Brandbriefe : Was Schulen in kritischen Lagen wirklich brauchen
In jüngster Zeit gelangen immer wieder Brandbriefe von Schulen an die Öffentlichkeit. Ursache für die Hilferufe seien die veränderten Erwartungen an Schulen in der Gesellschaft, schreibt Cordula Heckmann, Schulleiterin der Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli in Berlin. In ihrem Gastbeitrag für das Deutsche Schulportal fordert die Autorin mehr Unterstützung für Schulen in kritischen Lagen.
Zwölf Jahre nach dem Brandbrief der Rütli-Schule werden immer noch Brandbriefe geschrieben. Woher rührt diese Verzweiflung, die den Brandbriefen zugrunde liegt? Ein Erklärungsversuch ist, dass Grundannahmen, die im Wesentlichen seit der Einführung der Schulpflicht bestanden, zu lange Gültigkeit hatten. Alle Schülerinnen und Schüler haben heute eben nicht mehr den gleichen kulturellen Hintergrund, und die Hausaufgaben können eben nicht mehr so gut begleitet werden, wenn beide Eltern berufstätig sind. Aus vergangenen Zeiten stammt auch die sehr starke Defizitorientierung, die Schule in Teilen immer noch prägt.
Diese Defizitorientierung muss aufhören! In einer Schule, in der sich sehr viele verschiedene Lebenswelten, soziale und kulturelle Herkünfte begegnen, muss der Blick auf die Stärken der Schülerinnen und Schüler gerichtet bleiben, ebenso wie auf die der Lehrkräfte.
Schulen in kritischen Lagen erhalten kaum die Aufmerksamkeit, die sie benötigen
Zurück zu den Brandbriefen: Schulen in kritischer Lage erhalten kaum – oder nicht rechtzeitig genug – die Aufmerksamkeit und Unterstützung, die sie benötigen, um das eigene Potenzial zu entfalten. Die Realität ist, dass gesellschaftliche Problemlagen unmittelbar und gebündelt in Schulen ankommen, und leider sind die Schulen nur selten darauf vorbereitet. Deshalb geschieht es oft, dass die Suche nach den geeigneten Antworten auf Herausforderungen wie Interkulturalität, Mehrsprachigkeit, Inklusion und Gewalt häufig erst dann anfängt, wenn die Schülerinnen und Schüler mit ihren sehr unterschiedlichen Bedarfen bereits in den Klassenräumen sitzen. Im besten Fall beginnt dann eine planvolle, wenn auch anstrengende Suche nach guten pädagogischen Antworten – bisweilen aber legt sich auch der Mehltau der Resignation über die Schulen.
Im Rückblick auf den zwölfjährigen Veränderungsprozess, der in der damaligen Rütli-Schule begann und noch nicht abgeschlossen ist, der erfolgreich, aber niemals leicht oder widerspruchslos verlaufen ist, können wir uns den Antworten auf die Frage „Was braucht es, Schulen zu ermächtigen, sich mutig und kreativ den multiplen gesellschaftlichen Ansprüchen zu stellen?“ nur annähern.
Zu viele unbesetzte Stellen in Schulleitungen
Zunächst einmal wird eine Schulleitung benötigt. Das klingt trivial, ist es aber nicht. Das Amt des Schulleiters oder der Schulleiterin ist seit Langem nicht mehr attraktiv genug – das sieht man an den vielen unbesetzten Stellen. Dabei darf es nicht nur um eine formale Besetzung der Stelle gehen – das wäre zu wenig! Vonseiten der Politik braucht es das klare Signal: „Wir wissen um die Bedeutung der Rolle der Schulleitung.“ Und auf der Ebene der Verwaltung braucht es eine kluge Personalgewinnung und eine wertschätzende Begleitung in dieses verantwortungsvolle Amt hinein.
