Problemfach für viele : Schwach in Mathe – schwach im Job
Die Leistungen vieler Schüler in Mathematik sind schlecht. Corona verschärft die Lage. Das hat Folgen für den Fachkräftemangel.


„Das Bildungssystem ist schwer angeschlagen.“ Das sagte kürzlich der Direktor des IPN – Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, Olaf Köller, als er das „MINT Nachwuchsbarometer 2021“ vorstellte. Die Leistungen vieler Schüler seien in der Pandemie deutlich zurückgefallen. Nach der Pandemie wird nach Köllers Einschätzung ein Drittel der Schüler deutliche Rückstände haben. Sie müssten zuverlässig identifiziert werden, die Politik dürfe Fördergeld nicht mit der Gießkanne verteilen. Besonderes Augenmerk sei zudem auf die Erstklässler zu richten, auf die Schüler am Übergang zur nächsten Schulstufe und auf Deutsch und Mathematik.
Regelmäßig schaut sich Köller im Auftrag der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und der Körber-Stiftung an, wie es um den für Wirtschaft und Gesellschaft immer wichtiger werdenden Nachwuchs in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (Mint) bestellt ist. Da gab es schon vor Corona Grund, sich Sorgen zu machen – nach einem Jahr mit Schulschließungen, Fern- und Wechselunterricht sind sie noch mal gewachsen.
Mangel in Ingenieurberufen
Köllers Problemliste ist lang: Der Informatikunterricht kränkele, die Mint-Ausbildung sei in die Krise gerutscht, zu viele Mint-Studierende brächen das Studium ab. Und: Die Kenntnisse in Mathematik und Naturwissenschaften ließen weiterhin stark zu wünschen übrig. So sind nach der Timss-Vergleichsstudie die Leistungen der deutschen Viertklässler in Mathematik seit 2011 zurückgegangen, und die Gruppe der besonders leistungsschwachen ist bis 2019 auf gut 25 Prozent angewachsen. Klein ist hingegen mit 6 Prozent die Spitzengruppe. Unter den Neuntklässlern zeigte in der Pisa-Studie von 2018 gut ein Fünftel schlechte Leistungen in Mathematik. Für sie sei keine Mint-Ausbildung möglich, erklärt Köller. Deutschland leiste sich gut 20 Prozent in Mathematik extrem schwache Jugendliche am Übergang in den Ausbildungsmarkt.
Dass sich der Fachkräftemangel gerade in den für die Wirtschaft immer wichtiger werdenden Ingenieur- und Informatikberufen weiter verschärfen wird, befürchten der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) und das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Der schulischen Ausbildung, vor allem in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern, komme deshalb eine hohe Bedeutung zu, heißt es im „Ingenieurmonitor“ von VDI und IW. Doch habe die Pandemie die Lage noch mal verschlechtert. Auch wenn es für Deutschland noch keine Untersuchungen über die genauen Auswirkungen der Schulschließungen und des Distanzunterrichts gibt, sind deutliche Defizite wahrscheinlich, wie das IW in einer Analyse ausführt. Studien aus Belgien und den Niederlanden deuteten darauf hin, dass im Distanzunterricht kein wesentlicher Lerngewinn entstanden sei.
Mathematik sei eine Grundkompetenz für eine Studienaufnahme im Mint-Bereich, sagt Ingo Rauhut, der im VDI für Beruf und Arbeitsmarkt zuständig ist. Ein Ingenieurstudium bestehe zu mindestens 50 Prozent aus Mathematik, nicht selten sogar zu 70 bis 80 Prozent. „Ein Ingenieurstudium beginnt nur, wer in der Schule positive Erfahrung mit Mathematik gemacht hat.“ Weil nun vor allem mehr Schüler aus bildungsfernen Schichten in Mathematik zurückfielen, nähmen womöglich weniger junge Leute ein Ingenieurstudium auf – schließlich sei es immer auch ein Aufsteigerstudium für Jugendliche aus Nichtakademikerhaushalten gewesen.
Auch die Schüler selbst äußern sich besorgt über den Mathematikunterricht in der Pandemie. Schon in normalem Zeiten ist das Fach für nicht wenige angstbesetzt – und Nachhilfethema Nummer eins. Hinzu kommt: Gerade in Mathematik können viele Eltern, deren Bedeutung für das Lernen ihrer Kinder in der Pandemie noch mal gestiegen ist, nicht helfen, vor allem wenn der Nachwuchs in eine höhere Klasse geht. Nach einer Umfrage der Lern-App Simple Club von Ende Januar unter 12- bis 19-Jährigen hat Mathematik mit Abstand am meisten unter den Einschränkungen gelitten. Knapp 36 Prozent der Befragten sagten, das Fach bereite die meisten Probleme. Auf Platz zwei und drei folgten die Fremdsprachen und die Naturwissenschaften mit jeweils rund 16 Prozent. Deutsch nannten gut 9 Prozent.
