Baden-Württemberg : Wie die Corona-Krise die Lehrerfortbildung revolutioniert

Die Nachfrage nach Fortbildungen für Lehrkräfte ist angesichts der Herausforderungen durch die Corona-Pandemie groß wie nie. Wie gehen die Landesinstitute für Lehrerbildung damit um? Können sie diesem Bedarf gerecht werden, und wie haben sie ihr Programm für das neue Schuljahr umgestellt? Das Schulportal hat zu diesen Fragen mit Thomas Riecke-Baulecke gesprochen, dem Leiter des „Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung“ (ZSL) in Baden-Württemberg. Mit digitalen Großveranstaltungen können dort jetzt innerhalb kurzer Zeit alle Schulen erreicht werden.

Eine Frau sitz mit dem Tablet am Schreibtisch
Durch Online-Fortbildungen können in Baden-Württemberg innerhalb kurzer Zeit alle 4.500 Schulen erreicht werden.
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Schulportal: In Baden-Württemberg steht der Start in ein neues Schuljahr unter dem Vorzeichen von Corona unmittelbar bevor. Wie gut sind die Lehrkräfte darauf vorbereitet?
Thomas Riecke-Baulecke:
Als am 15. März in Baden-Württemberg die Schulen schließen mussten, hatten die Lehrkräfte nur wenige Möglichkeiten, Unterricht per Audiokonferenzen durchzuführen. Fernunterricht bedeutete häufig, dass per Post oder E-Mail Aufgaben verschickt wurden. Das ist heute anders. 2.000 der insgesamt 4.500 Schulen nutzen die vom Kultusministerium empfohlene Lernplattform „Moodle“ und mehr als 1.000 Schulen haben darin bereits „BigBlueButton“ integriert, ein Tool für Webkonferenzen. Mit diesen beiden datenschutzkonformen Tools können die Schulen auch künftig im Fall von lokalen Schließungen synchron und asynchron mit den Schülerinnen und Schülern weiterarbeiten. Wir haben dafür umfangreiche Web-Fortbildungen angeboten, die stark nachgefragt werden, und arbeiten jetzt mit Hochdruck an technischen Lösungen, damit noch mehr Schulen das Konferenzsystem einsetzen können.

Und was machen die Schulen, die sich nicht an dieser Landeslösung beteiligen?
Die Schulen können selbst entscheiden, ob sie das vorgeschlagene Verfahren nutzen oder ein anderes, mit dem sie vorher schon gute Erfahrungen gemacht haben. Es gibt eine Vielfalt an Systemen. Wir haben dazu noch keine Abfrage gestartet, aber nach allem, was wir hören, ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Schulen mit einer digitalen Lernplattform arbeitet.

Kommen denn die Lehrkräfte auch mit den neuen technischen Möglichkeiten zurecht?
Wir haben in der Fortbildung ein neues Webkonferenz-Tool eingeführt, mit dem sehr große Veranstaltungen mit bis zu 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern organisiert werden können. Die Lehrkräfte gehen einfach über einen Link in den digitalen Fortbildungsraum. Zusätzlich werden Präsenzfortbildungen in digitale Formate übertragen, das heißt, die Fortbildung wird über „Moodle“ organisiert und mithilfe des Plug-in „BigBlueButton“ durchgeführt.

Wichtig sind Grundlagenschulungen, denn das technische Verständnis für die vielfältigen Möglichkeiten des asynchronen und synchronen E-Learning ist die Basis für eine vernünftige Pädagogik.

Wichtig sind Grundlagenschulungen, denn das technische Verständnis für die vielfältigen Möglichkeiten des asynchronen und synchronen  E-Learning ist die Basis für eine vernünftige Pädagogik. Das gilt für den Unterricht ebenso wie für die Gestaltung der Lehreraus- und -fortbildung. Das ist wie beim Autofahren: Wer nicht fahren kann, dem nützen auch die Verkehrsregeln nichts.

