Coronavirus in den USA : „Wir müssen dafür sorgen, dass alle Schüler zurückkommen“

In Kalifornien sind die Schulen bereits seit einem Jahr fast durchgängig geschlossen, stattdessen findet Online-Unterricht statt. Schaffen es die Lehrkräfte, die Schülerinnen und Schüler zu erreichen? Nicht immer, meint Rick Mintrop, Experte für designbasierte Schulentwicklung an der University of California, Berkeley. Er begleitet Schulen in besonders kritischen Lagen durch die Krise. Das Schulportal sprach mit ihm über seine Erfahrungen an den Schulen in den vergangenen Monaten und darüber, wie es gelingt, potenzielle Schulabbrecher wieder zurückzuholen.
In San Francisco gingen am 13. März Schülerinnen und Schüler für die Wiederöffnung der öffentlichen Schulen auf die Straße.
©Jeff Chiu/AP/dpa

Schulportal: Welche Erfahrungen machen Schulen in der Krise derzeit in den USA? Wie sind Ihre Beobachtungen in Kalifornien, und welche Unterstützung können Sie den Schulen in kritischen Lagen dort derzeit bieten?
Rick Mintrop: Hier in Kalifornien sind die Schulen nun schon ein ganzes Jahr fast durchgängig geschlossen. Ich arbeite mit meinem Team an der University of California in einer Initiative, die sich „Research-Practice Partnership“ nennt. Normalerweise begleiten wir Schulen und Schulaufsichten in besonders herausfordernden Lagen bei der Schulentwicklung. Dabei starten wir mit einem ausführlichen Problemfindungsverfahren vor Ort. Doch diese Form der sogenannten designbasierten Schulentwicklung ist derzeit nicht möglich, denn das dauert viel zu lange. In der Notsituation ist eine schnelle Unterstützung nötig. Wir haben also unsere Logik mit dem ersten Lockdown geändert und gemeinsam mit den Top-Leadern der Schulbezirke in besonders kritischen Lagen analysiert, was die Schulen jetzt am dringendsten brauchen.

Welche Herausforderungen haben sich dabei herauskristallisiert?
Wir haben mit den Schulleitungen und Steuergruppen in 30 Schulen mit etwa 12.000 Schülerinnen und Schülern zusammengearbeitet und mit den Schulbehörden fünf Dringlichkeiten ausgemacht:

  1. Wir müssen die Curricula anpassen, weil sich die Unterrichtszeit reduziert hat.
  2. Wir müssen die Diagnostik verstärken, um die Lücken festzustellen.
  3. Wir müssen Verfahren entwickeln, die den Lehrkräften helfen, im virtuellen Raum persönliche Kontakte zu den Familien aufrechtzuerhalten.
  4. Wir müssen die Lehrerinnen und Lehrer in der Basistechnologie für den digitalen Unterricht schulen.
  5. Wir müssen die Lehrkräfte unterstützen, einen Online-Unterricht anzubieten, der die Partizipation der Schülerinnen und Schüler aufrechterhält.

Für jede dieser Herausforderung haben wir gemeinsam mit ausgewählten Lehrerinnen und Lehrern der Schulen Materialien und Fortbildungsmodule entwickelt, die dann an den Schulen genutzt wurden. Die Schulen konnten aus den fünf Feldern wählen, welche Herausforderung bei ihnen gerade ganz oben steht. Wir in der Forschung haben den Prozess begleitet und Daten erhoben, aber anders als bei der designbasierten Schulentwicklung wurden die Ergebnisse nicht direkt an die Schulen zurückgespielt, um neue Versuchsschleifen aufzulegen. Dieser Schritt hätte die Schulen in der Krise überfordert – dafür war einfach keine Zeit.

Interessant ist bei Ihrer Aufzählung der Prioritäten, dass die beiden Punkte, die Sie zuerst nennen – nämlich Lehrplankürzung und Diagnostik –, in Deutschland erst jetzt diskutiert werden, während anfangs vor allem die Fortbildung im Umgang mit digitalen Instrumenten, wie Lernplattformen, im Vordergrund stand. Wie erklären Sie sich das?
Im Sommer war auch hier noch nicht klar, dass die Schulen nicht mehr öffnen würden. Aber durch das entstandene Chaos im Frühjahr war klar, dass Stoff im neuen Schuljahr reduziert werden muss, um die Lücken auszugleichen.