Gloria Beckers Schüler dürften das anders sehen. Becker wurde von der Deutschen Mathematiker-Vereinigung als herausragende Lehrerin ausgezeichnet. Die Pädagogin, die am Neuen Gymnasium in Bochum Mathematik und Latein unterrichtet, legt viel Wert auf einen abwechslungsreichen Unterricht. „Am schönsten ist es, wenn die Schülerinnen und Schüler untereinander mathematische Probleme und Lösungen diskutieren, wenn sie mathematisch argumentieren. Dann haben sie den Stoff verstanden“, sagt Becker. Wann immer möglich stellt sie Aufgaben aus der Erfahrungswelt der Jugendlichen. „Dann erkennen sie den Sinn und Zweck.“ Für die erste Stunde in der fünften Klasse nach dem ersten Lockdown brachte sie jedem Kind ein Stück Klopapier mit. Das half bei der Behandlung der Rechtecksform und der Berechnung von Flächeninhalten.x
„Das geht auch in der Oberstufe“, sagt Becker, „sogar fast noch besser.“ Bei der Behandlung der Exponentialfunktion bietet zum Beispiel die Ausbreitung des Coronavirus eine gute Anschauung. Geht es um die bedingte Wahrscheinlichkeit, kann man sich anschauen, ob ein positiver Selbsttest bedeutet, dass man wirklich Covid hat. Zum Thema Kurvendiskussion könne man Pudding abkühlen lassen und dann die Temperatur im Zeitverlauf messen und von Hand die Temperaturkurve zeichnen, berichtet Becker.
Besonders gut präge es sich ein, wenn die Schüler den Pudding danach äßen, sagt Beate Klompmaker vom Netzwerkbüro Schule-Hochschule der Mathematiker-Vereinigung. „Denn im Unterricht Sinneskanäle anzusprechen sind Erfolgsfaktoren für gutes Lernen.“ Das Verständnis für Zahlen steige, wenn man es an sensomotorische Erfahrung knüpfe, wenn man zum Beispiel das Zählen verkörperliche. „Finger haben eine Schlüsselfunktion, wenn es darum geht, Mathematik zu verstehen“, erklärt Klompmaker. So sei es normal und wichtig, dass kleine Kinder mit den Fingern zählten. „Das Bewusstsein benötigt einen Körper; das nennt man Embodiment.“ Solche verkörperlichten Erfahrungen würden bis ins Alter weitergereicht und beispielsweise in der Demenzforschung genutzt.
Manche Schüler schwer erreichbar
In Zeiten des Fernunterrichts ist diese Art des Lernens freilich schwieriger zu verwirklichen. Und doch könne sie auch derzeit effektiv unterrichten, sagt Becker. Dabei seien die Videokonferenzen wichtig. „Es ist gut, sich zu sehen.“ Per Videokonferenz vermittelt sie Stoff. Dann schalten die Schüler ihre Geräte aus und lernen selbst. „Den ganzen Vormittag vorm Rechner zu sitzen wäre zu viel“, sagt Becker. Der Online-Unterricht sei allerdings viel stärker gelenkt als der Präsenzunterricht. Die Schüler könnten folgen, es fehle aber das Offene. „Man kann zwar auch in Microsoft Teams Partner- oder Gruppenarbeit machen. Das ist aber nicht dasselbe wie im Klassenraum an einem Tisch zu sitzen.“
Becker ist überzeugt, dass ihre Schüler auch jetzt Lernfortschritte machen, die meisten jedenfalls. „Bei vielen Schülern klappt es wirklich hervorragend, sie sind sehr eifrig und diszipliniert.“ Die sehr guten Schüler brächten noch bessere Leistungen, weil sie die Zeit sehr effektiv nutzten. „Da müssen auch die Eltern wenig machen.“ Am anderen Ende befänden sich nicht wenige Schüler, etwa ein Fünftel, die nur sehr schwer erreichbar seien. „Ich lade Aufgaben und kleine Testformate hoch, und manche bearbeiten das überhaupt nicht. Sie sind in der Videokonferenz eingewählt, haben aber die Kamera aus und reagieren gar nicht.“
Aus Beckers Sicht ist es gut möglich, Mathematik aus der Ferne zu unterrichten. Sprachen mithilfe von Videokonferenzen zu vermitteln sei schwieriger: „Untereinander Dialoge zu führen ist kaum möglich.“ Mathematik sei aus der Distanz nicht schwieriger zu unterrichten als andere Fächer, eher im Gegenteil, sagt auch Wissenschaftler Köller. Regelmäßige Stillarbeitsphasen seien in Mathematik ohnehin sinnvoll, und es gebe gerade für dieses Fach gute digitale Lernprogramme.
Schlechte Noten für die Wirtschaftsbildung in der Schule
Um die ökonomische Bildung ist es an Deutschlands Schulen nach wie vor schlecht bestellt. Das zeigt eine Studie des Instituts für Ökonomische Bildung (IÖB) an der Universität Oldenburg im Auftrag der Flossbach von Storch Stiftung. „In keinem Bundesland gelingt es, ökonomische Bildungsinhalte so in den Lehrplänen zu verankern, dass sie vom Umfang her einem normalen Nebenfach entsprechen“, erklärt IÖB-Forscher Dirk Loerwald. Elf von 16 Bundesländern erfüllten nicht einmal die Hälfte der Anforderungen, die für ein normales Nebenfach gelten müssten. Am besten schneiden in der Untersuchung Niedersachsen, Baden-Württemberg und Bayern ab, am schlechtesten Rheinland-Pfalz, Sachsen und das Saarland. Das Drama beginne an Hochschulen, sagt Loerwald. Es würden nicht genügend Lehrkräfte ausgebildet; es mangele an fachdidaktischen Professuren; ökonomische Inhalte seien in den Lehramtsstudiengängen zum Teil Mangelware. Alls das verhindere eine professionelle grundständige Lehrerbildung.