Diskussion

Nach dem Abitur : „In der Oberstufe ist wenig Platz für Kompetenzen über das Fachliche hinaus“

Die Abiturprüfungen sind fast überall abgeschlossen. Was nehmen die Abiturientinnen und Abiturienten aus der Schulzeit mit? Was hätten sie sich in der Oberstufe anders gewünscht? Welche Kompetenzen brauchen sie für ihre Zukunft? Das Schulportal hat mit vier Abiturientinnen und Abiturienten aus verschiedenen Bundesländern gesprochen. Rebecca Jäger hat ihr Abitur an einer integrierten Gesamtschule in Braunschweig abgelegt, Antonia Scholten hat ein humanistisches Gymnasium in Berlin besucht. Laurenz Dulig hat sein Abitur an einem Gymnasium in Dresden gemacht, und Felix Traxinger war an einem Gymnasium in Waldkirchen im Bayerischen Wald.

Deutsches Schulportal: Ihr habt gerade die Abiturprüfungen hinter euch. Was ist das für ein Gefühl?
Felix: Befreiend! Jetzt hat man zwölf Jahre lang gelernt – und nun nie wieder Mathe, nie wieder Deutsch, das werde ich genießen.
Antonia: Ich bin ziemlich froh, dass die Schulzeit vorbei ist. Nach zwölf Jahren – beziehungsweise bei mir nach 13 Jahren, weil ich noch ein Jahr im Ausland war – ist es jetzt genug, und es wird Zeit für etwas Neues. Manche Leute haben da ein Gefühl der Leere – das geht mir allerdings nicht so.
Laurenz: Irgendwie hängt man jetzt aber auch in der Luft. In den zwölf Jahren Schule hatte man so eine ganz feste Struktur, und auf einmal wird einem gesagt: „Jetzt schau mal, wie du selber klarkommst.“ Das finde ich schon schwierig.
Rebecca: Für mich ist das so ein Mix aus allem. Ich bin froh, nach 13 Jahren nun raus zu sein, in die Zukunft zu blicken und mein Leben selbst zu gestalten. Zugleich ist das eine ganz schön große Herausforderung. Und ich weiß nicht, ob jeder dafür schon bereit ist.

Abiturientin Antonia Scholten
Antonia Scholten
©privat

Antonia Scholten, 19, ist sich noch nicht so sicher, wie es nach dem Abitur weitergeht. Sie wollte eigentlich für ein Jahr ins Ausland, aber Corona machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Ab Ende August wird sie deshalb erst mal ein Praktikum in einer Reha-Klinik machen – „einfach, um Erfahrungen zu sammeln“. Ihre Studienpläne gehen allerdings in eine andere Richtung: „Ich tendiere zu Jura – am meisten interessiert mich internationales Recht.“

Felix Traxinger, Abiturient aus Niederbayern
Felix Traxinger
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Felix Traxinger, 18, kommt aus Waldkirchen im Bayerischen Wald und hat am dortigen Gymnasium sein Abitur abgelegt. Jetzt wird er eine Ausbildung bei der Polizei beginnen, „das wollte ich schon von klein auf“. Auch sein Vater ist bei der Polizei, deshalb weiß er über den Beruf gut Bescheid. Viele aus seiner Stufe wüssten noch nicht, was sie nach dem Abi machen. Er ist froh, dass er diese Entscheidung schon getroffen hat. „Ich habe Glück gehabt, dass sie mich gleich genommen haben.“

Abiturient Laurenz Dulig
Laurenz Dulig
©Landesschülerrat Sachsen

Laurenz Dulig, 19, hat gerade an einem Gymnasium in Dresden sein Abi gemacht. Er will im Herbst 2021 ein Lehramtsstudium beginnen. Ein „Gap Year“ kam für ihn nicht infrage: „Viele hoffen, dass sie danach wissen, was sie machen wollen, aber ich kenne Leute, denen die Entscheidung dann sogar noch schwerer gefallen ist“, sagt er. Seine Schwester hat auch Lehramt studiert, daher hat Laurenz schon eine gute Vorstellung von dem, was auf ihn zukommt.

