Forschung : Mehrsprachigkeit: Lernvorteil oder Risikofaktor?

In fast jeder Schulklasse sitzen Kinder und Jugendliche, die zu Hause nicht (nur) Deutsch sprechen. Häufig gilt ihre „migrationsbedingte Mehrsprachigkeit“ als Risikofaktor. Verschiedene Forschungsergebnisse zeigen aber, dass es sich lohnt, diese Sprachkenntnisse als Gewinn zu betrachten und sie stärker im Unterricht zu nutzen. Das Schulportal gibt einen Überblick über Daten und Forschung.

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Mehrsprachigkeit Wörter in verschiedenen Sprachen an einer Tafel
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©Die Sprachenlandschaft an den Schulen in Deutschland wird immer heterogener.

6.500 bis 7.000 Sprachen werden auf der Welt gesprochen – Mehrsprachigkeit ist ein menschlicher Normalzustand. In Deutschland galt trotzdem lange das Gegenteil als gewünschte Norm: dass Kinder mit einer einzigen Sprache aufwachsen und erst in der Schule weitere lernen. „Die höchsten sprachlichen Leistungen sind nur dem Einsprachigen möglich“, schrieb etwa 1910 der sprachpolitisch aktive Geistliche Eduard Blocher. Die moderne Forschung zu Mehrsprachigkeit zeichnet ein anderes Bild und belegt, dass es Kindern nicht schadet, wenn sie mit mehr als einer Sprache aufwachsen – im Gegenteil.

Allerdings umfasst der Begriff Mehrsprachigkeit ganz unterschiedliche Sprachlernbiografien. Wie gut Jugendliche ihre Sprachen lernen, hängt von vielen Faktoren ab, etwa, in welchem Alter sie mit einer Sprache in Kontakt kommen, wie reich ihr sprachlicher Input ist und welche Sprachen sie wie häufig sprechen. Je nachdem, wie diese Faktoren zusammenwirken, ergeben sich unterschiedliche Sprachstände. In manchen zugewanderten Familien können die überwiegend deutschsprachig sozialisierten Kinder kaum mit ihren Großeltern in deren Herkunftssprache kommunizieren. Andere erreichen sogar eine Mehrschriftlichkeit in beiden oder weiteren Sprachen.

Wie viele Schülerinnen und Schüler sind mehrsprachig?

Deutschlandweit sprechen gut sechs von zehn Kindern zu Hause ausschließlich Deutsch (61,5 %) – diese Zahlen gibt der IQB-Bildungstrend 2021 für den Primarbereich an. 2016 lag der Anteil noch bei fast 73 Prozent, 2011 sogar bei knapp 84 Prozent. Gestiegen ist gleichzeitig der Anteil der Kinder, die zu Hause manchmal oder nie Deutsch sprechen – er lag 2021 bei 36,2 bzw. 2,3 Prozent. Das ist ein Zuwachs von etwa 21 Prozent bzw. 1,4 Prozent innerhalb von zehn Jahren.

Von den 22,3 Millionen Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland sprechen laut Mikrozensus von 2021 zu Hause 7,2 Millionen (32 %) ausschließlich und weitere 3,1 Millionen (14 %) vorwiegend deutsch. Knapp die Hälfte (49 %) aller Personen mit Migrationshintergrund ist mehrsprachig und spricht zu Hause sowohl Deutsch als auch (mindestens) eine weitere Sprache. Neben Deutsch ist Türkisch die am meisten gesprochene Sprache (8 %), danach folgen Russisch (7 %) und Arabisch (5 %).

Der Anteil der Viertklässlerinnen und Viertklässlern, bei denen zu Hause manchmal oder nie Deutsch gesprochen wird, ist indes nicht überall gleich hoch. In Bremen liegt er bundesweit laut IQB-Bildungstrend am höchsten: Hier sprechen etwa 53 Prozent der Kinder in der vierten Klasse zu Hause „manchmal Deutsch“, in Thüringen ist der Anteil mit knapp 20 Prozent am geringsten.

Welchen Fragen geht die Forschung zu Mehrsprachigkeit nach?

Die Forschung zu Mehrsprachigkeit hat im Laufe der Jahrzehnte unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Seit Langem ist etwa gut erforscht, wie Kinder mehrere Sprachen erwerben und verwenden. Aber erst seit einigen Jahren wird untersucht, welche Rolle Mehrsprachigkeit in Bildungskontexten wie Kita oder Schule spielt.

Häufig gilt migrationsbedingte Mehrsprachigkeit als Risikofaktor, wenn Schülerinnen und Schüler weder die Sprache ihres Herkunftslandes noch die deutsche Sprache vollständig lernen. Schulvergleichsstudien zeigen, dass Kinder mit Migrationshintergrund im Schnitt geringere Leistungen erreichen als Kinder ohne Migrationshintergrund. Allerdings kommen bei vielen dieser Schülerinnen und Schüler neben geringeren Kenntnissen in Deutsch weitere Faktoren hinzu, die statistisch ebenfalls einen negativen Einfluss auf den Bildungserfolg haben – vor allem ein niedriger sozioökonomischer Hintergrund und ein geringer Bildungsstand der Eltern.

Eins allerdings zeigt die Forschung sehr klar: Das menschliche Gehirn ist problemlos in der Lage, von Geburt an mehr als eine Sprache sehr gut zu lernen – sofern es genug Input erhält.