Wir arbeiten gerade daran, über „Moodle“ für alle Jahrgänge in den Kernthemen des Bildungsplans ausgearbeitete Kurse bereitzustellen, mit Erklärvideos, Aufgaben und didaktischen Erläuterungen. Wenn es also künftig lokal dazu kommen sollte, dass Schülerinnen und Schüler zu Hause arbeiten müssen, können sie mit ihren Lehrkräften auf passende Kurse in „Moodle“ zurückgreifen und damit den Fernunterricht gestalten.

Welche Fortbildungen sind von den Lehrkräften derzeit besonders nachgefragt?
Die meisten Nachfragen kommen gezielt zur Bedienung und pädagogischen Nutzung der beiden Instrumente „Moodle“ und „BigBlueButton“. Wie stelle ich Aufgaben ein, wie gebe ich den Schülerinnen und Schülern dort Rückmeldung, wie organisiere ich Gruppenarbeiten? Wie ermögliche ich Präsentationen von den Ergebnissen der Schülerinnen und Schüler, wie sorge ich für eine kognitiv aktivierende und lebendige soziale Interaktion im Fernunterricht? Es geht darum, die drei zentralen Qualitätskriterien für guten Unterricht – kognitive Aktivierung, konstruktive Unterstützung und Klassenführung – im Fernunterricht zu realisieren.

Insbesondere zu Fragen des Fachunterrichts haben wir auf der Homepage des ZSL ein Portal eingerichtet unter dem Namen „lernen über@ll“. Auf dem Portal gibt es Orientierungen, Kerncurricula und viele Hinweise zu geeigneten digitalen Werkzeugen für den Fernunterricht. Dort werden auch aus medizinisch-psychologischer Sicht relevante Fragen aufgegriffen und von Experten, unserem medizinischen Beirat, beantwortet.

Mit einigen solcher Veranstaltungen können wir nun innerhalb von ein paar Wochen alle 4.500 Schulleitungen in Baden-Württemberg erreichen. Das war vorher undenkbar!

Können Sie für diese große Nachfrage überhaupt genügend Angebote machen?
Ja, durch die digitalen Großveranstaltungen ist das möglich. Mit einigen solcher Veranstaltungen können wir nun innerhalb von ein paar Wochen alle 4.500 Schulleitungen in Baden-Württemberg erreichen. Das war vorher undenkbar! Und plötzlich zeigt sich, dass die Umstellung auf digitale Formate gar nicht so schwer ist – die Teilnehmenden bekommen schnell mit, wie sie sich zu Wort melden, wo der Chat ist und wie sie sich sonst einbringen können.

War die Beteiligung an Fortbildungen während der Sommerferien größer als sonst?
Normalerweise gelten die Sommerferien in Baden-Württemberg eher als fortbildungsfreie Zeit. In diesem Jahr haben viele Lehrkräfte an den digitalen Angeboten in den Ferien teilgenommen. Die neuen Formate machen die Teilnahme einfacher, weil man nicht extra anreisen muss. Damit wächst die Bereitschaft, sich in den Sommerferien fortzubilden.

In diesem Jahr unterstützen wir zudem die Schulen bei der Durchführung der „Lernbrücken“: In der fünften und sechsten Ferienwoche nehmen über 50.000 Schülerinnen und Schüler an den „Lernbrücken“ teil, um Lücken aufzuholen, die durch die Schulschließungen entstanden sind. Über 6.000 Lehrkräfte sind daran beteiligt. Dafür haben wir ein Portal, in dem die Lehrerinnen und Lehrer Orientierung und Materialien in Form von Downloads bekommen. Außerdem haben wir analoge Schüler- und Lehrermaterialien, insgesamt rund 50.000 Exemplare, bereitgestellt. Die Lehrkräfte werden für den Einsatz der Materialien komplett digital fortgebildet.