Abiturientin Rebecca Jäger
Rebecca Jäger
©privat

Rebecca Jäger, 19, hat eine integrierte Gesamtschule in Braunschweig besucht. Ursprünglich wollte auch sie nach dem Abi für ein Jahr als Au-Pair ins Ausland gehen, „um Abstand zu gewinnen und um nach der Pandemie die Freiheit richtig genießen zu können“. Aber durch Corona haben sich diese Pläne zerschlagen. Jetzt fängt Rebecca direkt mit dem Studium an: In Hannover wird sie Politikwissenschaft studieren. „Das war ohnehin mein Plan – aber eigentlich erst nach dem Auslandsjahr.“

Wichtige Kompetenzen: Flexibilität und Kommunikationsfähigkeit

Was werden die wichtigsten Kompetenzen sein, die ihr in Zukunft braucht?
Rebecca: Unsere Welt wird immer schnelllebiger. Und wir werden zukünftig flexibler sein müssen, einfach, um auch eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu haben.
Laurenz: Aber gerade dieses Flexible ist auch ein Problem. Es gibt so viele Möglichkeiten – da ist es schwer, sich zurechtzufinden. Ich sehe es daher als Hauptkompetenz, aus dieser Vielfalt auswählen und abwägen zu können, was das Beste für mich ist. Überhaupt wird es immer wichtiger, dass ich filtern kann – das betrifft alle Lebensbereiche.
Antonia: Ich halte außerdem eine Veränderungsbereitschaft für sehr wichtig. Und auch, dass ich mit neuen Technologien umgehen kann.
Felix: Ich finde Kompetenzen wie Teamgeist und Kommunikationsfähigkeit sehr wichtig. Das brauche ich auch besonders in meinem Beruf als Polizist.

Inwieweit habt ihr diese Kompetenzen in der Schule gelernt?
Laurenz: Im Unterricht weniger. Der Unterricht war sehr fokussiert auf Auswendiglernen und die Wiedergabe von Wissen. In der Oberstufe ist wenig für Kompetenzen über das Fachliche hinaus, obwohl das ja mindestens genauso wichtig sein sollte, vielleicht sogar noch wichtiger. Trotzdem, glaube ich, hat die Schule einen großen Anteil an der Entwicklung von Sozialkompetenzen weil man dort ständig mit Menschen umgeht, sich einbringen und Lösungen finden muss.
Rebecca: An meiner Schule wurde vor allem gefördert, differenzieren und abwägen zu können, was für uns richtig oder falsch ist. Wobei so eine Unterscheidung gar nicht immer möglich ist. Nehmen wir mal das Beispiel Fake News. Ich hatte Politik-Leistungskurs, und hier hat unser Lehrer uns gezielt Aufgaben und Fragen gestellt, die oft zu dem Ergebnis führten, dass es kein Richtig oder Falsch gibt, sondern dass man immer alle Positionen abwägen muss, um für sich persönlich zu einem fundierten Ergebnis zu kommen. Da können dann ganz unterschiedliche Ergebnisse herauskommen.

Habt ihr in der Oberstufe anders gelernt als in der Mittelstufe?
Antonia: Ich hatte Englisch- und Deutsch-Leistungskurs. Da haben wir viel in Gruppen gearbeitet und viel diskutiert, auf jeden Fall mehr als bis zur 10. Klasse. Aber das hätte noch mehr sein können.
Laurenz: Ich sehe schon eine Veränderung mit dem Wechsel zum Kurssystem, weil die Gruppen dann kleiner und Diskussionen viel eher möglich sind. Da lernt man schon eher, wie man miteinander redet und sich artikuliert. Und es gibt viel weniger dieses „Der Lehrer steht vorne und erzählt etwas, und wir antworten auf das, was der Lehrer sagt“.
Rebecca: Bei mir war der Unterschied gar nicht so groß, weil wir auch schon in der Mittelstufe sehr viel Gruppenarbeit gemacht haben und Diskussion sehr wichtig waren. Das ist vielleicht der Unterschied zwischen Gymnasium und Gesamtschule.

