Diskussion

Didaktik : Der „Matheschmerz“ – weshalb die Lernkultur in Mathematik einer Reform bedarf

Über Matheunterricht wird oft kontrovers diskutiert. Viele Schülerinnen und Schüler scheitern schon in unteren Klassenstufen an dem Fach. Pädagoginnen und Pädagogen aus Wissenschaft und Praxis suchen nach Ursachen, wieso Mathematik vielen Probleme bereitet und häufig Frustration auslöst. Dabei werden Gründe mitunter auch außerhalb des Unterrichts ausgemacht. Der Mathematiklehrer Michael Felten hat kürzlich in einem Gastbeitrag auf dem Schulportal die These aufgestellt: „Je verwöhnter ein Kind ist, desto schwerer wird es sich deshalb damit tun, die geistige Aktivität für das Mathelernen aufzubringen.“ Der Gastbeitrag hat eine heftige Diskussion ausgelöst. Der Lehrer und Dozent für Didaktik Philippe Wampfler hält nun dagegen.

Matheunterricht Kind löst Aufgabenblatt
Mathematik wird zu sehr auf Aufgaben reduziert, deren Bearbeitung in einer Musterlösung festgelegt ist, kritisiert unser Gastautor.
©Soeren Stache/dpa

Mathe-Videos auf Youtube haben Konjunktur. „Wo ein Erlöser ist, gibt es offenbar ein Leiden“, heißt eine Kapitelüberschrift im Buch des Mathe-Youtubers Daniel Jung. Jung führt die fast religiöse Verehrung, die ihm in Kommentaren entgegengebracht wird, auf einen „Matheschmerz“ zurück. Mathematikunterricht führe bei Schülerinnen und Schülern zu Frustration, Versagenserfahrungen und Ängsten. Wenn ihnen ein sympathischer Mensch im Internet Mathematik verständlich und nett erklärt, sei das im Vergleich mit ihren Erfahrungen im Mathematikunterricht bereits eine positive Erfahrung.

Leider sind diese Videos noch immer weit von dem entfernt, was mathematisches Denken sein könnte. Mathematik ist die Kunst der Abstraktion; ein Verfahren, reale Probleme systematisch und methodisch zu bearbeiten. Dieses Ideal teilen alle, die Mathematik mögen – auch viele Lehrkräfte, die Mathematik unterrichten.

Freude am Umgang mit der Mathematik hat im Unterricht wenig Raum

In der Praxis hat sich aber eine Aufgabenkultur etabliert, die weit von diesem Ideal entfernt ist. Schülerinnen und Schüler werden durch Rechnen in die Mathematik eingeführt. Sie erleben Mathematik als mechanisches Handwerk, eingegrenzt auf richtige und falsche Lösungen. Was als Üben von grundlegenden Verfahren eine Berechtigung hat, dominiert die Auseinandersetzung mit Mathematik. Denkbewegungen, Probleme, forschende Beobachtungen, Bezüge zur Umwelt und Freude am Umgang mit Mathematik haben zu wenig Raum. Auch wenn die mathematischen Werkzeuge, die Lernenden zur Verfügung stehen, vielfältiger werden – in der Schule werden sie häufig nur eingesetzt, um Aufgaben zu bearbeiten, die dann entweder richtig oder falsch gelöst sind.

Diese Aufgabenkultur ist Teil einer problematischen Lernkultur. Sie führt zu schlechten Noten, orientiert sich an Defiziten, steigert die Frustration und senkt die Motivation. Manche Pädagoginnen und Pädagogen sehen häufig über die Defizite der Aufgaben- und Lernkultur hinweg und verlagern die Probleme stattdessen in den Bereich der Lernenden. So vertritt beispielsweise Michael Felten die These, dass Schülerinnen und Schüler seelisch von ihren Eltern zu sehr verwöhnt würden und daher zu „verzärtelt“ seien für die harte Schule des Mathematikunterrichts.

Lernende (oder ihre Eltern) dafür verantwortlich zu machen, dass Unterricht nicht funktioniert, ist eine didaktische Ausrede. Eine sehr schlechte Ausrede. Denn wer didaktisch reflektiert agiert, fragt sich, wo die Gründe dafür liegen, dass Mathematik bei Schülerinnen und Schülern als Fach unbeliebt ist und immer mehr von ihnen auf Youtube-Tutorials zurückgreifen, die schrecklich langweilige Rezeptmathematik vorführen.

