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Kernroutine : Eine Strategie zur Sicherung der Basiskompetenzen

Basiskompetenzen bilden das Fundament des Lernens. Nur wenn Schüler:innen darüber verfügen, können sie auch die Mindeststandards erreichen. Aber wie schaffen es Schulen, dieses Minimum an Grundbildung allen Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrer Herkunft und Lernausgangslage zu vermitteln? Die Bildungswissenschaftlerinnen Anne Sliwka und Britta Klopsch haben geschaut, wie andere Länder diese Herausforderung bewältigen, und in Kanada eine „Kernroutine“ kennengelernt. In ihrem Gastbeitrag beschreiben sie die fünf Schritte dieses Prozesses.

Lehrerinnen im Gespräch. Austausch ist wichtig bei der Kernroutine
Austausch im Kollegium ist wichtiger Bestandteil der Kernroutine.
©iStock

Als absolutes Bildungsminimum gelten im internationalen Fachdiskurs die Mindeststandards (Kompetenzstufe II in PISA) in den Basiskompetenzen Literacy und Numeracy, d. h. im Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Basiskompetenzen bilden das Fundament des Lernens und sind die Verstehensgrundlage für alle darauf aufbauenden Lernprozesse. Ein fehlendes Grundverständnis für Zahlen, Mengen und Relationen führt beispielsweise zu Schwierigkeiten bei der Erfassung komplexer Prozesse und beim Treffen wichtiger Alltagsentscheidungen. Erst wenn ein Minimum an Grundbildung gesichert ist, können darauf aufbauend komplexe Lernsettings gestaltet werden, die Schüler:innen die weitreichenden fachlichen und überfachlichen Kompetenzen vermitteln, die sie zur erfolgreichen Bewältigung der Lebensrealität des 21. Jahrhunderts benötigen.

Ein Fünftel der Schüler:innen verfehlt Mindeststandards

Bisher kommt das deutsche Schulsystem seiner Aufgabe, wenigstens das Bildungsminimum für alle Schüler:innen zu garantieren, nur unzureichend nach, wie die PISA-Studie für Sekundarschulen, die IGLU-Studie für Grundschulen oder auch der IQB-Bildungstrend bereits seit zwei Jahrzehnten belegen: Rund ein Fünftel der Lernenden erreicht die Mindestkompetenzstandards nicht. Lernende mit sozioökonomisch benachteiligter Herkunft, die Schulen in sozial deprivierten Lagen besuchen, sind besonders gefährdet.

Schüler:innen, die die Mindestkompetenzstandards nicht erreichen, werden in Kanada als „underserved“ bezeichnet. Dies bedeutet, dass das reguläre Lernangebot ihren Bedürfnissen nicht gerecht wird und die Gefahr negativ verlaufender Bildungsbiografien ohne gezielte Intervention hoch ist. Auch in Deutschland gibt es diese Gruppe der „underserved“ Lernenden, die stetig wächst. Betrachten wir exemplarisch die Lesekompetenz in Klasse 4: Lasen 2001 noch Kinder aus vier europäischen Staaten insgesamt signifikant besser als Kinder in Deutschland, so sind es 2016 bereits Kinder aus 16 europäischen Staaten. In keinem anderen Land ist der Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Hintergrund der Familie und Lesekompetenz so hoch wie in Deutschland. Dieses Problem gilt es schnellstmöglich zu beheben.

Durch gleiche Behandlung aller wird Ungleichheit reproduziert

Um alle Heranwachsenden so zu unterstützen, dass sie das in Mindestkompetenzstandards dargelegte Bildungsminimum unabhängig von ihrer Herkunft und Lernausgangslage erreichen können, muss das Problem der deutschen Bildungssysteme, durch gleiche Behandlung aller Ungleichheit zu reproduzieren, aufgebrochen werden. Das Ziel ist ein teilhabegerechtes Bildungssystem. Die Unterscheidung von Gleichbehandlung (engl. equality), im deutschen Diskurs oft als Chancengleichheit bezeichnet, und Chancengerechtigkeit bzw. Teilhabegerechtigkeit (engl. equity) lässt sich an einem Bild eindrücklich verdeutlichen:

©Christina Al Khalil / Anne Sliwka

Gleichbehandlung bedeutet im schulischen Kontext, dass für jede:n Lernende:n einer Altersstufe die gleichen Ressourcen aufgewendet bzw. die vermeintlich gleichen Ausgangsbedingungen geschaffen werden, ohne die individuellen Lernausgangslagen zu berücksichtigen. Teilhabegerechtigkeit erfordert hingegen eine Zuweisung von Ressourcen, die sich passgenau an individuellen Lernausgangslagen und strategischen Zielen ausrichtet.

Das Ziel ist der gesicherte Erwerb der Basiskompetenzen – unabhängig von Herkunft und Lernausgangslage.