Mehr zukunftsorientierte Kompetenzen

Wie viele Freiheiten hattet ihr in der Oberstufe? Und wie sehr konntet ihr eure Interessen einbringen?
Rebecca: In meiner Schule haben die Lehrer in der Oberstufe oft Aufgaben gestellt, auf die es keine klare Antwort gibt. Sie wollten uns selbst Wege und Lösungen finden lassen, und wir konnten und sollten dabei auch Fehler machen. Das haben sie dann gezielt so lange laufen lassen, bis wir als Schüler selbst gemerkt haben, dass wir nicht auf dem richtigen Weg sind und eine neue Lösung suchen müssen.
Antonia: Bei mir war das anders. Wir hatten eigentlich immer recht strenge Vorgaben. Es war selten so, dass wir kreativ angeregt wurden, eigene Lösungswege zu finden. Da hätte ich mir mehr Freiheiten gewünscht.
Laurenz: Das kann ich nur bestätigen. Der Lehrplan ist so eng geknüpft, dass es gar keine Möglichkeiten gibt, mal auszuscheren und etwas auszuprobieren. Mitten in einem guten  Unterrichtsgespräch hat der Lehrer oft gesagt: „Ich würde jetzt gern mit euch weiter darüber reden, aber wir müssen dies und das noch schaffen.“ Aus meiner Sicht ist das genau das Falsche. Eigentlich wäre es doch viel besser, in so einer Situation weiterzudiskutieren.
Felix: Bei uns in Bayern gibt es „W-“ und „P-“Seminare. „P“ steht für „Projekt“ und „W“ für „Wissenschaftlich“. Diese Seminare ziehen sich über anderthalb Jahre in der Oberstufe, und man kann zwischen verschiedenen Themen wählen. Da ist eigentlich für jeden etwas dabei. Ich habe mich im P-Seminar zum Beispiel mit Waldschäden auseinandergesetzt. Wir haben dabei im Team zusammengearbeitet, und jeder hat etwas eingebracht. Am Schluss haben wir dann eine Ausstellung aus den Ergebnissen erstellt. Dieses Arbeiten fand ich sehr gut, und dabei habe ich viel gelernt. Aber ansonsten war das meiste vorgegeben und schon sehr auf den Lernstoff konzentriert.

Vom Lernstoff in der Oberstufe bleibt nicht viel hängen

Was bleibt von dem ganzen Stoff, den ihr in der Oberstufe gelernt habt?
Antonia: Wahrscheinlich relativ wenig. Vieles, was ich für die Abiprüfungen gelernt habe, habe ich schon wieder vergessen. Der Lernaufwand für die meisten Fächer steht nicht in Relation zu dem, was man damit machen kann.
Felix: Ich glaube auch, dass nach meiner Schulzeit nicht mehr so viel hängenbleibt. Klar, die Grundsachen sind schon wichtig, aber viele Fächer bringen mir nichts für meinen weiteren Weg, oder wenn sie etwas bringen, wurde mir das so nicht vermittelt. Ein Großteil von dem, was ich gelernt habe, ist für die Katz.
Laurenz: Ich bin da ein bisschen optimistischer. Ich habe zwar auch schon jetzt viel vergessen, was ich für die Prüfungen gelernt habe. In Mathe ist wahrscheinlich die Hälfte schon wieder weg, aber trotzdem merke ich, dass ich ein ganz anderes logisches Verständnis habe. Ich weiß nicht, ob das nur an Mathe liegt; aber ich würde dem zumindest eine Mitverantwortung geben, dass ich mich besser in komplexere Aufgabenstellungen hineindenken kann.
Rebecca: Ich glaube, prinzipiell ist es wichtig, Allgemeinbildung zu vermitteln, damit wir grundlegend Bescheid wissen über das, was um uns herum passiert. Aber ab einem bestimmten Punkt geht es um Dinge, mit denen wir später im Leben nichts zwingend mehr anfangen können. Ich glaube allerdings, dass es in der Schule oft gar nicht darum geht – oder nicht darum gehen sollte –, nur inhaltlich etwas zu lernen, sondern vor allem um die Kompetenz, dauerhaft lernen zu können.
Laurenz: Aber wie lernt man, zu lernen? Auch das muss man doch erst einmal lernen! „Mein Deutschlehrer sagte vor zwei Monaten: „Wer jetzt noch nicht angefangen hat, für die Abiturprüfungen zu lernen, dem kann ich auch nicht mehr helfen.“ Da ist mir erst mal klargeworden, dass ich gar nicht weiß, wie man lernt.

