Von London lernen : Was Schulen in kritischer Lage stärkt

Was brauchen Schulen in sozialen Brennpunkten wirklich, um den Kindern und Jugendlichen gerechtere Bildungschancen zu bieten? Seit Jahren sind sogenannte Schulen in kritischer Lage im Fokus der Politik und Verwaltung, viele Bundesländer haben besondere Unterstützungsmaßnahmen für diese Schulen. Dennoch gelingt es oft nicht, den Bildungserfolg von der Herkunft der Kinder zu entkoppeln. Woran liegt das, welche Maßnahmen sind Erfolg versprechend, welche haben sich nicht bewährt? Diesen Fragen stellt sich das von der Robert Bosch Stiftung initiierte „Entwicklungsnetzwerk zur Unterstützung für Schule in kritischer Lage“Seit sechs Jahren arbeiten sieben Bundesländer und Österreich in diesem Projekt gemeinsam an Lösungen. Mit dabei sind Mitarbeiter aus Landesinstituten, Kultusministerien und Schulaufsichten, die in ihren Ländern die Unterstützungsmaßnahmen von Schulen in kritischer Lage steuern. Die Erkenntnisse der Netzwerkarbeit können nun der Bund-Länder-Initiative „Schule macht stark“ zur Verfügung gestellt werden.

In Hamburg wir der Lernstand der Schülerinnen und Schüler regelmäßig getestet, um Unterstützungsangebote zielgenau einzusetzen. (Symbolfoto)
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Die Lernreise nach London war für die Mitglieder des 2015 gegründeten Netzwerks wie eine Initialzündung. Mit dem Projekt „London Challenge“  hatte die Stadt bewiesen, dass ein grundlegender Wandel möglich ist. Innerhalb von wenigen Jahren waren die Ergebnisse der Stadt London im Leistungsgvergleich aus dem unterdurchschnittlichen Bereich an die Spitze des gesamten Landes geklettert. Wie war das möglich?

„Auch wenn das Modell nicht eins zu eins übertragbar ist, so war die Reise doch unglaublich motivierend“, sagt Christiane Kose von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie in Berlin. Wichtige Elemente der „London Challenge“ versuchen die sieben Bundesländer und Österreich seither in verschiedenen Projekten umzusetzen und tauschen dabei über das Netzwerk regelmäßig ihre Erfahrungen aus.

Berlin: Nicht die Einzelschule entwickeln, sondern die ganze Region

Kose hatte zuvor in Berlin das inzwischen abgeschlossene Projekt „School Turnaround“ begleitet. Zehn Schulen, die sich in einer Abwärtsspirale von Schuldistanz, Gewalt und Schulabbrechern befanden, wurden durch gezielte Prozessbegleitung und weitere Unterstützungsmaßnahmen gestärkt. Die beteiligten Schulen erreichten in nur vier Jahren ihre selbst gesteckten Ziele, einzelne wurden zu Schulen mit einer Übernachfrage durch die Familien im Kiez.

Doch der Erfolg einzelner Schulen hat durchaus auch einen Haken. „Wenn wir einen Schulstandort stärken, laufen wir Gefahr, andere umliegende Schulen zu schwächen“, sagt Kose. Schülerinnen und Schüler aus bildungsorientieren Elternhäusern sammeln sich an der Vorzeigeschule, die soziale Mischung an den anderen Schulen sinkt weiter ab. „Eine wichtige Erkenntnis aus der Lernreise nach London war, nicht mehr nur die Einzelschule, sondern die Schule im System zu sehen“, sagt Kose.

So entstand in Berlin das Projekt „Eine Region wird besser“. Es geht nicht mehr um die Entwicklung einer Schule, sondern darum, dass sich Schulen einer Region untereinander vernetzt entwickeln. In dem Projekt waren Schulen der Bezirke Treptow-Köpenick, Neukölln und Charlottenburg-Wilmersdorf mit unterschiedlichen Sozialräumen und Ausgangslagen vertreten.