Das eben Gesagte gilt gleichermaßen für die Lehrkräfte, die Pädagoginnen und Pädagogen. Personalgewinnung und -entwicklung gerade in Zeiten des Lehrkräftemangels ist eine der bedeutsamsten Aufgaben auch von Schulleitung. Die pädagogische Arbeit ist das Fundament jeder guten Schule.
Radikale Veränderungsprozesse selbstbestimmt erleben
Und auch mit einer kompetenten Schulleitung und guten Pädagoginnen und Pädagogen an Bord bleiben die Herausforderungen groß. Um ihnen begegnen zu können, ist es wichtig, Schulen durch tragfähige, stabile und langfristige Vor-Ort-Systeme zu unterstützen, wie sie die Rütli-Schule zum Beispiel seit 2007 mit der Pädagogischen Werkstatt hat. Die Begleitung durch die Pädagogische Werkstatt, die mit personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet ist, bildet noch immer den Mittelpunkt unserer Schulentwicklungsprozesse und unterstützt die Vernetzungen der Schule im Stadtteil. Die Pädagogische Werkstatt als „Thinktank“ hat sich als sehr wichtig erwiesen, damit die Pädagoginnen und Pädagogen die zum Teil radikalen Veränderungsprozesse als selbstbestimmt erleben können. Nicht zuletzt war dabei auch bedeutend, dass die gewonnenen Erkenntnisse in lokale Modelle übersetzt werden, zum Beispiel in das forschende und entdeckende Lernen in Lernwerkstätten in Kitas und Schule.
Am Ende braucht es aber vor allem genügend personelle und sächliche Mittel, damit Schulen ihrem Anspruch, eine lernende Institution zu sein, gerecht werden können. Schule in Eigenverantwortung muss partizipativ ein Profil entwickeln, das sich immer wieder neu an einer sich verändernden Schülerschaft mit ihren unterschiedlichen Bedarfen orientiert.
Schule darf bei den extrem hohen Ansprüchen und Erwartungen, die an sie gerichtet sind, nicht alleingelassen werden. Am Campus Rütli gibt es eine gemeinsame und sichtbare politische Steuerung durch die Senatsverwaltungen und den Bezirk sowie langfristige Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren. So ist es gelungen, schneller zu gemeinsam getragenen und dann auch zügig umgesetzten Lösungen zu kommen.
Brückenbauer schaffen Vertrauen und öffnen Türen
Last, but not least wünsche ich mir für Schulen, die sich in besonders schwierigen Lagen befinden, eine Schirmherrin oder einen Schirmherrn. Für uns ist das Christina Rau, die Frau des ehemaligen Bundespräsidenten. Es gilt Persönlichkeiten zu gewinnen, die Interesse am Gelingen von Schulen haben und die ihr gesellschaftliches Ansehen nutzen, um als Brückenbauer das Vertrauen der Handelnden zu gewinnen, Türen zu öffnen und Wertschätzung auszudrücken, um so eine Kultur des Zusammenwirkens zu entwickeln.
„Kein Kind, kein Jugendlicher darf verloren gehen“ – unter diesem Motto haben wir vor zwölf Jahren am Campus Rütli begonnen, und dieses Motto trägt bis heute. Es ist unser Leitbild, dem sich die Pädagoginnen und Pädagogen am Campus Rütli verpflichtet fühlen. Auch das ist Teil der Antwort.
Zur Person
- Cordula Heckmann leitet die Gemeinschaftsschule Campus Rütli in Berlin Neukölln. Zuvor war sie Schulleiterin der Heine-Realschule, die mit der Rütli-Schule (Hauptschule) in einem Gebäude untergebracht war.
- Im Jahr 2006 richteten sich die Lehrerinnen und Lehrer der Rütli-Schule wegen unhaltbarer Zustände mit einem Brandbrief an die Öffentlichkeit.
- Mit der Fusion der beiden Schulen und der nahegelegenen Grundschule zu einer Gemeinschaftsschule im Jahr 2009/10 übernahm Cordula Heckmann die Leitung und gestaltete dort gemeinsam mit dem Team den Wandel von der Problemschule zu einem Erfolgsmodell.