Expertenstimme

Appell : Bildungsföderalismus in Zeiten der Corona-Pandemie

Die anfängliche Harmonie unter den Ländern im Umgang mit der Corona-Pandemie ist vorbei, dabei wäre gerade jetzt ein abgestimmtes Vorgehen geboten, schreiben Michael Voges und Burkhard Jungkamp in ihrem Gastbeitrag für das Schulportal. Wann sollte Präsenzunterricht der Regelfall sein, wann hingegen Präsenz- und Fernunterricht kombiniert werden, wann muss Fernunterricht der Regelfall sein? Die beiden Staatssekretäre a. D. appellieren eindringlich an die Kultusministerien, sich auf eine klare Linie zu verständigen, wann welches Szenario greift und wie die Umsetzung aussehen soll.

Burkhard Jungkamp und Michael Voges
Wann sollte Präsenzunterricht der Regelfall sein, wann hingegen Präsenz- und Fernunterricht kombiniert werden, wann muss Fernunterricht der Regelfall sein? Die Länder sollten sich abstimmen, wann welches Szenario gilt, schreiben Jungkamp und Voges.
©Robert Michael/dpa

Im März 2020, als die Corona-Pandemie auch das Schulsystem voll erfasst hatte, als die Klassenzimmer leer waren, auf den Fluren Stille herrschte, weil der Schule eine Zwangspause verordnet worden war, bewiesen die Schulministerinnen und Schulminister der Länder, dass sie sich in Grundsätzen einig und in der Lage waren, schnell und entschlossen zu entscheiden. So wurde Schleswig-Holsteins Vorstoß, unter den beschwerlichen Umständen geschlossener Schulen auf die Durchführung der Abiturprüfungen zu verzichten, von der Kultusministerkonferenz (KMK) im Schnellverfahren kurzerhand unterbunden. Derartige Alleingänge, die die eh schon geringe Vergleichbarkeit der Abiturnoten weiter infrage stellten, wollte man nicht dulden.

Auch im April 2020, als die Infektionstätigkeit weniger hoch war als befürchtet, erfüllte die KMK den Auftrag der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder, ein Konzept für eine schrittweise Öffnung der Schulen vorzulegen, binnen 14 Tagen. Das „Rahmenkonzept für die Wiederaufnahme von Unterricht in Schulen“, obgleich mit heißer Nadel gestrickt, weist den Ländern den Weg. Begonnen werden solle mit den Abschlussklassen dieses Schuljahres. Über die Ausweitung auf weitere Klassenstufen sei auf der Basis des jeweiligen Infektionsgeschehens zu entscheiden. Ziel sei es, dass jede Schülerin, jeder Schüler bis zum Beginn der Sommerferien tage- oder wochenweise die Schule besuchen können – was immer das konkret bedeuten mag. Ein uneingeschränkt regulärer Schulbetrieb werde, so die damalige Prognose, in diesem Schuljahr wohl nicht mehr möglich sein. Schließlich genieße der Infektions- und der Gesundheitsschutz aller schulischen Akteure höchste Priorität.

Nun aber, im Mai 2020, werden Rufe nach einem Ende der pandemiebedingten Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens zunehmend lauter. Einige Länder beschließen die vollständige Öffnung der Grundschulen noch vor den Sommerferien, begründen das mit einer sehr kleinen Zahl an Neuinfektionen oder einer nur geringen Rolle von Kindern im Infektionsgeschehen. Andere halten das schlechthin für puren Leichtsinn. Die anfängliche Harmonie unter den Ländern ist dahin – es herrscht Uneinigkeit über den Umgang mit dem SARS-CoV-2-Virus. Dabei wäre gerade hier ein abgestimmtes Vorgehen dringend erforderlich.

Die Kultusministerkonferenz sollte eine Begleitstudie durchführen lassen

Zugegeben, das Infektionsgeschehen kann sich regional so unterschiedlich entwickeln, dass bundesweit einheitliche Regelungen keinen Sinn mehr machen. Möglicherweise müssen hier Schulen geschlossen werden, während sie dort geöffnet bleiben können. Wichtig wäre jedoch die Verständigung der Länder darüber, unter welchen Umständen welche Szenarien greifen sollten. Wann sollte Präsenzunterricht der Regelfall sein, wann hingegen Präsenz- und Fernunterricht kombiniert werden, wann muss Fernunterricht der Regelfall sein? Und weil noch nicht geklärt ist, welche Rolle Kinder und Jugendliche, welche Rolle Schulschließungen im Infektionsgeschehen tatsächlich spielen, sollte die KMK entsprechende wissenschaftliche Begleitstudien durchführen lassen und die Ergebnisse gemeinsam auswerten. Wenn jedes Land eigene Untersuchungen in Auftrag gibt, entsteht rasch der Eindruck bestellter Gutachten, mit denen beabsichtigte Entscheidungen legitimiert werden sollen.

Wenn jedes Land eigene Untersuchungen in Auftrag gibt, entsteht rasch der Eindruck bestellter Gutachten, mit denen beabsichtigte Entscheidungen legitimiert werden sollen.

Gegenwärtig kann niemand vorhersagen, wie sich die Zahl der Neuinfektionen in den nächsten Monaten entwickeln, ob es gar zu einer zweiten Welle kommen wird. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine Rückkehr zur Normalität im Schuljahr 2020/21 nicht, nicht überall oder nur vorübergehend möglich sein wird. Darum sollten die Planungen davon ausgehen, dass Einschränkungen des schulischen Präsenzunterrichts erforderlich bleiben oder jederzeit wieder erforderlich werden können. „Vorbereitet sein“ ist das Gebot der Stunde.

