Expertenstimme

Brandbriefe : Was Schulen in kritischen Lagen wirklich brauchen

In jüngster Zeit gelangen immer wieder Brandbriefe von Schulen an die Öffentlichkeit. Ursache für die Hilferufe seien die veränderten Erwartungen an Schulen in der Gesellschaft, schreibt Cordula Heckmann, Schul­leiterin der Gemein­schafts­schule auf dem Campus Rütli in Berlin. In ihrem Gast­beitrag für das Deutsche Schulportal fordert die Autorin mehr Unter­stützung für Schulen in kritischen Lagen.

Cordula Heckmann
Eine junge Lehrerin liest ihren Schülern aus einem Buch vor
Interkulturalität, Mehrsprachigkeit und Inklusion sind für viele Schulen neue Herausforderungen.
©iStock

Zwölf Jahre nach dem Brandbrief der Rütli-Schule werden immer noch Brandbriefe geschrieben. Woher rührt diese Verzweiflung, die den Brand­briefen zugrunde liegt? Ein Erklärungs­versuch ist, dass Grund­annahmen, die im Wesentlichen seit der Einführung der Schul­pflicht bestanden, zu lange Gültig­keit hatten. Alle Schüler­innen und Schüler haben heute eben nicht mehr den gleichen kulturellen Hinter­grund, und die Haus­aufgaben können eben nicht mehr so gut begleitet werden, wenn beide Eltern berufs­tätig sind. Aus vergangenen Zeiten stammt auch die sehr starke Defizit­orientierung, die Schule in Teilen immer noch prägt.

Diese Defizitorientierung muss aufhören! In einer Schule, in der sich sehr viele verschiedene Lebens­welten, soziale und kulturelle Herkünfte begegnen, muss der Blick auf die Stärken der Schüler­innen und Schüler gerichtet bleiben, ebenso wie auf die der Lehr­kräfte.

Schulen in kritischen Lagen erhalten kaum die Aufmerksamkeit, die sie benötigen

Zurück zu den Brandbriefen: Schulen in kritischer Lage erhalten kaum – oder nicht recht­zeitig genug – die Aufmerk­samkeit und Unter­stützung, die sie benötigen, um das eigene Potenzial zu entfalten. Die Realität ist, dass gesellschaftliche Problem­lagen unmittelbar und gebündelt in Schulen ankommen, und leider sind die Schulen nur selten darauf vorbereitet. Deshalb geschieht es oft, dass die Suche nach den geeigneten Antworten auf Heraus­forderungen wie Inter­kulturalität, Mehr­sprachigkeit, Inklusion und Gewalt häufig erst dann anfängt, wenn die Schülerinnen und Schüler mit ihren sehr unterschiedlichen Bedarfen bereits in den Klassen­räumen sitzen. Im besten Fall beginnt dann eine plan­volle, wenn auch anstrengende Suche nach guten pädagogischen Antworten – bisweilen aber legt sich auch der Mehltau der Resignation über die Schulen.

Im Rückblick auf den zwölfjährigen Veränderungs­prozess, der in der damaligen Rütli-Schule begann und noch nicht abgeschlossen ist, der erfolg­reich, aber niemals leicht oder wider­spruchslos verlaufen ist, können wir uns den Antworten auf die Frage „Was braucht es, Schulen zu ermächtigen, sich mutig und kreativ den multiplen gesellschaftlichen Ansprüchen zu stellen?“ nur annähern.

Zu viele unbesetzte Stellen in Schul­leitungen

Zunächst einmal wird eine Schulleitung benötigt. Das klingt trivial, ist es aber nicht. Das Amt des Schul­leiters oder der Schul­leiterin ist seit Langem nicht mehr attraktiv genug – das sieht man an den vielen unbesetzten Stellen. Dabei darf es nicht nur um eine formale Besetzung der Stelle gehen – das wäre zu wenig! Vonseiten der Politik braucht es das klare Signal: „Wir wissen um die Bedeutung der Rolle der Schul­leitung.“ Und auf der Ebene der Verwaltung braucht es eine kluge Personal­gewinnung und eine wert­schätzende Begleitung in dieses verantwortungs­volle Amt hinein.