Tatsächlich war das aber auch hier für die Schulen nicht die oberste Priorität. Die persönlichen Kontakte zu den Familien und die technologischen Schulungen standen bei den Schulen an erster Stelle. In vielen Schulen in Kalifornien gibt es alle drei Monate Zeugnisse. Als dann im neuen Schuljahr nach drei Monaten das erste Zeugnis geschrieben werden musste, stellte sich heraus, dass unheimlich viele mangelhafte Noten verteilt werden mussten. Spätestens dann war klar: Wenn Lehrkräfte „nach Schema F“ den Stoff abfragen, bleiben sehr viele Schülerinnen und Schüler auf der Strecke. Seither wird das Thema Lehrplankürzung und Diagnostik heftig diskutiert. Mit schlechten Noten kann man die Schülerinnen und Schüler stark demotivieren – an weiterführenden Schulen kann das dazu führen, dass die Jugendlichen zu Schulabbrechern werden.

Richtig deutlich wird das Problem aber auch erst jetzt gesehen. Da scheint die Entwicklung ähnlich zu laufen wie in Deutschland. Schulen können in der Krise eben nicht alle Probleme gleichzeitig angehen. Bei der designbasierten Schulentwicklung wird deshalb eigentlich der Prozess zuerst verlangsamt, um in Ruhe nachzudenken und ein klares Problem zu definieren.

Wie finden Sie unter den aktuellen Krisenbedingungen heraus, welche Maßnahmen fruchten?
Wir haben für alle fünf Handlungsfelder Feedbackbögen, allerdings sind diese mit Vorsicht zu betrachten. Denn in der Regel fallen hier solche Bögen immer sehr positiv aus, selten werden offen Kritikpunkte benannt. Wir haben einige Schulen ausgewählt, an denen wir die Prozesse und Fortbildungen genauer begleitet haben. Dort sehen wir direkt, wie die Module aufgenommen werden. Resonanz ist ein wichtiger Punkt, aber uns fehlen Daten darüber, wie genau der Online-Unterricht gestaltet wird – da sind wir nicht dabei! Anders als bei den klassischen Hospitationen an den Schulen ist die Scheu der Lehrkräfte, im Online-Unterricht jemanden reinschauen zu lassen, viel größer. Das ist verständlich, denn die Lehrkräfte haben ja wenig Erfahrung.

Findet denn das Lernen im Lockdown vorwiegend in Form von Online-Unterricht statt?
Die Lehrkräfte machen hier genau nach Plan Online-Unterricht, abwechselnd synchron und asynchron. Das wird auch überprüft. An den weiterführenden Schulen haben die Schülerinnen und Schüler täglich sechs Stunden Unterricht. An Grundschulen sind es etwas weniger Unterrichtsstunden, dafür wird mehr Zeit für den Kontakt mit den Familien aufgewendet. Alle Schülerinnen und Schüler haben einen Laptop bekommen, genauso wie alle Lehrerinnen und Lehrer. Das wurde gleich am Anfang der Krise sichergestellt.

In der Krise haben also die Jugendlichen in den armen Communitys vor allem geholfen, die Familien zu ernähren, weil die prekären Arbeitsplätze der Eltern weggebrochen sind.

Trotzdem klappt das nicht immer. Im Grundschulbereich sind die Kinder in der Regel im Online-Unterricht präsent, aber im weiterführenden Bereich gehen wir davon aus, dass 20 bis 25 Prozent der Jugendlichen nicht regelmäßig teilnehmen. Eine Umfrage unter den High School-Schülerinnen und -Schülern durch den Bezirk hatte ergeben, dass 80 Prozent einen Job haben. In der Krise haben also die Jugendlichen in den armen Communitys vor allem geholfen, die Familien zu ernähren, weil die prekären Arbeitsplätze der Eltern weggebrochen sind. Das war uns vorher nicht bewusst.

Besteht da die Gefahr, dass diese Jugendlichen gar nicht mehr in die Schule zurückkehren?
Genau das ist das riesige Problem, vor dem wir hier in Kalifornien – vor allem in den ärmeren Bezirken – jetzt stehen. Die Schulabbrecherquote hatte in den vergangenen Jahren systematisch abgenommen, jetzt wird sie wieder stark ansteigen. Wir wissen, dass sogenannte High School Dropouts zur Armut verdammt sind. Sie bekommen nie eine richtige Berufsausbildung, nie einen richtigen Job – sie können nur als einfache Hilfsarbeiter tätig sein.

