Pandemiefolgen an Förderschulen : „Mein Sohn konnte 13 Monate nicht in die Schule gehen“

An Förderschulen fiel in der Pandemie noch mehr Unterricht aus als an anderen Schulen. Und häufig wurde den Schülerinnen und Schülern auch in Zeiten, in denen die meisten Schulen in Deutschland wieder in Präsenz arbeiteten, weniger Unterricht angeboten als vor der Pandemie. Das beschreibt der Elternverein „mittendrin e.V.“ in einer Stellungnahme für den Landtag in Nordrhein-Westfalen. Viele Eltern behinderter Kinder haben bei der Initiative Hilfe gesucht. Das Schulportal hat bei einer Mutter eines schwer mehrfach behinderten Schülers nachgefragt, wie sich zwei Jahre Pandemie auf sie und ihr Kind auswirken.
ein Junge sitzt im Rollstuhl
Symbolbild: Viele Schülerinnen und Schüler an Förderschulen traf die Pandemie besonders hart.
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Der 11-jährige Lukas* ist schwer mehrfach behindert und besucht normalerweise eine Förderschule. Während der zurückliegenden zwei Jahre der Pandemie konnte er allerdings 13 Monate nicht in die Schule gehen. Distanzunterricht fand nicht oder nur sehr rudimentär statt. Bis heute gibt es für ihn Einschränkungen im Schulbetrieb. Wie kann das sein?

An Förderschulen ist während der Corona-Pandemie im Schnitt mehr Unterricht ausgefallen als an Regelschulen, Online-Unterricht war oft nicht möglich, und auch in den Phasen des Wechselunterrichts waren die Schülerinnen und Schüler häufig nur ein Mal pro Woche in der Schule. Das konstatierte der Verein „mittendrin e.V.“ in einer Stellungnahme für den Landtag in Nordrhein-Westfalen vom Dezember 2021.

Die Mutter von Lukas gehörte zu den vielen Eltern von Kindern an Förderschulen, die während der Pandemie den Verein verzweifelt um Hilfe gebeten haben, weil ihre Kinder nicht beschult werden konnten. Dabei war die Elterninitiative ursprünglich gegründet worden, um die Inklusion von beeinträchtigten Kindern an Regelschulen voranzutreiben. Das Schulportal hat Lukas’ Mutter genauer beschreiben lassen, wie es dazu kam, dass Schülerinnen und Schüler an Förderschulen häufig viel größere Einschränkungen erfahren haben als Kinder und Jugendliche an Regelschulen.

Kein Fahrdienst und keine Schulbegleitung

„Nach der ersten Schulschließung haben wir erst einmal wochenlang gar nichts von der Schule gehört. Auch die Schulbegleitung durfte zunächst nicht nach Hause kommen – mit der Begründung, dass diese nur an Schulen eingesetzt werden dürfe“, erzählt die Mutter.

Von einem Tag auf den anderen musste die alleinerziehende Mutter nun ihren Sohn rund um die Uhr allein betreuen. Jegliche Unterstützung fiel weg, nicht nur der Unterricht und die Ganztagsbetreuung, sondern auch Ergo- und Physiotherapiestunden, die sonst in der Schule stattfinden.

Privat hatte die Mutter sich dann ein paar Tipps von einer Grundschullehrerin eingeholt, woran sie zu Hause mit dem Kind arbeiten könnte. Hinweise von der Schule gab es dazu nicht. Erst kurz vor Ostern 2020 kam dann der erste Anruf von der Schule, in dem sich Lukas’ Lehrerin erkundigte, ob es ihm gut ginge. Mehr nicht.

Als die Schulen später wieder im Wechselmodell öffnen durften, konnte Lukas nur ein Mal pro Woche in die Schule kommen. Die Klasse wurde in fünf Gruppen unterteilt. Die Schwierigkeit bei Lukas: Aufgrund seiner Behinderung kann er keine Maske tragen, deshalb konnte er nicht gemeinsam mit den anderen Schülerinnen und Schülern unterrichtet und zur Schule befördert werden.

In den Sommerferien wurde dann in allen Bundesländern die Rückkehr zum normalen Unterrichtsbetrieb beschlossen. Doch die Hoffnungen für Lukas wurden schnell wieder zerschlagen. „Mit seiner Maskenbefreiung konnte Lukas nicht an der Schülerbeförderung teilnehmen. Außerdem teilte uns die Schule mit, dass er zu Hause bleiben solle, weil er ohne Maske nicht unterrichtet werden könne“, sagt die Mutter. Sie wandte sich an den Verein „mittendrin e.V.“ und schaltete auf deren Anraten die Bezirksregierung ein. Daraufhin musste die Schule ihre Entscheidung korrigieren. Lukas durfte in den Unterricht kommen, die Mutter hatte dennoch das Gefühl, dass er nicht gern gesehen war.

Kurz vor den Weihnachtsferien, als die Präsenzpflicht aufgehoben wurde, hat die Schule die Mutter erneut aufgefordert, ihren Sohn zu Hause zu behalten. Wieder musste sie die Schulaufsicht einschalten, um das Recht auf Schulbesuch für Lukas durchzusetzen.

Im zweiten Lockdown, ab Mitte Dezember 202, lief es etwas besser. Lukas bekam wöchentlich Aufgaben, und die Schulbegleitung konnte ihn auch zu Hause unterstützen; nur war diese nun schon bald nicht mehr vorhanden. Denn als die Schulbegleiterin wegen Krankheit ausfiel, war kein Ersatz zu finden – viele Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter hatten sich beruflich inzwischen anders orientiert.