Der Lehrplan wird immer voller

Was hättet Ihr euch vor allem anders gewünscht in der Oberstufe?
Antonia: Ich hätte es gut gefunden, wenn wir stärker den Umgang mit neuen Technologien gelernt hätten. Meine Schule ist da eher altmodisch – da wird noch mit Tafeln und Kreide gearbeitet.
Felix: Ja, es ist wichtig, dass immer wieder neue Sachen dazukommen. Damit meine ich auch Kompetenzen wie Kommunikation. Aber wenn neue Sachen dazukommen, müssen auch alte Sachen gestrichen werden. Sonst wird der Lehrplan immer voller. Das ist doch jetzt schon viel zu viel.
Laurenz: Ich würde mir wünschen, dass es mehr Freiräume im Unterricht gibt. Ich muss die Chance bekommen, mich auszuprobieren, mir selbst Dinge zu erarbeiten und zu präsentieren. Das brauche ich in meinem Leben. Vielleicht sollte es in der Oberstufe mehr Freiarbeit geben wie in der Grundschule.
Rebecca: Der Lernstoff sollte deutlich flexibler vermittelt werden, denn wir lernen doch alle unterschiedlich. Die Oberstufe und die Schule überhaupt sollten das Individuelle stärker berücksichtigen. Das hat in unserem Bildungssystem viel zu wenig Platz.

Und was nehmt ihr Positives mit aus eurer Schulzeit?
Rebecca: Für mich ist es das Zusammensein mit den Mitschülern. Dadurch habe ich  Sozialkompetenzen erlernt. Und meine Schule hat mir vermittelt, dass man nie aufhören darf, zu lernen.
Laurenz: Ich habe auch gelernt, wo ich meine Kraft investiere und wo nicht. Und ich kann an manche Dinge entspannter herangehen, auch mal eine schlechte Note in Kauf nehmen.
Antonia: Ja, in der Grundschule war das gleich ein Weltuntergang, wenn ich mal eine schlechtere Note hatte. Aber später kam das dann doch öfter mal vor, und da habe ich gelernt: Es gibt wirklich Schlimmeres, und das Leben geht weiter. Eine wichtige Erfahrung für mich. Und was auch bleibt, sind die Erfahrungen aus dem Schüleraustausch. Meine Schule war da sehr engagiert. Dadurch habe ich interkulturelle Kompetenzen bekommen, die einen hohen Stellenwert für mich haben.
Felix: Ich habe an meiner Schule auf jeden Fall gelernt, zu kommunizieren. Ich war auch Schülersprecher – das war eine sehr gute Übung.

Kein Abiball, keine Abifahrten, kein richtiger Abschluss

Den größten Teil eurer Oberstufenzeit habt ihr unter Corona-Bedingungen erlebt – was hat das mit euch gemacht?
Laurenz: Ich bin auf jeden Fall selbstständiger geworden. Aber mit diesem Auf-sich-gestellt-Sein kamen nicht alle gut zurecht. Einige waren dadurch überfordert. Am schwierigsten fand ich die sozialen Einschränkungen.
Felix: Es hat zwar bei mir mit dem Lernen zu Hause gut geklappt, aber dieser ganze Schulalltag mit den vielen Begegnungen hat mir schon sehr gefehlt.
Antonia: Für mich war die Selbstorganisation schon eine Herausforderung. Plötzlich gab es keine Grenze mehr zwischen Lernen und Freizeit. Beides fand zu Hause statt. Weniger gelernt habe ich vielleicht nicht – meine Schule hat sich da schnell reingehängt und hat uns alles ganz gut digital vermittelt. Traurig finde ich aber, dass es keine Kurs- und Abifahrten gibt.
Rebecca: Da bin ich ganz bei Antonia. Ich finde es schon sehr schade, dass auch in diesem Schuljahr alles abgesagt werden musste. Da ist man 13 Jahre in der Schule und freut sich schon so lange auf diesen Abschluss, und dann endet dieser Lebensabschnitt ohne Abiball und ohne Abifahrt. Das kann man ja auch nie mehr nachholen.

Mit welchem Gefühl geht ihr in die Zukunft?
Felix: Für mich ist es eine richtige Freude, dass nun ein neuer Abschnitt im Leben beginnt.
Antonia: Ich schaue mit Neugier in die Zukunft und lasse jetzt auch diese ganze Corona-Zeit hinter mir. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob Arbeitgeber uns vielleicht als Corona-Jahrgang sehen und uns später nicht richtig ernst nehmen. Aber das muss man auf sich zukommen lassen.
Laurenz: Ich freue mich darauf, jetzt endlich selbstständig zu sein und nach so vielen Jahren selbst Entscheidungen treffen zu können. Zugleich ist das aber auch eine ganz schön große Herausforderung.
Rebecca: Ich schaue hoffnungsvoll in die Zukunft und bin gespannt darauf, was morgen kommt. Natürlich wird es immer Zeiten geben, in denen es mal nicht so läuft wie geplant. Aber das kennen wir ja nun schon von Corona.

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