Umgang mit dem Lehrermangel : Weniger Teilzeit, größere Klassen – was tun gegen die Personalnot an Schulen?

Nach einer aktuellen Berechnung fehlen deutschlandweit mehr als 12.000 Lehrkräfte an Schulen – mindestens. Und ein Ende der Mangelsituation ist nicht abzusehen. Im Gegenteil: Die Lage wird sich aller Voraussicht nach weiter verschärfen. Um den dramatischen Lehrkräftemangel abzufedern, hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz jetzt Empfehlungen zum Umgang mit der Situation gegeben, die kurzfristig umgesetzt werden können. Dabei macht die SWK auch nicht halt vor Streitthemen wie der Reduzierung von Teilzeit, der Erhöhung der Unterrichtsstunden für Lehrkräfte oder größeren Klassen.

Inhalt
Klassenzimmer mit vielen Kindern
Seit Monaten streiken Lehrkräfte für kleinere Klassen. Als Adhoc-Maßnahme im Umgang mit dem Lehrermangel schlägt die Ständige Wissenschaftliche Kommission nun aber als Notmaßnahme eine höhere Klassenfrequenz vor.
©Jens Kalaene/dpa

Der Lehrkräftemangel ist derzeit das größte Problem an den Schulen in Deutschland. Das hat auch die aktuelle Befragung für das Deutsche Schulbarometer gezeigt. Danach sehen 67 Prozent der befragten Schulleitungen in der Personalnot die derzeit größte Herausforderung. Je nach Berechnungen und Schätzungen sind derzeit 12.000 bis 40.000 Stellen an Schulen unbesetzt. Und klar ist: Die Lücke wird noch größer. Nach Prognosen des Bildungsforschers Klaus Klemm könnten bis zum Jahr 2035 sogar 158.000 Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen in Deutschland fehlen. Besonders dramatisch zeigt sich die Situation in den MINT-Fächern: Im Schuljahr 2030/31 könnten an den weiterführenden Schulen in Nordrhein-Westfalen in Mathematik nur noch ein Drittel, in Physik sogar nur noch 18 Prozent aller Stellen mit regulär ausgebildeten Lehrkräften besetzt sein.

Ad-hoc-Maßnahmen zum Umgang mit dem Lehrermangel

Was also tun angesichts dieser dramatischen Situation? Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz hat nun eine Stellungnahme zum Umgang mit dem Lehrermangel veröffentlicht. Darin gibt sie sechs Empfehlungen für Maßnahmen, die kurz- oder mittelfristig umgesetzt werden könnten. Einige  Empfehlungen werden in Teilen in den Bundesländern bereits umgesetzt.

  1. Beschäftigungsreserven erschließen, zum Beispiel durch weniger Teilzeit, eine höhere Unterrichtsverpflichtung und einen späteren Eintritt in den Ruhestand.
  2. Lehrkräfte für eine andere Schulart oder für ein Mangelfach weiterqualifizieren.
  3. Lehrkräfte durch Studierende und andere Personen entlasten.
  4. Flexibilisierung durch Hybridunterricht, mehr Selbstlernzeiten und größere Klassen.
  5. Gesundheitsförderung stärken.
  6. Modelle des Quereinstiegs weiterentwickeln.

Teilzeitquote im Lehrerberuf viel höher als in anderen Berufen

Zu allen Bereichen nennen die Expertinnen und Experten konkrete mögliche Maßnahmen. Das größte Potenzial sieht die Kommission vor allem beim ersten Punkt und dort insbesondere in der Begrenzung von Teilzeitarbeit. „Hier liegt die größte Beschäftigungsreserve“, heißt es in der Stellungnahme, „bereits eine maßvolle Aufstockung der Arbeitszeit aller teilzeitbeschäftigten Lehrkräfte hätte erhebliche Effekte.“ Die Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission, Felicitas Thiel, wies bei der Vorstellung der Stellungnahme Ende Januar auch darauf hin, dass die Arbeitszeit bei jeder siebten Lehrkraft sogar unter 50 Prozent liegt. Daher lautet eine Empfehlung der Kommission, dass die Arbeitszeit auf unter 50 Prozent nur noch bei „Vorliegen eng gefasster Gründe gewährt werden“ sollte. Zu diesen Gründen zählt die Kommission zum Beispiel die Betreuung junger Kinder. Auch Sabbatzeiten sollten in der akuten Personalnot eingeschränkt werden.