In der Praxis ist das jedoch häufig nicht gewährleistet. Das belegt die steigende Zahl an Kindern, die zu Hause vorrangig nicht Deutsch sprechen. In den westlichen Bundesländern liegt ihr Anteil laut Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme bei Kindern zwischen drei Jahren und dem Schuleintritt bei 23 Prozent, im Osten (inkl. Berlin) bei knapp 14 Prozent. Ohne frühzeitige Sprachförderung sprechen diese Kinder beim Schuleintritt nicht ausreichend Deutsch, um dem Unterricht folgen zu können. Anders gesagt: Mögliche Vorteile durch Mehrsprachigkeit kommen nicht zum Tragen, weil eine oder beide Sprachen nicht ausreichend gelernt werden.

Viele Erkenntnisse über die Rolle von Mehrsprachigkeit in der Schule hat das Projekt „Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit“ der Universität Hamburg hervorgebracht. Es umfasste von 2013 bis 2020 verschiedene Forschungsvorhaben, die die Rolle von Mehrsprachigkeit im Bildungssystem ausloten und Ansätze für die Praxis entwickeln sollten.

Wie wirkt sich Mehrsprachigkeit auf das Lernen aus?

Mehrsprachigkeit geht häufig mit einer höheren Sprachbewusstheit einher. Die Hamburger Forschungsstudie konnte zum Beispiel zeigen, dass mehrsprachige Kinder am Ende der Grundschule auf höherem Niveau über Sprache reflektieren können als gleichaltrige einsprachige Kinder. Diese sprachanalytischen Fähigkeiten lassen sich als Ressource beim Lernen nutzen.

Gelingt es, die Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler im Unterricht einzubinden, profitieren die Kinder und Jugendlichen nicht nur sprachlich, sondern auch fachlich. Können sie ihre Sprachkenntnisse im Unterricht einbringen, wirkt sich das zudem positiv auf ihre Motivation und Leistungsbereitschaft aus. Nachteile durch die Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit konnte das Projekt nicht feststellen.

Auch in der DESI-Studie konnte 2008 nachgewiesen werden, dass sich Mehrsprachigkeit beim Erwerb von Fremdsprachen positiv auswirkt. Schülerinnen und Schülern, die bereits Deutsch als zweite oder Fremdsprache erworben haben, fällt das Erlernen der Fremdsprache Englisch vergleichsweise leichter. Das Aufwachsen in einer mehrsprachigen Familie ist unter sonst gleichen Lernbedingungen, wie dem sozialen Hintergrund oder den kognitiven Fähigkeiten, mit einem Leistungsvorsprung verbunden, der den Gewinn mindestens eines halben Schuljahres ausmacht.

Wie können Lehrkräfte mit der Mehrsprachigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler umgehen?

Mehrsprachige Gedichte, Sprachvergleiche, Beschriftungen, Bildergeschichten – in der Schule ergeben sich zahlreiche Anlässe, um die Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler im Unterricht aktiv zu nutzen. Viele davon hat das Projekt MIKS – Mehrsprachigkeit als Handlungsfeld interkultureller Schulentwicklung im Rahmen der Hamburger Forschung untersucht. Die beteiligten Schulen haben dazu im Kollegium Ansätze entwickelt, um Mehrsprachigkeit didaktisch zu nutzen. Ihre Sprachenkonzepte führen verschiedene Bereiche sprachlicher Bildung zusammen: Mehrsprachigkeitsdidaktik, Vermittlung von Deutsch als Zweit­ und Bildungssprache, Lese­ und Schreibunterricht, Herkunftssprachenunterricht, Fremdsprachenunterricht.

Die Lehrkräfte entwickelten durch den Prozess mehr Sicherheit, viele trauten sich danach besser zu, die Mehrsprachigkeit der Kinder konstruktiv in den Unterricht einzubinden – und zum Beispiel bei Sprachvergleichen den Angaben der Kinder über Sprachen zu vertrauen, die sie selbst nicht beherrschten.

Wie verbreitet ist herkunftssprachlicher Unterricht?

Die Forschung zeigt: Je besser Kinder und Jugendliche ihre Herkunftssprache schriftlich beherrschen, desto besser schneiden sie auch im Deutschen ab. Oder mit den Worten der Hamburger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: „Die guten Schreiber/innen in der Studie sind in allen ihren Sprachen gut.“ Das Ergebnis spricht für einen Ausbau herkunftssprachlicher Angebote, ohne die mehrsprachige Kinder und Jugendliche nur selten schriftliche Kompetenzen in ihrer Herkunftssprache erreichen.

Allerdings sind die Angebote für herkunftssprachlichen Unterricht in den Bundesländern sehr unterschiedlich und finden vor allem an der Grundschule statt. In vielen Ländern gibt es neben – staatlichen organisierten – Kursen an Schulen auch Unterrichtsangebote von Konsulaten, deren Inhalte aber kaum der staatlichen Aufsicht unterliegen. Einige Länder bieten nur eine der beiden Varianten an, während es in Sachsen-Anhalt gar keinen herkunftssprachlichen Unterricht und in Thüringen nur außerschulische Angebote gibt.

Auch das Sprachangebot unterscheidet sich stark. Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen können staatlichen Unterricht in 28 Herkunftssprachen besuchen, während Mecklenburg-Vorpommern nur Polnisch im Programm hat. Insgesamt haben im Schuljahr 2019/20 laut Mediendienst Integration – ein Projekt des Rats für Migration – rund 140.000 Schülerinnen und Schüler herkunftssprachliche Angebote besucht.