Lehr- und Lerninhalte des neuen Schuljahres gemeinsam absprechen

Aufgabe der Länder ist es, den Schulen Orientierung zu bieten und sie zu unterstützen in einer Situation, in der die organisatorische und inhaltliche Gestaltung des neuen Schuljahres so schwierig ist wie kaum je zuvor. Auch hier sind Absprachen in der KMK erforderlich: Welche Fächer sind im Falle weiterer Einschränkungen in welchem Umfang zu unterrichten? Welche Lehr- und Lerninhalte sind weiterhin obligatorisch, worauf kann verzichtet werden? Wie sollen Leistungen festgestellt, wie bewertet werden? Was bedeutet das für die Abschlussprüfungen? Welche Regelungen sollen für die Versetzungen bzw. Nichtversetzungen gelten? Welche Personen dürfen nicht für den Präsenzunterricht, welche hingegen als zusätzliches pädagogisches Personal für den Fernunterricht eingesetzt werden? Welche Mindestanforderungen müssen erfüllt sein, damit das häusliche Lernen als „Fernunterricht“ anerkannt werden kann?

Zudem sollten die Länder Mindeststandards für die pädagogisch reflektierte Nutzung digitaler Technologien festsetzen und flächendeckend Angebote einer entsprechenden Qualifizierung unterbreiten.

Zudem sollten die Länder Mindeststandards für die pädagogisch reflektierte Nutzung digitaler Technologien festsetzen und flächendeckend Angebote einer entsprechenden Qualifizierung unterbreiten.  Wenn der Fernunterricht weitgehend digital erfolgt, muss der Schulträger, gegebenenfalls durch die Bereitstellung entsprechender Hard- und Software, Sorge dafür tragen, dass alle Schülerinnen und Schüler über dieselben Arbeitsvoraussetzungen verfügen. Anders gesagt: Schülerinnen und Schüler ohne Zugriffsmöglichkeiten auf häusliche Computer, Laptops, Tablets oder Smartphones sollten, möglichst zu Beginn des Schuljahres, leihweise mit digitalen Endgeräten ausgestattet werden. Unverzichtbar ist daher die bedarfsgerechte Ausstattung der Schulen mit Endgeräten. Dafür sollte der Abfluss der Mittel des Digitalpaktes beschleunigt und das 500-Mio.-Euro-Bundesprogramm kurzfristig genutzt werden. Innerhalb der KMK sollte Einvernehmen hergestellt werden, ob digitale Endgeräte als berufliche Grundausstattung anerkannt und Lehrerinnen und Lehrer bereitgestellt und die Lernmittelfreiheit auch auf digitale Endgeräte für Schülerinnen und Schüler angewendet werden muss. Bund, Länder und Kommunen sollten sich schnellstmöglich auf eine dauerhafte Förderung der digitalen Bildung in der Schule verständigen.

Die Gestaltung des Unterrichts, ob als Präsenz- oder Fernunterricht oder als Kombination aus beiden angelegt, bleibt auch in Pandemie-Zeiten originäre Aufgabe der Schule. Das folgt aus dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag nach Art. 7 Abs.1 GG. Wesentliche Bestandteile dieses Auftrags auf die Eltern zu übertragen darf nicht sein. Ebenso wenig dürfen Schülerinnen und Schüler nach diesem Bildungs- und Erziehungsauftrag in Verbindung mit dem Grundsatz der Chancengleichheit aufgrund ihrer familiären Herkunft benachteiligt werden. Auch darum brauchen wir gerade jetzt einheitliche, stabile und verlässliche Rahmenbedingungen für die schulische Bildung, die in allen Ländern gültig sind. Wenn das gelingt, könnte am Ende sogar der Föderalismus als ein Gewinner aus der Krise hervorgehen.

Zur Person

Burkhard Jungkamp unterrichtete als Lehrer für die Fächer Deutsch, Mathematik und politische Wissenschaften von 1985 bis 1998 an verschiedenen Gymnasien in Nordrhein-Westfalen. Nach Stationen in Münster als Leiter des Wilhelm-Hittorf-Gymnasiums und im nordrhein-westfälischen Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung in verschiedenen Positionen war Burkhard Jungkamp von 2005 bis 2014 Staatssekretär im brandenburgischen Ministerium für Bildung, Jugend und Sport unter Ministerin Martina Münch (SPD). Er moderierte die Expertenkommission der Friedrich-Ebert-Stiftung, die am 28. Mai Handlungsempfehlungen für das Schuljahr 2020/21 unter dem Titel „Schule in Zeiten der Pandemie“ veröffentlicht hat.

Michael Voges (SPD) wurde 2006 zum Staatsrat der Hamburger Behörde für Bildung und Sport ernannt. Zwei Jahre später wechselte er zur Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz. Dort war Voges für Soziales, Verbraucherschutz und Verwaltung zuständig. In dieser Position trieb er den Ausbau der Kindertagesbetreuung in der Hansestadt maßgeblich voran. Ab 2010 war Voges Staatsrat der Behörde für Schule und Berufsbildung – bis Ende 2016. Dann verabschiedete der ehemalige Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz den damals dienstältesten Staatsrat in den Ruhestand.