Teilzeitarbeit im Lehrerberuf ist weit stärker verbreitet als in anderen Berufen. Die Teilzeitquote bei Lehrerinnen und Lehrern liegt bei 47 Prozent, bezogen auf alle Erwerbstätigen bei 29 Prozent. Und der Wunsch, die Arbeitszeit zu reduzieren, steigt offenbar noch. So gaben 13 Prozent der Lehrkräfte in einer repräsentativen Umfrage für das Deutsche Schulbarometer an, ihre Arbeitszeit (weiter) reduzieren zu wollen.

Zeitweilige Erhöhung der Unterrichtsstunden

Außerdem empfiehlt die Kommission, die „Möglichkeit einer befristeten Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung“ zu prüfen. Das könnte in Anlehnung an das Modell der sogenannten Vorgriffsstunden erfolgen. Nach diesem Modell haben Lehrkräfte ab den 90er-Jahren ihr Unterrichtsdeputat um eine Stunde erhöht, um dann später weniger zu arbeiten oder die zusätzlichen Stunden bezahlt zu bekommen. Da der Lehrkräftemangel aber noch etwa 20 Jahre anhalten werde, erscheine eine spätere Reduzierung der Unterrichtsstunden unrealistisch, „weshalb die finanzielle Abgeltung realistischer zu sein scheint“, heißt es in der Stellungnahme der Kommission.

Neben der Reduzierung von Teilzeit und der Erhöhung des Deputats sieht die Ständige Wissenschaftliche Kommission auch noch Potenzial bei Lehrkräften vor oder im Ruhestand. Sie möchte die SWK länger in der Schule halten. Lehrkräfte sollten aus dem Ruhestand zurück an die Schulen geholt und rechtliche Voraussetzungen geschaffen werden, damit Lehrerinnen und Lehrer über die geltende Altersgrenze hinaus weiterarbeiten können.

Nicht mehr vorzeitig in den Ruhestand

Helfen könnte auch, wenn mehr Lehrkräfte bis zur Regelaltersgrenze im Dienst bleiben. Zahlen des Statistischen Bundesamts zufolge hat 2020 nicht mal ein Drittel der aus dem Dienst ausscheidenden Lehrkräfte bis zur Regelaltersgrenze gearbeitet. Deutlich mehr schieden bereits mit dem Erreichen der Antragsaltersgrenze aus, also mit 63 Jahren.

In den Fokus hat die Kommission außerdem die Regelung genommen, dass Lehrerinnen und Lehrer bereits, je nach Land, mit 55 oder 60 Jahren ihre Unterrichtsverpflichtung aus Altersgründen reduzieren können. Hier empfiehlt die Kommission zu prüfen, ob diese Lehrkräfte dann für außerunterrichtliche Tätigkeiten herangezogen werden können.

Da der Lehrermangel die Schulen nicht gleichmäßig trifft, sondern vor allem Schulen in herausfordernder Lage oder in Randregionen betroffen sind, empfiehlt die SWK auch, stärker von der Möglichkeit der Abordnung Gebrauch zu machen.

Nachqualifizierung in Mangelfächern

Auch die Weiterqualifizierung von Gymnasiallehrkräften für andere Schulformen – insbesondere für Grundschulen, wo derzeit die Personalnot besonders groß ist – müsse stärker unterstützt werden. In Nordrhein-Westfalen arbeiten zum Beispiel bereits viele Gymnasiallehrkräfte an Grundschulen. Auch hier zieht die Kommission verpflichtende Maßnahmen in Betracht. Allerdings empfiehlt sie, Lehrerinnen und Lehrer von Gymnasien nicht in der Schuleingangsphase unterrichten zu lassen.