Konkret bedeutet dies: Das Ziel ist der gesicherte Erwerb der Basiskompetenzen unabhängig von Herkunft und Lernausgangslage. Erst wenn alle am Ende ihrer schulischen Laufbahn herkunfts- und begabungsunabhängig die Kompetenzschwellen erreichen, die sie für das Führen eines selbstbestimmten Lebens sowie für die aktive ökonomische, politische und kulturelle Partizipation an der Gesellschaft benötigen, kann das Schulsystem als gerecht gelten.

Fehlende Passung zwischen schulischem Lernangebot und Entwicklung der Schüler:innen

Eine systemisch angelegte Teilhabegerechtigkeit impliziert, dass Bemühungen nicht vereinzelt und isoliert stattfinden, sondern dass der Staat gezielt und koordiniert Strategien einsetzt, die sicherstellen, dass alle das Bildungsniveau erreichen, das als Minimalvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe gilt. Daseinsvorsorge im Bereich der Grundbildung bedeutet folglich, dass der Staat ein adaptiv handelndes Schulsystem gewährleistet und mit Blick auf Hardware, Software und Personal so ausstattet, dass es durch Datenverfügbarkeit, datengestütztes Entscheidungshandeln, verbindliche Arbeitsprozesse und adaptive Zuweisung von Ressourcen Lernbedarfe fortlaufend diagnostizieren und darauf angemessen reagieren kann.

Die hohe Anzahl von „underserved“-Schüler:innen in Deutschland ist unter anderem auf die fehlende Passung zwischen dem schulischen Lernangebot und der individuellen Entwicklung der Lernenden zurückzuführen. Um ausnahmslos alle Heranwachsenden so zu unterstützen, dass sie die Mindestkompetenzstandards erreichen können, müssen individuelle Lernbedarfe systematisch diagnostiziert und zielgerichtet gefördert werden. Wie dies gelingen kann, zeigt die strategische Kernroutine zur Sicherung der Basiskompetenzen, welche aus mehreren eng miteinander verzahnten Schritten besteht:

©Christina Al Khalil / Anne Sliwka

Die Kernroutine wurde basierend auf international erfolgreichen Best-Practice-Ansätzen entwickelt, insbesondere aus dem in Alberta praktizierten Modell zur Förderung von Literacy (Deutsch) und Numeracy (Mathematik), welches eine systematische digitale Lernstandsdiagnostik mit zielgenauen Interventionen verbindet.

Erster Schritt: Lernausgangslage erheben

Der erste Schritt der Kernroutine ist die Erhebung der Lernausgangslage der Kinder zu Beginn des Schuljahres. Die Lernausgangslage lässt sich mit einem digitalen Assessment, also einem computergestützten adaptiven Diagnoseverfahren zur Einschätzung des individuellen Lernstands und Förderbedarfs der lernenden Person erfassen. Wenn eine solche Software zur Verfügung steht, kann sie auch im Laufe des Schuljahres für diagnostische Prozesse verwendet werden.

Die Daten werden dabei von der Software analysiert und für Lehrkräfte übersichtlich und gut nutzbar aufbereitet. Digitalisierte Lernstandserhebungen bieten neben der Diagnostik weitere Unterstützung: Beispielsweise kann die Software Aufgaben und Lernmaterialien, die in ihrem Schwierigkeitsgrad variieren, in Form intelligenter tutorieller Systeme zur Verfügung stellen. Außerdem ermöglicht sie die durch künstliche Intelligenz gestützte Auslagerung des Korrigierens, sodass Lehrkräfte ihre Zeit statt in Korrektur in individuelle Förderung investieren können.

Zweiter Schritt: Analyse der Daten im Team

Der zweite Schritt der Kernroutine ist die gemeinsame Interpretation und Analyse der gewonnenen Informationen durch Lehrkräfte. Die Lehrkräfte treffen auf der Basis der Lernstandsdiagnostik gemeinsam mit Kolleg:innen evidenzinformierte Entscheidungen zur Förderung der Lernenden. Sie arbeiten dazu ko-konstruktiv in Teams, die bei Bedarf durch multiprofessionelles Personal unterstützt werden. Alle Entscheidungen werden für alle Beteiligten transparent, digital einsehbar und datenschutzkonform gestaltet. Voraussetzung dafür ist die Einführung von anonymisierten Schüler-Identifikationsnummern, wie sie in vielen Ländern international bereits existieren.