Das eben Gesagte gilt gleicher­maßen für die Lehrkräfte, die Pädagoginnen und Pädagogen. Personal­gewinnung und -entwicklung gerade in Zeiten des Lehr­kräfte­mangels ist eine der bedeutsamsten Aufgaben auch von Schul­leitung. Die pädagogische Arbeit ist das Fundament jeder guten Schule.

Radikale Veränderungs­prozesse selbst­bestimmt erleben

Und auch mit einer kompetenten Schulleitung und guten Pädagoginnen und Pädagogen an Bord bleiben die Heraus­forderungen groß. Um ihnen begegnen zu können, ist es wichtig, Schulen durch trag­fähige, stabile und lang­fristige Vor-Ort-Systeme zu unterstützen, wie sie die Rütli-Schule zum Beispiel seit 2007 mit der Pädagogischen Werkstatt hat. Die Begleitung durch die Pädagogische Werkstatt, die mit personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet ist, bildet noch immer den Mittel­punkt unserer Schul­entwicklungs­prozesse und unter­stützt die Vernetzungen der Schule im Stadt­teil. Die Pädagogische Werkstatt als „Thinktank“ hat sich als sehr wichtig erwiesen, damit die Pädagoginnen und Pädagogen die zum Teil radikalen Veränderungs­prozesse als selbst­bestimmt erleben können. Nicht zuletzt war dabei auch bedeutend, dass die gewonnenen Erkenntnisse in lokale Modelle über­setzt werden, zum Beispiel in das forschende und entdeckende Lernen in Lern­werk­stätten in Kitas und Schule.

Am Ende braucht es aber vor allem genügend personelle und sächliche Mittel, damit Schulen ihrem Anspruch, eine lernende Institution zu sein, gerecht werden können. Schule in Eigen­verantwortung muss partizipativ ein Profil entwickeln, das sich immer wieder neu an einer sich verändernden Schüler­schaft mit ihren unter­schiedlichen Bedarfen orientiert.

Schule darf bei den extrem hohen Ansprüchen und Erwartungen, die an sie gerichtet sind, nicht allein­gelassen werden. Am Campus Rütli gibt es eine gemeinsame und sichtbare politische Steuerung durch die Senats­verwaltungen und den Bezirk sowie lang­fristige Kooperationen mit zivil­gesellschaftlichen Akteuren. So ist es gelungen, schneller zu gemeinsam getragenen und dann auch zügig umgesetzten Lösungen zu kommen.

Brückenbauer schaffen Vertrauen und öffnen Türen

Last, but not least wünsche ich mir für Schulen, die sich in besonders schwierigen Lagen befinden, eine Schirm­herrin oder einen Schirm­herrn. Für uns ist das Christina Rau, die Frau des ehemaligen Bundes­präsidenten. Es gilt Persönlich­keiten zu gewinnen, die Interesse am Gelingen von Schulen haben und die ihr gesell­schaftliches Ansehen nutzen, um als Brücken­bauer das Vertrauen der Handelnden zu gewinnen, Türen zu öffnen und Wert­schätzung auszudrücken, um so eine Kultur des Zusammen­wirkens zu entwickeln.

„Kein Kind, kein Jugendlicher darf verloren gehen“ – unter diesem Motto haben wir vor zwölf Jahren am Campus Rütli begonnen, und dieses Motto trägt bis heute. Es ist unser Leit­bild, dem sich die Pädagog­innen und Pädagogen am Campus Rütli verpflichtet fühlen. Auch das ist Teil der Antwort.

Zur Person

  • Cordula Heckmann leitet die Gemeinschafts­schule Campus Rütli in Berlin Neukölln. Zuvor war sie Schul­leiterin der Heine-Real­schule, die mit der Rütli-Schule (Haupt­schule) in einem Gebäude unter­gebracht war.
  • Im Jahr 2006 richteten sich die Lehrerinnen und Lehrer der Rütli-Schule wegen unhaltbarer Zustände mit einem Brand­brief an die Öffentlichkeit.
  • Mit der Fusion der beiden Schulen und der nahe­gelegenen Grund­schule zu einer Gemeinschafts­schule im Jahr 2009/10 übernahm Cordula Heckmann die Leitung und gestaltete dort gemeinsam mit dem Team den Wandel von der Problem­schule zu einem Erfolgs­modell.