Außerdem könnte die Nachqualifizierung von Lehrkräften in Mangelfächern Abhilfe schaffen. Bislang fehle hier eine länderübergreifende systematische Vorgehensweise. Außerdem stellt sich hier das Problem, dass Lehrkräfte für die Nachqualifizierung eine Unterrichtsentlastung von mehreren Stunden bekommen und in dieser Zeit dann im Unterricht fehlen. Der Gewinn einer solchen Qualifizierungsmaßnahme zeigt sich also nicht kurzfristig.

Lehramtsstudierende erst im Masterstudium an Schulen

Ein wichtiger Punkt ist außerdem der Einsatz zusätzlichen, befristet eingestellten Personals. Vor allem Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger sowie Lehramtsstudierende sind jetzt schon an Schulen beschäftigt. Allerdings empfiehlt die Ständige Wissenschaftliche Kommission, Lehramtsstudierende erst im Masterstudium und höchstens zehn Stunden in der Woche an der Schule zu beschäftigen. Die Kommission begründet das vor allem damit, dass sich sonst die Studiendauer verlängern könnte und dass die Erfahrungen als Lehrkraft mit dem im Studium erworbenen Wissen kollidieren können. Daher sollten die Universitäten aus Sicht der Kommission die Arbeit von Studierenden an Schulen stärker begleiten. Und Lehramtsstudierende sollten auch nicht vollverantwortlich Klassen unterrichten, sondern Lehrkräfte unterstützen, betonte der SWK-Vorsitzende Olaf Köller bei der Vorstellung der Stellungnahme.

Bereits in einer maßvollen Erhöhung der Klassenfrequenzen liegt ein erhebliches Potenzial, was die Gewinnung zusätzlicher nominaler Lernzeit betrifft.

Weitere Maßnahmen, um zusätzliche Kapazitäten zu gewinnen, sieht die Kommission in der Flexibilisierung des Einsatzes von Lehrkräften: „Der Umfang des gegenwärtigen Lehrkräftemangels macht es erforderlich, neben Maßnahmen zur Ausschöpfung und Erweiterung des Potenzials auch Maßnahmen zur Senkung des Bedarfs an Lehrkräften zu implementieren.“ Dabei schlägt die Kommission auch eine Maßnahme vor, die eigentlich ein Tabuthema ist: größere Klassen.

Keine größeren Klassen an Grundschulen und an Schulen in kritischer Lage

„Bereits in einer maßvollen Erhöhung der Klassenfrequenzen liegt ein erhebliches Potenzial, was die Gewinnung zusätzlicher nominaler Lernzeit betrifft“, heißt es in der Stellungnahme. Von dieser Maßnahme will die Kommission aber Grundschulen und Schulen in herausfordernder Lage ausnehmen. Eine befristete Erhöhung der maximalen Klassenfrequenz in der Sekundarstufe I dürfe allerdings als „Ultima Ratio“ nicht ausgeschlossen werden.

Die Kommission empfiehlt aber zunächst, die Klassen nicht pauschal überall zu vergrößern, sondern erst mal dort, wo Maximalfrequenzen unterschritten werden. Außerdem spricht sie sich dafür aus, im ländlichen Raum kleinere Schulen zu größeren Einheiten zusammenzufassen.

Hybridunterricht und Selbstlernzeiten vor allem in der Oberstufe

Der Bedarf an Lehrkräften lässt sich der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission zufolge außerdem durch Hybridunterricht reduzieren. Der sollte vor allem in der gymnasialen Oberstufe ausgebaut werden. Benachbarte Schulen könnten zum Beispiel in der Weise kooperieren, dass eine Lehrkraft in einem Fach einen Kurs an beiden Schulen parallel unterrichtet. Präsenzunterricht findet dann mal an der einen und mal an der anderen Schule statt. andere Kurs schaltet sich virtuell dazu. Voraussetzung ist dafür die entsprechende digitale Ausstattung an beiden Schulen. Für den zusätzlichen Korrekturaufwand sollten die Lehrerinnen und Lehrer Unterstützung durch „Korrekturassistent:innen“ bekommen. Das könnten zum Beispiel Studierende sein. Studien hätten gezeigt, dass sie ebenso gut Arbeiten korrigieren könnten wie Lehrkräfte, die bereits im Beruf sind.

