„PArcours“ : Was bringen Eignungstests im Lehramtsstudium?

Seit 2009 haben Lehramtsstudierende an der Universität Passau vor Beginn des Studiums die Möglichkeit, freiwillig ein Eignungsverfahren zu durchlaufen. Der „PArcours“ ist bislang das einzige Angebot dieser Art in Deutschland. Entwickelt hat ihn Norbert Seibert, Lehrstuhlinhaber für Schulpädagogik, mit seinem Team. Aus seiner Sicht sind 40 Prozent der Lehrkräfte für den Beruf ungeeignet. Das zeige sich schon im Studium und spiegele sich später in der hohen Burn-out-Quote unter Lehrkräften. Das Schulportal sprach mit dem Passauer Professor über die Erfahrungen mit dem Eignungsverfahren, über Grundvoraussetzungen für den Lehrerberuf und falsche Schwerpunktsetzungen im Studium.

Lehrer im Klassenraum Eignungsverfahren im Lehramtsstudium
Lehrkräfte müssen gern mit Kindern arbeiten. Diese Grundvoraussetzung bringen aber nicht alle Studierenden mit.
©Drazen/iStock

Deutsches Schulportal: Seit zwölf Jahren gibt es den „PArcours“ für angehende Lehramtsstudierende. Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Eignungsverfahren gemacht?
Norbert Seibert: Eine empirische Auswertung ist schwierig, weil der Test auf freiwilliger Basis beruht. Das heißt, wir haben nie einen ganzen Jahrgang, der sich testen lässt. Aber ich halte Eignungsverfahren für unbedingt notwendig im Lehramtsbereich. Wie mein Kollege, der Erziehungswissenschaftler Udo Rauin von der Universität Frankfurt, in einer Langzeitstudie bereits 2007 feststellte, wählen bis zu 60 Prozent der Lehramtsstudierenden das Studium als Notlösung, weil vielleicht der Numerus clausus im Wunschfach zu hoch ist oder sie unentschieden sind oder, wie Passauer Studien zur Berufswahlmotivation zeigten, weil sie die Verbeamtung vor Augen haben und einen festen Arbeitsplatz suchen.

Die meisten wissen aber nicht genau, was der Lehrerberuf tatsächlich bedeutet und welche Aufgaben zu bewältigen sind. Sie gehen von der eigenen Schulzeit aus und glauben, das gehe so weiter – nur aus einer anderen Position. Aber so einfach ist es nicht.

Abbrecherquote im Lehramtsstudium liegt bei 40 Prozent

Inwieweit hilft da ein Eignungsverfahren?
Durch ein Eignungsverfahren können Studierende selbst erkennen, ob sie die nötigen Ressourcen mitbringen. Und wenn Eignungstests verbindlich wären, würde es weniger Studienabbrecherinnen und Studienabbrecher geben. Wir wissen, dass in ganz Deutschland die Abbrecherquote im Lehramtsstudium bei durchschnittlich etwa 40 Prozent liegt. Eine Studie aus Mecklenburg-Vorpommern hat an der Universität Rostock einen Schwund im Lehramtsstudium von 67 Prozent und an der Universität Greifswald von 83 Prozent festgestellt. Der Schwund umfasst allerdings nicht nur den Studienabbruch, sondern auch Wechselbewegungen innerhalb des Lehramtsstudiums.

Das können wir uns angesichts des Lehrermangels nicht leisten, und es ist herausgeworfenes Geld. Pro Semester kostet das Lehramtsstudium beispielsweise in Passau pro Studienplatz etwa 5.000 Euro. Wenn man durch Eignungsverfahren mehr Studienabbrüche vermeiden könnte, würde man viel Geld sparen. Und später im Beruf würden möglicherweise nicht so viele Lehrerinnen und Lehrer ein Burn-out bekommen.

Sie haben schon oft gesagt: 40 Prozent der Lehrkräfte seien ungeeignet für den Beruf. Eine hohe Quote – wie kommen Sie darauf?
Meine Einschätzung stützt sich auf zwei Quellen: Udo Rauin hat in der Langzeitstudie beschrieben, dass 30 Prozent der Lehrkräfte für den Beruf nicht geeignet sind. Der inzwischen emeritierte Kollege Uwe Schaarschmidt von der Universität Potsdam hat 20.000 Lehrerinnen und Lehrer befragt und kam in der „Potsdamer Lehrerstudie“ zu dem Schluss, dass sogar 60 Prozent im Lehrerberuf – und auch schon im Studium – den Aufgaben nicht gewachsen sind.