Bis heute gibt es für Lukas Einschränkungen, und die werden auch nach dem Wegfall der Maskenpflicht nicht ganz aufgehoben sein. Zwar gibt es inzwischen wieder eine Schulbegleitung, und auch der Fahrdienst wird wohl mit dem Wegfall der Maskenpflicht wieder für ihn bereitstehen, aber in seiner Förderschule gibt es einen erheblichen Personalmangel. Die Ganztagsbetreuung findet derzeit gar nicht statt, Lukas muss daher mittags nach Hause gebracht werden.

Erhebliche Rückschritte in der Entwicklung

„Mein Sohn ist durch die zwei Jahre Pandemie in seiner Entwicklung stark zurückgeworfen. Er braucht beim Lernen ständige Wiederholungen, um das Gelernte zu festigen. Aber im Grunde ist Schule für ihn vor allem ein Ort des sozialen Lernens, das ihn darauf vorbereitet, später in einer Behinderteneinrichtung mit anderen gemeinsam zu leben“, sagt die Mutter. Das alles müsse jetzt mühsam wieder von vorn beginnen.

Diese Beobachtungen decken sich mit den Ergebnissen des Deutschen Schulbarometers der Robert Bosch Stiftung. In der repräsentativen Umfrage bekundeten 42 Prozent der Lehrkräfte an Förderschulen, dass ihre Schülerinnen und Schüler zum Schuljahresbeginn 2021/22 deutliche Lernrückstände hatten. Zusätzliches Personal zum Ausgleich der Defizite gab es an den meisten Förderschulen nicht. Viel höher als an allgemeinbildenden Schulen insgesamt schätzen die Lehrkräfte an Förderschulen den Bedarf ein, gezielt auf soziale und psychische Folgen bei den Schülerinnen und Schülern einzugehen.

Eva-Maria Thoms bestätigt als Vorsitzende des Elternvereins „mittendrin e.V.“ in Nordrhein-Westfalen, dass der Erfahrungsbericht von Lukas’ Mutter kein Einzelfall ist: „Oft wurde der Schulbesuch durch den Wegfall des Fahrdienstes oder der Schulbegleitung unmöglich gemacht.“ Zudem seien Förderschulen zu Beginn der Pandemie mit teilweise überzogenen Hygieneauflagen überfordert gewesen, so Thoms. Es habe zwar von Beginn an seitens des Schulministeriums in NRW Ausnahmeregelungen für Schülerinnen und Schüler gegeben, die keine Maske tragen können – sie sollten unbedingt auch unterrichtet werden –, Schulen hätten das damals aber oft eigenmächtig abgelehnt.

„Es gab immer wieder Berichte, dass Eltern gebeten wurden, ihre Kinder ‚zu deren eigenem Schutz zu Hause zu behalten“, so Thoms. Der Distanzunterricht habe Lehrkräfte gerade bei körperlich und geistig behinderten Kindern häufig vor unlösbare Probleme gestellt.

Die Auswirkungen beschreibt „mittendrin e.V.“ in seiner Stellungnahme für den Landtag als tiefen Einschnitt. Durch den plötzlichen Wegfall des gesamten Unterstützungssystems mussten alle Aufgaben „rund um die Uhr und für lange Zeit komplett von der Familie und d. h. in den meisten Fällen von den Müttern übernommen werden. Viele Familien berichten vor allem aus dem Jahr 2020 von erheblichen Verhaltensproblemen und psychischen Auffälligkeiten ihrer Kinder, insbesondere derer mit kognitiven Einschränkungen.“ Die Kinder hätten vor dem kompletten Abbruch ihres Lebensalltags und ihrer sozialen Beziehungen gestanden. Insbesondere bei Schülerinnen und Schülern mit kognitiven Einschränkungen oder schweren körperlichen Behinderungen sei mit erheblichen Lernrückständen und nicht selten mit Rückschritten in der Entwicklung zu rechnen, heißt es in der Stellungnahme. Ähnliches gelte aus anderen Gründen für Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten Lernen und sozial-emotionale Entwicklung, von denen offenbar viele in den Zeiten der Schulschließungen von den Lehrkräften nicht erreichbar gewesen seien. Dadurch habe ein Prozess der Schulentwöhnung stattgefunden.

Politik muss Vorsorge treffen für künftige Krisen

„Uns ist es wichtig, dass im Falle erneuter Einschränkungen des Schulbetriebs durch die Pandemie sich solche Zustände nicht wiederholen“, sagt Thoms. Die Politik müsse reagieren und Vorsorge treffen, was Schulbegleitungen, Fahrdienste und pädagogisches Personal betrifft.

Die Mutter von Lukas hofft, dass es nicht noch einmal zu einer solchen Belastung für ihr Kind und sie selbst kommt: „Die Schule von Lukas hat dazugelernt, die Lehrkräfte sind jetzt engagierter, wenn es darum geht, den Kindern trotz Pandemie den Schulbesuch zu ermöglichen. Und auch für den Distanzunterricht gibt es inzwischen Wochenpläne und Hilfestellungen.“ Was bleibt, ist das Problem des Lehrkräftemangels. Aber immerhin ab Mai soll auch der Ganztagsbetrieb wieder aufgenommen werden.

*Name geändert