Matheunterricht orientiert sich an Prüfungsaufgaben, für die die Musterlösung schon feststeht

Die Gründe liegen in der Lern- und Prüfungskultur. Statt Lernenden Mut zu machen, ihre Überlegungen zu formulieren, mathematische Verfahren eigenständig zu entdecken und immer wieder kleine Erfolge zu feiern, orientiert sich Matheunterricht zu stark an Prüfungsaufgaben, deren richtige Bearbeitung in einer Musterlösung bereits festgelegt ist. Programmiert ist eine Überforderung von Kindern und Jugendlichen, eingeplant sind ihre Frustration und ihr Scheitern – das ihnen dann aus der Perspektive von Lehrkräften wieder angelastet wird. Der Verweis darauf, dass Mathematik halt komplex sei und viele Methoden auf anderen aufbauen, ist keine Erklärung für die bestehenden Probleme. Mathematik bietet immer wieder frische Zugänge und innovative Werkzeuge, die sich ohne spezifisches Vorwissen erschließen lassen.

Wenn das beste Gefühl im Matheunterricht ist, mit einem Youtube-Video endlich verstanden zu haben, was bei der nächsten Prüfung erwartet wird, kann sich Kompetenzerleben nicht einstellen.

Gleichwohl ist aber die Vorstellung, Kinder würden Mathematik nur über Härte, Leiden und Herabsetzungen lernen, immer noch verbreitet. Feltens Vorwurf an Eltern, Kinder so stark zu verwöhnen, dass sie schlecht Mathematik lernen, drückt genau diese Haltung aus. Sie führt zu einer Herangehensweise, die Mathematik als Herausforderung gestaltet, an der zu viele Menschen scheitern müssen. So ergibt sich ein Zirkel: Sinnlose Anforderungen werden mit der Inkompetenz von Schülerinnen und Schülern begründet, die sich gerade (und nur) in diesen Anforderungen zeigt – und scheinbar nur durch eine Weiterführung dieser Überforderung behoben werden kann.

Dabei gibt es vielfältige Ansätze in der Mathematikdidaktik, die Vorstellungskraft von Lernenden zu fördern, ihnen unterschiedliche Zugänge zu Problemen anzubieten, echtes mathematisches Denken zu fördern, statt mechanisch rechnen zu lassen. Ein Beispiel dafür ist das dialogische Lernen, bei dem das Können der Schülerinnen und Schüler und gemeinschaftliche Lernerlebnisse in den Vordergrund gerückt werden.

Mathematik wird oft als Selektionsfach eingesetzt

Solche Ansätze setzen sich nicht durch, weil Mathematik als Selektionsfach eingesetzt wird, auch an Unis. Mathematik muss – in der Logik des Systems – Scheitern produzieren.

Der „Matheschmerz“ ist gewollt. Mathelehrerinnen und Mathelehrer übernehmen eine Aufgabe, die sie verweigern sollten. Sie gehen mit Klassen Stoff und Aufgaben durch, die mathematisches Denken erschweren, statt dazu einzuladen. Lehrende sollten Lernende bei dem fördern, was sie können, ihnen helfen, Kompetenz zu erleben. Wenn das beste Gefühl im Matheunterricht ist, mit einem Youtube-Video endlich verstanden zu haben, was bei der nächsten Prüfung erwartet wird, kann sich dieses Kompetenzerleben nicht einstellen.

Im Hintergrund lauert noch ein weiteres Problem: Die Frage, welche mathematischen Wissensbestände für Studium und Beruf wirklich relevant sind, müsste dringend sachlich geklärt werden. Die Verwendung von digitalen Werkzeugen macht etwa Berechnungen im Arbeitsalltag obsolet – heute rechnen Maschinen. Viele mathematische Verfahren, die im Unterricht einen festen Platz haben, nutzen selbst Ingenieurinnen und Ingenieure im Berufsalltag nicht mehr. Gleichzeitig ist mathematisches Verständnis wichtiger denn je: Ein kompetenter Umgang mit Daten und Wahrscheinlichkeiten ist ohne Mathe nicht denkbar. Sinnvolle Mathedidaktik kann entstehen, wenn die Diskrepanz zwischen Stoffplänen und relevanter Mathematik verkleinert wird – und das Fach davon entlastet wird, für Selektion und schlechte Noten missbraucht zu werden. Lehrkräfte können einen Anfang machen, indem sie Aufgaben durch mathematisches Denken ersetzen und Lernende Kompetenz erleben lassen.

Zur Person

  • Philippe Wampfler ist Lehrer an der Kantonsschule Enge in Zürich und Dozent für Deutschdidaktik an der Universität Zürich.
  • Er publiziert zu allen Aspekten der digitalen Transformation der Bildung, auch in seinem Blog „Schule Social Media“ sowie auf seinem Youtube-Kanal #digifernunterricht.
  • Zusammen mit Dejan Mihajlović und weiteren Autoren hat Wampfler das Buch „Routenplaner #digitaleBildung“ verfasst. 2021 ist von ihm gemeinsam mit Axel Krommer und Wanda Klee das Buch „Hybrides Lernen. Zur Theorie und Praxis von Präsenz- und Distanzlernen“ (Beltz) erschienen.