Haben Sie das Fortbildungsprogramm für das neue Schuljahr aufgrund der Corona-Krise kurzfristig umgestellt?
Ja, die Sicherung der Basiskompetenzen, die Ziel des Lernbrücken-Programms ist, soll im neuen Schuljahr weiterlaufen, denn zwei Wochen in den Ferien reichen nicht aus, um die entstandenen Defizite bei den Kindern und Jugendlichen aufzufangen.

Es geht vor allem darum, die Basiskompetenzen in Deutsch und Mathematik bei den Schülerinnen und Schülern von der ersten bis zur zehnten Klasse zu stärken. Nach den Sommerferien soll es dafür gezielt Fortbildungen für Lehrkräfte über einen längeren Zeitraum nach dem Prinzip des „verteilten Lernens“ geben, in denen kürzere regionale Präsenzveranstaltungen mit Onlineveranstaltungen über ein Schuljahr hinweg gemischt werden, um didaktische Impulse zu vermitteln, Praxiserfahrungen und damit verbundene Kollaboration und Reflexion zu ermöglichen. Für dieses Projekt wollen wir 60 Fortbildnerinnen und Fortbildner qualifizieren. Ein wissenschaftliches Konsortium mit Expertinnen und Experten für die Schlüsselkompetenzen Deutsch und Mathematik begleitet das Programm an den Schulen.

Langfristig war eine solche Reform der Fortbildung geplant, der Lockdown hat diesen Prozess nun stark beschleunigt.

Wie haben Sie denn dieses neue Konzept so schnell aus dem Hut gezaubert?
Das Anliegen, Basiskompetenzen zu stärken, gab es schon vorher. Aber dass wir das Programm jetzt in dieser Breite angehen und bereits während der Sommerferien starten, das ist neu und innerhalb weniger Wochen entstanden. Neu ist zudem der Umfang an Blended-Learning-Formaten der Lehrerfortbildung. Das wissenschaftliche Konsortium soll evaluieren, wie diese Form der webbasierten Fortbildung bei den Lehrkräften ankommt und wie wirksam sie ist. Wir gehen davon aus, dass die Fortbildung nachhaltiger wirkt, wenn sie in kleinen Schritten über einen längeren Zeitraum stattfindet. Langfristig war eine solche Reform der Fortbildung geplant, der Lockdown hat diesen Prozess nun stark beschleunigt.

Worin sehen Sie die größte Herausforderung für das ZSL in naher Zukunft?
Der Einsatz digitaler Medien muss auf die oben genannten Gütekriterien guten Unterrichts bezogen werden. Das bedeutet für die Lehrerfortbildung, die Frage der Gestaltung des Fachunterrichts mit digitalen Medien – sei es im Präsenz- oder im Fernunterricht – als roten Faden insgesamt zu begreifen. Eine zentrale Hilfestellung wird dafür ein neuer, wissenschaftlich abgesicherter Unterrichtsbeobachtungsbogen mit didaktischen Erläuterungen und Beispielvideos sein, den wir schrittweise auf allen Ebenen der Lehreraus- und -fortbildung einsetzen werden. Hier kooperieren wir eng mit dem Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW), das diesen Bogen entwickelt hat.

Außerdem wollen wir die künstliche Intelligenz verstärkt in den Blick nehmen und adaptive Lehr-Lern-Werkzeuge für die Fächer Englisch, Deutsch und Mathematik entwickeln.

Zur Person

Thomas Riecke-Baulecke
©ZSL
  • Thomas Riecke-Baulecke leitet seit März 2019 das neu gegründete Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung in Baden-Württemberg mit rund 5.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
  • Zuvor hatte er seit 2003 das Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein aufgebaut und 15 Jahre erfolgreich geführt.
  • Thomas Riecke-Baulecke hat in Hamburg als Gymnasiallehrer gearbeitet, er wurde an der Freien Universität Berlin promoviert und an der Universität Bremen habilitiert.