man muss es nur tun
Nun fehlt es nicht an interessanter und im positiven Sinne bewährter Praxis demokratischer Erfahrung und eines entsprechenden Lernens in der Schule. Zahlreiche Beispiele liegen vor. Wettbewerbe wie „Demokratisch Handeln“ und „Der Deutsche Schulpreis“ führen zu hervorragenden Projektbeschreibungen und Materialsammlungen für eine gute demokratiepädagogische Praxis. Natürlich weiß die Pädagogik, dass es eine eins-zu-eins-Übertragung solcher Praxen nicht geben kann, dass dort allenfalls ein Anregungsgehalt für andere Schulen, andere demokratiepädagogische Aufgaben und andere Formen des Lernens liegen kann.
Entsprechend haben diese Wettbewerbe Praxisnetzwerke und pflegen den Austausch und Fortbildungen sowie praxisgesättigte Anregungen zur Weiterentwicklung des Demokratielernens. Es gibt dabei eine große Vielfalt, wie das „Handbuch Wettbewerbe zur Demokratiebildung“ (Beutel/Tetzlaff 2018) oder das Handbuch „Gute Schule“ (Beutel/Höhman/Pant/Schratz 2016) exemplarisch zeigen.
Es fehlen Formen der Lehrerbildung für die Demokratiepädagogik als Teil des beruflichen Handelns in der Schule
So bleibt es bei diesem bildungspolitischen Thema doch auch bei einer klassischen Schwäche aller Querschnittsaufgaben der Schule: Sie sollen alle messbare Ergebnisse erreichen, sie liegen in der Verantwortung aller Lehrkräfte aller Schulformen und –arten. Und wie so vieles, was die Allgemeinheit einer großen Gruppe eint und teilt, fehlt es an ausgeprägter und fachlich stabilisierten Routinen, Instrumenten und einem entsprechenden Aufgabenbewusstsein, aber oft auch am Handlungsplan. Sie sind anspruchsvoll und zu gering ausgestattet mit Zeit, Geld und vor allem professioneller Begleitung.
Demokratiepädagogik braucht Lehrerbildung und Forschung
Es fehlen Formen der Lehrerbildung für die Demokratiepädagogik als Teil des beruflichen Handelns in der Schule einerseits. Und andererseits fehlt umfassende Forschung zu den Wirkungen und Handlungsbedingungen demokratiepädagogischer Instrumente und Praxen in der Schule. Es gibt zu wenig Forschungspotenzial für die vorliegenden Projekte und Praxen der Demokratiepädagogik und es fehlt auch an Mitteln zur praktischer Stärkung von Demokratiepädagogik in der Schule: „Woran liegt es“, fragte nicht zuletzt deshalb zuspitzend Peter Fauser vor Jahren schon in einem öffentlichen Vortrag zur Feier des 85. Geburtstags von Wolfgang Edelstein, des Nestors der Demokratiepädagogik, „dass die Versuche, für demokratiepädagogische Arbeit Ressourcen zu bekommen, die in einem auch nur annähernd ernstzunehmenden Verhältnis zur Bedeutung der Aufgabe, zur Größe des Schulwesens oder dem Umfang der Bildungsausgaben stehen, seit einem Vierteljahrhundert einer beschämenden Bettelei gleichen – beschämend nicht für die Bettelleute, wohlgemerkt“ (2016, S. 235).
Möglicherweise ist die „Demokratie“ als Aufgabe von Unterricht, Lern- und Schulqualität politisch gesehen doch noch nicht eine so bedeutungsvolle Querschnittsaufgaben, wie sie sich aus Sicht der Akteure in der Schulpraxis und der schulbegleitenden Unterstützungssysteme darstellt. Vielleicht – so die bescheidene Hoffnung – ändert die Neuauflage der KMK-Empfehlung an diesem Sachverhalt mittelfristig doch noch etwas und wir gestalten in einer breiten fachlichen und schulpraktischen Offensive die Schule zu einer wirklichen demokratischen Umgebung.
Deshalb empfiehlt es sich, mit demokratiepädagogischen Projekten sich im Netzwerk der außerschulischen Unterstützer zu beteiligen: beim Wettbewerb „Demokratisch handeln“, beim Deutschen Schulpreis oder bei „Openion“, denn wir wissen: Damit fördern wir eine Schule, in der man durch Erfahrung und praktisches Engagement lernt, was die Demokratie braucht und als staatliche Verfassung selbst nicht einfach erzeugen kann: Überzeugte Demokratinnen und Demokraten, denen die Zukunft keine Furcht bereitet, Vielfalt und Minderheitenschutz ein Wert und eine Handlungsnorm ist und die wissen, dass es auf sie ankommt, wenn unser Gemeinwesen als demokratischer Staat in Freiheit und Verantwortung auch in Zukunft funktionieren soll.
Der vorliegende Beitrag ist eine gekürzte Fassung. Die vollständige Version wurde im Newsletter des Bundesnetzwerkes Bürgerschaftliches Engagement in BBE Europa-Nachrichten veröffentlicht.
- Beutel, Wolfgang (2016): Demokratiepädagogik als Querschnittsaufgabe aktueller Schulentwicklung. In: Die Deutsche Schule, Heft 3, S. 226-238.
- Fauser, Peter (2016): Was heißt und zu welchem Ende treiben wir Demokratiepädagogik? Ein skeptischer Appell. Eine Festrede. In: Rademacher, Helmolt/Wintersteiner, Werner (Hrsg.) (2016): Jahrbuch Demokratiepädagogik Bd. 4 – 2016/17: Friedenspädagogik und Demokratiepädagogik. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag, S. 215-236.
- Beutel, Wolfgang/Tetzlaff, Sven (Hrsg.) (2018): Handbuch Schülerwettbewerbe zur Demokratiebildung. Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag.
- Beutel, Silvia-Iris/Höhmann, Katrin/Schratz, Michael/Pant, Hans-Anand (Hrsg.) (2016): Handbuch Gute Schule. Die sechs Qualitätsbereiche des Deutschen Schulpreises. Seelze: Klett/Friedrich.
Zur Person
- Wolfgang Beutel ist seit 1989 Geschäftsführer des Projektes „Demokratisch Handeln“.
- 1996 promovierte er an der Universität Jena zum Thema „Schule als Ort der politischen Bildung“.
- Wolfgang Beutel ist Mitglied im pädagogischen Expertenkreis des Deutschen Schulpreises, Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin sowie Mitherausgeber Jahrbuch Demokratiepädagogik.
- Am 15. November 2018 äußerte sich Wolfgang Beutel im Web-Radio-Interview auf detektor.fm zum Thema Demokratiebildung in der Schule.