Und wenn Lehrkräfte überfordert sind, sind sie aus meiner Sicht nicht geeignet, und möglicherweise dadurch auch anfälliger für ein Burn-out. Eine wesentliche Erkenntnis von Uwe Schaarschmidt ist: Es sind nicht die besten Lehrerinnen und Lehrer, die ausbrennen, weil sie mit ihrem Engagement ständig über Grenzen gehen, sondern es sind vor allem diejenigen von Burn-out betroffen, die den Aufgaben nicht gewachsen sind.

Ich wäre nicht für ein Auswahlverfahren, wenn man die pädagogischen Fähigkeiten im Studium lernen könnte.

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Ressourcen, die angehende Lehrkräfte mitbringen müssen?
Es sind vor allem die „Big Five“, die in der Psychologie als Dimensionen der Persönlichkeit eines Menschen genannt werden:

  • Neurotizismus: Dahinter steht ein emotionales, eher nervöses, ängstliches, unsicheres Auftreten – davon sollte man am besten wenig haben.
  • Extraversion: Das bedeutet so viel wie gesellig, heiter, positiv gestimmt – davon sollte man möglichst viel haben.
  • Offenheit für Erfahrungen: Diesen Faktor braucht man unbedingt im Lehrerberuf. Nehmen wir nur mal die Corona-Pandemie oder die Flüchtlingskrise – da war nichts vorher geplant. Ohne die nötige Offenheit für neue Situationen konnten Lehrkräfte keine kreativen Lösungen finden.
  • Verträglichkeit: Das meint ein empathisches, verständnisvolles und auch kooperatives Auftreten. Das ist sehr wichtig im Lehrerberuf.
  • Gewissenhaftigkeit: Auch das braucht man als Lehrerin oder Lehrer. Studien zur Lehrerpersönlichkeit, beispielsweise von Johannes Mayr und Georg Hans Neuweg, bestätigen, dass es vor allem die Gewissenhaftigkeit, ein geringer Neurotizismus und die Extraversion sind, die besondere Bedeutung bei der lehrerbezogenen Berufszufriedenheit haben.

Diese Persönlichkeitsfaktoren spielen auch bei der Berufswahlmotivation eine wichtige Rolle. Wer in den Lehrerberuf will, sollte sich fragen: „Warum will ich den Beruf ergreifen, was bringe ich mit?“ Und ganz wichtig ist natürlich auch, dass angehende Lehrkräfte gern mit Kindern arbeiten wollen und Freude am gemeinsamen Lernen haben. Hier ist die sozial-kommunikative Kompetenz gefragt, die sich in der Bereitschaft zur Rücksichtnahme und Empathie und der Durchsetzung eigener Interessen ausdrückt.

Teilnahme am Eignungsverfahren ist freiwillig

Aber tatsächlich stehen die Fächer im Lehramtsstudium im Vordergrund.
Das ist richtig. Wer Lehramt studiert, muss eigentlich schon eine geborene Erzieherin oder ein geborener Erzieher sein. Denn die so wichtigen Persönlichkeitsmerkmale sind einerseits bis Mitte 20 relativ stabil ausgebildet, anderseits weist die psychologische und pädagogische Ausbildung in Bayern nur einen sehr geringen Studienanteil auf. Im Lehramtsstudium für Gymnasien entfallen in Bayern auf die zwei Fächer 182 Punkte, aber nur 25 Punkte auf die Erziehungswissenschaften.

Ich wäre nicht für ein Auswahlverfahren, wenn man die pädagogischen Fähigkeiten im Studium lernen könnte. Aber das kann man nicht, weil das Lehramtsstudium vor allem als fachwissenschaftliche Ausbildung angelegt ist. Daher müssen wir zu Beginn des Studiums schon genau schauen, was wer mitbringt. Die genannten Persönlichkeitsfaktoren lassen sich allerdings nicht mehr stark entwickeln, die müssen tatsächlich schon zu einem gewissen Grad vorhanden sein.