„Das Neue dabei ist, dass die Fortbildungen gemeinsam in bezirksübergreifenden Teams erfolgten, sodass ein prozessbegleitender Austausch zwischen Schulen und den schulaufsichtlichen Dienststellen  möglich wurde"
Christiane Kose, Senatsverwaltung für Bildung in Berlin

Im Fokus stand vor allem die Qualifizierung von Schulaufsichten und Schulleitungen mit Blick auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler. Das Neue dabei ist, dass die Fortbildungen gemeinsam in bezirksübergreifenden Teams erfolgten, sodass ein prozessbegleitender Austausch zwischen Schulen und den schulaufsichtlichen Dienststellen  möglich wurde“, erklärt Kose.

Ein weiterer Knackpunkt ist eine langfristig angelegte Prozessbegleitung. „Das ist wichtig, denn die Alltagsarbeit gerade an Schulen in kritischer Lage ist so fordernd, dass dadurch oft strategische Ziele aus dem Blick geraten“, sagt Kose. Zunächst konzentrierte sich das Projekt in Berlin auf die Führungsaufgaben: Schulleitungen und Schulaufsichten und deren dialogorientierte, zielgerichtete Zusammenarbeit. Sowohl die Teamentwicklung in schulischen Steuergruppen als auch in den Dienststellen der Schulaufsicht waren Schwerpunkte der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Prozesses, ausgerichtet an der Frage „Welchen Unterricht bzw. welche Schule benötigen diese Schülerinnen und Schüler, um erfolgreich lernen zu können?“.

Sowohl der reflektierte Umgang mit schulischen Leistungsdaten als auch die Auseinandersetzung zu der Frage „Was ist guter Unterricht für die Schülerinnen und Schüler an diesem jeweiligen Schulstandort?“ waren die Leitideen. Das ist aber erst ein Anfang. Ziel ist es, Schulen untereinander weiterhin stärker in den Austausch zu bringen und Netzwerkarbeit zu fördern. In Berlin widmet sich die Qualitätsagentur proSchul dieser Aufgabe.

Einzelne Schulen aus dem Projekt „Eine Region wird besser“ arbeiten in einem zweiten Projekt zu Designbasierter Schulentwicklung (DBSE) mit, das gemeinsam von der Robert Bosch Stiftung und der Bildungsverwaltung gestartet wurde. Das Projekt basiert auf den Arbeiten des Bildungsforschers Rick Mintrop  von der Universität Berkeley, California.

Österreich: Schulaufsicht wird zu Qualitätsmanagement

Auch Österreich hatte sich das Londoner Modell in den vergangenen Jahren näher angesehen und dabei ein besonderes Augenmerk auf die Prozessbegleitung gelegt. Im Projekt „London Challenge“ hatte jede Schule von Beginn an einen Berater oder eine Beraterin an die Seite bekommen, der bzw. die mit dem jeweiligen Standort einen spezifischen Entwicklungsplan ausarbeitete. Einen ähnlichen Weg geht das Bildungsministerium in Österreich mit dem Projekt „100 Schulen – 1.000 Chancen“, das im März 2021 in Kooperation mit der Universität Wien startete.

In dem Projekt geht es zunächst mal darum, Schulen in herausfordernden Lagen richtig zuzuhören.
Barbara Pitzer vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Österreich

„In dem Projekt geht es zunächst mal darum, Schulen in herausfordernden Lagen richtig zuzuhören“, erklärt Barbara Pitzer vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Österreich. Am Anfang steht eine genaue Analyse: Warum erzielen einige Schulen überdurchschnittlich gute Ergebnisse, während andere bei ähnlicher Schülerschaft schlecht abschneiden? Wie setzen die Schulen die Ressourcen ein? Welche Maßnahmen wirken nachhaltig? Was wünschen sich die Schulen? Erst in einem zweiten Schritt sollen bedarfsgerecht auch zusätzliche Ressourcen an die Schulen kommen.