Gerade deshalb muss man jetzt hier wirklich Ernst machen mit der Anpassung der Lehrpläne und dafür sorgen, dass an die Schülerinnen und Schüler realistische Erwartungen gestellt werden. Gleichzeitig muss man sich ein Unterstützersystem überlegen, um dieses Problem einzudämmen. Bis Ende März sollen alle Lehrkräfte geimpft sein. Die Schulen öffnen spätestens im April im Hybridmodell. Nun müssen wir dafür sorgen, dass auch die Schülerinnen und Schüler alle wieder zurückkommen.

Gibt es denn, abgesehen davon, auch Erfahrungen aus der Krise, die Schule in den USA langfristig positiv verändern können?
Ja, zum Beispiel wird der Unterricht durch die digitalen Tools viel individualisierter. Die Lehrkraft kann im digitalen Klassenraum genau mitverfolgen, wie die einzelnen Kinder arbeiten. Das werden die Lehrkräfte sicher auch im Präsenzunterricht nutzen. Ein großer Fortschritt ist auch die völlig neue Herangehensweise an Fortbildung. Die flinksten Lehrerinnen und Lehrer haben zum Beispiel in relativ kurzer Zeit gelernt, wie sie gute Videos produzieren können, in denen sie von ihren Unterrichtsversuchen berichten. Digitale Demonstrationen von Unterrichtssequenzen sind so auch in Fortbildungen möglich, ohne von Schule zu Schule zu reisen. Die Module, die wir für die Krise entwickelt haben, haben wir inzwischen auch auf eine Fortbildungsplattform gestellt, die nun immer erweitert werden kann.

Ich hoffe sehr, dass das beibehalten wird. Die Lehrerinnen und Lehrer wissen ja jetzt, wie es geht, und haben auch die Vorteile schätzen gelernt. Infolge von COVID werden auch durch die Schulbehörde regelmäßig Fragebögen an alle Eltern geschickt. Dieses systematische Feedback mit schnellen Resultaten wird wohl auch in gut organisierten Bezirken beibehalten. Die Schulentwicklung kann davon profitieren.

Zur Person

Rick Mintrop
©Privat
  • Professor Rick Mintrop ist Schulentwicklungsexperte an der University of California, Berkeley.
  • Seine Forchungsschwerpunkte sind unter anderem Bildungsgerechtigkeit, Politikanalyse, Schulverwaltung, Schulleitung, internationale Bildung.
  • Mit seinem Forschungsteam begleitet er in Kalifornien Schulen in besonders herausfordernden Lagen mithilfe der sogenannten designbasierten Schulentwicklung.

Was bedeutet „designbasierte Schulentwicklung“?

  • Zunächst gilt es bei der designbasierten Schulentwicklung zu bestimmen, an welchen Feldern am dringlichsten gearbeitet werden sollte. Problemspezifisch zu sein und das Problem möglichst genau zu beschreiben wird als entscheidend angesehen.
  • Wenn sich ein Team an der Schule auf eine Priorität geeinigt hat, wird mithilfe einer Ursachenanalyse konkretisiert, welche Verhaltensweisen und Einstellungen der beteiligten Akteure das Problem begünstigen. Dafür ist es oft nötig, Daten zum Beispiel mittels Befragungen oder systematischen Beobachtungen zu erheben.
  • Dann wird geschaut, welche positiven Effekte in der Schule bereits wirken und wie man diese für Verbesserungen nutzen könnte.
  • Basierend auf dem genauen Problemverständnis entwickelt das Team mögliche Hebel und konkrete Veränderungsideen, die das Potenzial haben, zur Lösung des Problems beizutragen.
  • In einer iterativen Phase der schrittweisen Annäherung an mögliche Lösungen wird schließlich getestet, ob die entwickelten Veränderungsideen auch tatsächlich zur Lösung des Problems führen. Dafür sind verschiedene Versuchsschleifen und eine kontinuierliche Datenerhebung notwendig. Nach jeder Versuchsschleife stellen sich die Beteiligten die Frage: Haben die Veränderungen sich bewährt, müssen sie optimiert oder sogar verworfen werden?