Das Eignungsverfahren ist freiwillig. Wie viele der angehenden Lehramtsstudierenden nehmen das Angebot wahr?
Etwa 15 Prozent eines Jahrgangs machen den „PArcours“, das sind je nach Stärke des Jahrgangs 50 bis 80 Studierende. Es kommen in der Regel zwei Gruppen: die, die sehr gut sind, und diejenigen, die wirklich ungeeignet sind. Das sind etwa drei bis vier Prozent dieser freiwilligen Gruppe. Die erkennen wir meist sehr schnell. Sie haben Defizite im Auftreten, in der Reflexion, und oft fehlt auch der Bezug zum Kind.

Wir raten Studentinnen und Studenten aber nicht ab, wenn wir sehen, dass es Entwicklungspotenzial in zu erlernenden Kompetenzen gibt. Je nachdem wo wir Bedarf sehen, geben wir dann Empfehlungen, was die- oder derjenige verbessern könnte. Wir raten zum Beispiel zu Kursen für Stimmbildung, Rhetorik oder Konfliktmanagement. Solche Angebote gibt es an der Universität Passau im Zentrum für Karriere und Kompetenzen (ZKK). Allerdings ist die Teilnahme an solchen Kursen freiwillig, und es gibt dafür keine Leistungspunkte.

Eignungsverfahren gliedert sich in drei Aufgaben

Wie erklären Sie sich, dass nur so wenige den „PArcours“ durchlaufen wollen?
Eigentlich ist es eine gute Chance, um sich zu überprüfen. Aber der Aufwand ist schon groß. Der „PArcours“ geht für die Studierenden über einen ganzen Tag, und wir als Beobachtergremium sind oft eine ganze Woche damit beschäftigt. Manche sind auch ängstlich, sich vor einem Gremium darzustellen und sich zu erklären. Und oft ist die Unsicherheit besonders groß, wenn die Berufswahl eben nicht sehr konkret ist.

Wie läuft das Eignungsverfahren ab?
Der „PArcours“ gliedert sich in drei Aufgabenstellungen:

  1. Er beginnt mit einer Selbstpräsentation. Da geht es um die intrinsische Motivation für das Lehramtsstudium und um die Eignung für den Beruf. Die Studentinnen und Studenten stellen sie sich in Einzelgesprächen vor dem Gremium vor und benennen ihre vermeintlichen Stärken und Schwächen.
  2. Danach folgt eine Gruppenarbeitsaufgabe: Jede Studentin und jeder Student bekommen ein Blatt mit zehn Aufgaben aus dem Lehreralltag: Zum Beispiel sollen sie Korrekturen zeitnah zurückgeben oder die Kooperation mit dem Elternhaus stärken. Die Studierenden müssen sich zunächst einzeln eine Hierarchie dieser Aufgaben bilden. Dann müssen sie zu viert eine gemeinsame Liste erstellen und diese inhaltlich begründen. Hier erfahren wir zum einen, was sie über den Beruf wissen, zum anderen beobachten wir das Sozialverhalten: Wie agieren die Studierenden miteinander? Lassen sie einander ausreden, geben sie nach, setzen sie sich durch?
  3. In der dritten Aufgabe sehen die Kandidatinnen und Kandidaten einen kurzen Film mit einer schwierigen Unterrichtssituation und sollen im Anschluss die Situation sowohl aus der Perspektive der Lehrkraft als auch der Schülerin oder des Schülers beschreiben. Im nächsten Schritt müssen sie Lösungsvorschläge machen, wie sich die Unterrichtssituation verbessern ließe.

Nach diesen drei Aufgaben gibt es noch einen Interessen- und einen kognitiven Test. Diese Ergebnisse geben uns die Möglichkeit, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Falle eines Abratens Alternativen anbieten zu können. Zum Schluss führen wir mit jeder und jedem ein ausführliches Beratungsgespräch.

Wenn jede und jeder Lehrerin oder Lehrer werden kann, verliert der Beruf an Attraktivität.