Vorausgegangen war eine umfassende Reform der Schulaufsichtsbehörde. Aus den sogenannten Inspektorinnen und Inspektoren wurden Schulqualitätsmanagerinnen und -manager (SQM). Hinter der Umbenennung steckt mehr als ein Etikettenwechsel. Die Funktion der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat sich verändert – eher weg von der Kontrollinstanz und Fachaufsicht, hin zu partnerschaftlicher Unterstützung der Schulleitung. In intensiven Qualifizierungsformaten wurden und werden diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörde zu Qualitätsmanagerinnen und Qualitätsmanagern ausgebildet.

Ihr Wissen geben sie an die Schulleitungen weiter, um diese in ihrer Führungsfunktion zu professionalisieren. Im Projekt „100 Schulen – 1.000 Chancen“ übernehmen die SQM eine entscheidende Rolle in der Begleitung. Sie analysieren gemeinsam mit den Schulen die Bedarfe der einzelnen Standorte und bieten dann Begleitung, Beratung und Unterstützung bei der Anforderung von zusätzlichen Ressourcen im Projekt. Diese können sehr unterschiedlich ausfallen – mal ist es mehr Personal, mal sind es spezifische Fortbildungsangebote oder Unterstützung bei der Gestaltung und Gewinnung von Lernräumen etc. Durch die wissenschaftliche Begleitung des Projekts „100 Schulen – 1.000 Chancen“ sollen empirisch gesicherte Erkenntnisse darüber gewonnen werden, was Schulen in besonders herausfordernden Lagen tatsächlich brauchen.

Hamburg: Diagnose und Datenanalyse, um Kinder gezielt zu fördern

Der Erfolg von London stützte sich auf viele Faktoren. Der Qualitätssprung dort war auch durch die konsequente Nutzung von Datenanalysen möglich geworden. Das gesammelte Datenmaterial wurde heruntergebrochen auf jeden Schüler und jede Schülerin, um diese gezielt zu fördern. Leistung rückte ins Zentrum – unter dem Motto „You can do it. You can do it even better“. Hamburg gilt in Deutschland als Vorreiter bei der Schulentwicklung auf Grundlage systematisch erfasster Daten. Der Stadtstaat ist mit seinem Projekt „23+ Starke Schulen“ wie auch Berlin und Österreich in dem Netzwerk vertreten. Erst im April haben sich die Mitglieder des Entwicklungsnetzwerks in einem digitalen Treffen die Erfahrungen der Hamburger genauer angesehen.

Lernstandserhebungen sind in Hamburg schon lange flächendeckend etabliert. Der Vergleichstest „KERMIT“ etwa ermittelt die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in sechs Jahrgangsstufen. Entscheidend ist aber nicht die Erhebung, sondern das, was die Schulen aus den Daten ableiten.

„Eine gute Datenlage ist wichtig für eine gezielte Förderung der Schülerinnen und Schüler“, sagt Julia Vaccaro, die in der Schulbehörde das Projekt „23+ Starke Schulen“ für Schulen in herausfordernden Lagen mitverantwortet. Die Projektschulen nutzen bei der Diagnostik noch verschiedene weitere Instrumente. Zum Beispiel das „Salzburger Lese-Screening“ (SLS) im Rahmen des Vorhabens „Systematische Leseförderung in der Grundschule“. Die Schulen haben eine tägliche 20-minütige Lesezeit fest im Stundenplan verankert, in der sie eine Reihe von Methoden zur Förderung der Leseflüssigkeit einsetzen. Denn: Nur wer flüssig lesen kann, hat den Kopf frei, um das Gelesene auch zu verstehen.

Mit dem „Salzburger Lese-Screening“, einer Art Speed-Test, überprüfen die Schülerinnen und Schüler innerhalb von drei Minuten so viele Aussagen wie möglich auf ihren Wahrheitsgehalt. Bei einer festgelegten Reihe von einfachen Aussagen sollen sie schnell entscheiden, ob diese richtig oder falsch sind – beispielsweise „Schnee ist rot“ oder „In einem Wald stehen viele Bäume“. Je nach Altersstufe können die Lehrkräfte dann anhand einer Tabelle den Lesequotienten ablesen, der Aufschluss über die Lesefähigkeit im Vergleich zur Normstichprobe gibt.