Dritter Schritt: Einbeziehung der Eltern

Die geplanten Fördermaßnahmen besprechen die Lehrkräfte im dritten Schritt auf der Grundlage einer Infographik und eines professionellen Gesprächsprotokolls mit den Eltern. Auf diese Weise stellen sie sicher, dass die Eltern alle erforderlichen Informationen und Hilfestellungen für die Unterstützung ihrer Kinder erhalten. Das Gespräch endet mit einer schriftlichen Zielvereinbarung, bei der beide Seiten festhalten, wie sie sich gemeinsam – je nach Möglichkeit und Kapazitäten – um den Lernfortschritt der Kinder kümmern werden. Eine enge Kooperation zwischen Schule und Eltern ist wichtig, da das Engagement der Eltern einen großen Einfluss auf den Bildungserfolg hat und Eltern Informationen benötigen, um in eine positive, den Erfolg des Kindes fördernde Partnerschaft mit der Schule einzutreten.

Vierter Schritt: Fördermaßnahmen planen

Der vierte Schritt der Kernroutine markiert den Übergang von der Erhebung und Planung zur Intervention. Ziel ist es, das individuelle Lernen bestmöglich zu fördern. Dazu gibt es international unterschiedliche Organisationsmodelle: Mit Zusatzpersonal können Lernende, bei denen ähnliche Förderbedarfe diagnostiziert wurden, in passgenauen Gruppen während oder zusätzlich zum Unterricht gefördert werden. Genauso ist es möglich, einen Teil oder die Gesamtheit des Unterrichts in Deutsch und Mathematik in ein Lernband zu legen und nach dem pädagogischen Ansatz der flexiblen Gruppenbildung Schüler:innen von Woche zu Woche jeweils adaptiv nach ihrer Lernentwicklung bestimmten Lehrkräften zuzuweisen, die sie passgenau fördern.

Fünfter Schritt: Lernentwicklung in den Vordergrund stellen

Im letzten Schritt der Kernroutine geht es um den Umgang mit Lernentwicklung und Leistungsbewertung. In der Vergangenheit erfolgte die Leistungsbewertung an staatlichen Schulen häufig summativ mithilfe der sozialen Bezugsnorm, d. h. die Lernenden einer Klasse wurden miteinander verglichen und die Noten entsprechend vergeben. Diese Bewertungspraxis ist aufgrund der unterschiedlichen Lernvoraussetzungen ungerecht und führte bei vielen Schüler:innen zu einer Verfestigung eines negativen Selbstkonzepts und einem nachhaltigen Motivationsverlust.

Lernförderlich ist die Kombination einer Orientierung an der kriterialen Bezugsnorm, die klare (Mindest)anforderungen definiert, mit Feedback zur individuellen Lernentwicklung. Dabei erhalten die Schüler:innen im Rahmen formativer Rückmeldung Informationen darüber, wo sie aktuell im Lernprozess stehen und welche nächsten Schritte sie mit Unterstützung der Lehrkräfte ganz konkret unternehmen können, um bestimmte Bildungsziele zu erreichen.

Rückmeldungen sind dabei nicht als abschließende Bewertung zu verstehen, sondern fortlaufend im Zuge einer prozessorientierten Leistungsverbesserung. Von einer solchen Haltung profitieren nicht nur die Schüler:innen, die Lernschwierigkeiten haben, sondern auch diejenigen, die sich weit über die Mindeststandards hinaus entwickeln.

Kernroutine fördert Erreichen von Mindeststandards

Wenn diese Kernroutine umgesetzt wird, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass alle Schüler:innen die Mindeststandards in den Basiskompetenzen erreichen, erheblich, wie nicht nur Ergebnisse aus Kanada, sondern auch allgemeine Befunde der Lehr-Lernforschung zeigen. Durch die Einführung der strategischen Kernroutine an Schulen würden alle Schüler:innen – unabhängig von Herkunft und Begabung – adaptiv und passgenau bis zum Erreichen der Mindeststandards in den Basiskompetenzen (und darüber hinaus) gefördert. Das wäre ein Beitrag zu einer gerechteren Gesellschaft, in der alle Bürger:innen befähigt werden, am ökonomischen, politischen und kulturellen Leben teilzunehmen.

  • Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung eines Artikels von Anne Sliwka und Britta Klopsch, der zuerst im „Handbuch Daseinsvorsorge. Ein Überblick aus Forschung und Praxis“, hrsg. v. Claudia Neu (2022), VKU-Verlag erschienen ist (S. 116–125).

Zur Person

  • Anne Sliwka ist Professorin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg. Sie forscht über Schul- und Schulsystementwicklung sowie Lehrerprofessionalität in international vergleichender Perspektive. Sie ist im wissenschaftlichen Beirat des Kultusministeriums in Baden-Württemberg und gehört zur Jury des Deutschen Schulpreises.
  • Britta Klopsch ist ausgebildete Lehrerin und Juniorprofessorin am Zentrum für Lehrerbildung (ZLB) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Professionalisierung von Lehrkräften und die (kulturell-ästhetische) Schulentwicklung.