Gab es einen konkreten Anlass zur Einrichtung des PArcours?
Ich hatte mich schon lange damit beschäftigt, weil ich seit Jahren sehe, dass das Lehramtsstudium für viele eine Notlösung ist. Und dann gab es noch diese Situation: Während der Vorlesungen gehe ich immer mit einem portablen Mikrofon im Hörsaal herum. Auf einmal sehe ich, dass ein Student über Kopfhörer Musik hört und dabei Zeitung liest. Da habe ich mich gefragt, was das für ein Lehrer werden soll, wenn er offensichtlich kein Interesse am Studium hat. Wie soll er im Beruf bestehen und mit den hohen Anforderungen zurechtkommen?

Ist der Lehrerberuf anspruchsvoller geworden?
Ja. Lehrkräfte müssen heute viel mehr Aufgaben bewältigen – wenn wir nur allein an die wachsende Heterogenität, die Inklusion, die Herausforderungen der Migration oder zuletzt an die Corona-Krise denken. Immer wieder stehen Lehrerinnen und Lehrer vor neuen Herausforderungen und müssen Lösungen finden. In der Corona-Krise mussten sie sich plötzlich vermehrt mit der Digitalisierung befassen. Wer wenig Offenheit für den Umgang mit diesen neuen Abläufen hatte, der oder die war überfordert.  Das heißt, es kommt heute noch mehr darauf an als früher, dass die Studierenden wirklich die Eignung mitbringen.

Universität Passau hat Neuland betreten

Mit dem Eignungstest für Lehramtsstudierende hat die Uni Passau 2009 Neuland betreten. Gibt es ein solches Eignungsverfahren mittlerweile auch an anderen Universitäten?
Online-Verfahren und Selbsteinschätzungstests gibt es auch an anderen Universitäten und Tests zum Fachwissen ebenfalls. Aber wir sind bislang in Deutschland immer noch die einzige Universität, die zur Persönlichkeitsstruktur Selbst- und Fremdbeobachtungen im Lehramtsstudium macht.

Kann ein Eignungsverfahren wie der „PArcours“ das Studium aus Ihrer Sicht attraktiver machen?
In Finnland gibt es Eignungstests schon viel länger. Jedes Jahr gibt es etwa 2.000 Bewerberinnen und Bewerber, und von ihnen werden nur zehn Prozent genommen. Das Ansehen der Lehrkräfte ist dort viel höher – obwohl sie weniger verdienen als in Deutschland. Ich bin der Ansicht: Wenn jede und jeder Lehrerin oder Lehrer werden kann, verliert der Beruf an Attraktivität. Aber dieser Beruf ist etwas Besonderes – und längst nicht alle bringen die nötigen Ressourcen mit.


Anmerkung der Redaktion:
In einer früheren Version des Interviews hieß es mit Verweis auf die Studie aus Mecklenburg-Vorpommern, dass 67 Prozent der Lehramtsstudierenden an der Universität Rostock und 83 Prozent an der Universität Greifswald ihr Studium abbrechen. Tatsächlich beziehen sich die Zahlen aber nicht nur auf diejenigen, die das Lehramtsstudium abbrechen, sondern umfassen auch diejenigen, die Studienfächer – zum Teil auch innerhalb des Lehramtsstudium – wechseln.

Zur Person

  • Norbert Seibert ist Lehrstuhlinhaber für Schulpädagogik an der Universität Passau. Das Fach Schulpädagogik ist Teil des erziehungswissenschaftlichen Studiums in den Studiengängen für das Lehramt.
  • 2009 hat der Erziehungswissenschaftler das Programm „PArcours“ ins Leben gerufen. Bei dem diagnostischen Eignungsverfahren können sich Studierende vor Beginn des Lehramtsstudiums freiwillig einem Test unterziehen.
  • Schwerpunkte der Forschung am Lehrstuhl für Schulpädagogik sind unter anderem die Lehrerbildung, die Internationalisierung im Lehrberuf sowie die Ausbildung von „LernPAten“.
  • Seibert hat zunächst ein Lehramtsstudium für Grund- und Hauptschulen absolviert und sich 1994 in Schulpädagogik habilitiert. Danach war er Mitglied in Arbeitskreisen des heutigen Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung in Bayern (seinerzeit Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung), bevor er 1997 an die Universität Passau kam.