Das Programm wird in Kooperation mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern durchgeführt, sodass die Wirksamkeit der Methoden ständig evaluiert wird. Methoden und Diagnostik wurden im Kontext der Bund-Länder-Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift“ (BiSS) entwickelt und eingesetzt.

 

Wenn die Lehrkräfte genau wissen, wo die Lücken bei den Kindern entstanden sind, können sie gezielt dort ansetzen
Julia Vaccaro von der Schulbehörde Hamburg

Ein ähnliches Vorgehen gibt es in den Hamburger „23+ Schulen“ auch in Mathematik mit dem Programm „Mathe sicher können“. Das Programm wurde von der Professorin Susanne Prediger am Deutschen Zentrum für Lehrerbildung Mathematik (DZLM) entwickelt, erprobt und evaluiert. Auch hier steht am Anfang die Diagnostik von leistungsschwachen Matheschülerinnen und -schülern. „Wenn die Lehrkräfte genau wissen, wo die Lücken bei den Kindern entstanden sind, können sie gezielt dort ansetzen“, sagt Julia Vaccaro. Wer in der fünften Klasse nicht mitkommt, habe vielleicht schon in der zweiten Klasse einen wesentlichen Schritt verpasst, was das anschlussfähige Lernen unmöglich mache. Das könne man nur herausfinden, wenn man sich Zeit für eine gründliche Diagnose nimmt. Dazu gibt es eine mehrjährige Qualifizierung für die Lehrerinnen und Lehrer, die in Hamburg durch eine Kooperation vom Landesinstitut und der Schulbehörde angeboten wird.

Alle Beteiligten im Entwicklungsnetzwerk sind sich einig: Ein so konsequenter Wandel wie in London ist nur durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen möglich gewesen. Welche dazugehören, darüber werden die Mitglieder abschließend am Jahresende in einem Netzwerktreffen beraten. Ihre Erkenntnisse sollen die Netzwerkarbeit überdauern und können in die Bund-Länder-Initiative „Schule macht stark“ einfließen.

Auf einen Blick

  • Die Definition von „Schulen in kritischer Lage“, wie sie die Robert Bosch Stiftung verwendet, lautetet folgendermaßen: „Schulen in sozial deprivierter Lage weisen einen hohen Anteil benachteiligter Schüler aus bildungsfernen Familien auf. Fehlt es diesen Schulen an der erforderlichen Organisations- und Unterrichtsqualität, sprechen wir von ,Schulen in kritischer Lage‘. Sie schaffen es dann nicht, ihre Schüler systematisch zu bestmöglichen Lernerfolgen zu führen.“
  • Das „Entwicklungsnetzwerk zur Unterstützung für Schule in kritischer Lage“ wurde 2015 von der Robert Bosch Stiftung ins Leben gerufen. Beteiligt sind sieben Bundesländer und Österreich. Die Vertreterinnen und Vertreter aus verschiedenen Institutionen wie Schulverwaltung, Schulaufsicht oder Landesinstitute tauschen ihre Erfahrungen aus und erproben gemeinsam Lösungsansätze, um Schulen zu helfen, die vor besonders großen sozialen Herauforderungen stehen.
  • Das Projekt läuft in diesem Jahr aus. Die gewonnenen Erkenntnisse können aber weiter von der im Januar 2021 gestarteten Bund-Länder-Initiative „Schule macht stark“ genutzt werden.

 

Die London Challenge

2003 rief die britische Labour-Regierung das Programm „London Challenge“ ins Leben. Mit einer Reihe von Maßnahmen verfolgte man das Ziel, die staatlichen Londoner Sekundarschulen zu entwickeln, die zu dieser Zeit im Vergleich zum Rest des Landes in Vergleichstests schwächer abschnitten. Innerhalb von acht Jahren sollten insbesondere die Standards der leistungsschwächsten Schulen (genannt „Key to Success“-Schulen) angehoben werden.