Auch die Erhöhung der Selbstlernzeiten könne den Einsatz von Lehrkräften reduzieren. Sinnvolle Modelle seien hier zum Beispiel das Konzept „Flipped Classroom“ oder kollaborative computergestützte Lernformen. Allerdings betonen die Expertinnen und Experten – insbesondere mit Blick auf die Erfahrungen aus den pandemiebedingten Schulschließungen –, dass Selbstlernzeiten ein sehr „anspruchsvolles Lernsetting“ seien, das insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit geringem Vorwissen und wenig ausgeprägten Selbstregulationskompetenzen ohne Unterstützung schwierig sei. Daher würden Selbstlernzeiten auch nicht grundsätzlich zu einer Einsparung von Lehrkräftekapazitäten führen. Eine sinnvolle Maßnahme, um dem Lehrermangel zu begegnen, könnten Selbstlernzeiten aus Sicht der Kommission daher nur in der Oberstufe sein.

Maßnahmen sollten befristet sein

Insgesamt betonen die Expertinnen und Experten, dass gerade die Maßnahmen, die den Einsatz von Lehrkräften im Unterricht reduzieren, befristet sein müssen, auch weil sie für Lehrerinnen und Lehrer eine zusätzliche Belastung darstellten. Gerade vor diesem Hintergrund haben die Expertinnen und Experten in ihre Empfehlungen zum Umgang mit dem Lehrermangel auch die Gesundheitsförderung aufgenommen. Dazu zählen sie vor allem Maßnahmen wie Coaching und Supervision, Trainings zur Klassenführung oder den Aufbau von Mentoring-Strukturen.

Was jetzt mit den vorgeschlagenen Maßnahmen zum Umgang mit dem Lehrermangel passiert, ist zunächst unklar. Astrid-Sabine Busse (SPD), derzeit KMK-Vorsitzende und Berliner Bildungssenatorin, las aus der Stellungnahme heraus, dass es nicht das eine Wundermittel gegen den Lehrkräftemangel gibt, sondern dass wir an mehreren Stellschrauben drehen müssen. Für sie gehört zu den Stellschrauben auch, Lehramtsstudierende besser zu beraten, um die Abbrecherquote zu senken. Der hessische Kultusminister Alexander Lorz (CDU) betonte, dass es keine Denkverbote geben darf und wir zur Deckung des Lehrkräftebedarfs der Kreativität kaum Grenzen setzen dürfen. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) sagte auch, dass es keine Tabus bei der Lösung des Lehrkräftemangels geben dürfe. Er warnte aber vor einer Kannibalisierung. Seine Kritik richtete sich vor allem an den derzeitigen Kurs mancher Länder, sich gegenseitig die Nachwuchskräfte abzuwerben.

Reaktionen zur SWK-Stellungnahme

Mehr zur Ständigen Wissenschaftlichen Kommission

  • Noch in diesem Jahr will die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) ergänzend zur Stellungnahme mit Empfehlungen zum Umgang mit dem Lehrermangel ein Gutachten zur Lehrkräftebildung vorlegen. Darin wird es auch darum gehen, wie die Ausbildung attraktiver werden kann, um mehr junge Menschen für den Lehrerberuf zu gewinnen.
  • Die SWK ist ein unabhängiges wissenschaftliches Beratungsgremium der Kultusministerkonferenz. Sie identifiziert Herausforderungen und gibt Empfehlungen für deren Lösung.
  • Der SWK gehören 16 Bildungswissenschaftlerinnen und Bildungswissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen an. Den Vorsitz haben Felicitas Thiel und Olaf Köller.
  • Die Einrichtung des Beratungsgremiums wurde 2020 beschlossen und trat im Februar 2021 in Kraft.
  • Seitdem hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission mehrere Gutachten, Stellungnahmen und Impulspapiere veröffentlicht. So gibt es Stellungnahmen zum Aufholen pandemiebedingter Lernrückstände, zur digitalen Bildung, zur Integration geflüchteter Kinder aus der Ukraine oder zuletzt zu Perspektiven für die Grundschule. Mehr zur Ständigen Wissenschaftlichen Kommission auf dem Schulportal: