Neue Oberstufenvereinbarung : „Wir haben ein innovationsfeindliches Klima“

Das Bundesverfassungsgericht hat die Kultusministerkonferenz aufgefordert, mehr Vergleichbarkeit beim Abitur herzustellen, um die Studienzulassung über den Numerus Clausus gerechter zu machen. Die KMK hat im März 2023 eine entsprechende Oberstufenvereinbarung unterzeichnet. Im Vorfeld hat ein Bündnis verschiedener Bildungsinitiativen und Verbände das zum Anlass genommen, auf eine Reform der Oberstufe zu drängen. Friedemann Stöffler von der Initiative Flexible Oberstufe, die die „Potsdamer Erklärung für ein zukunftsfähiges Abitur“ maßgeblich initiiert hat, erklärt im Interview mit dem Schulportal, was an der jetzigen Struktur nicht mehr zeitgemäß ist und wie Schülerinnen und Schüler besser ihre Kompetenzen entfalten könnten.

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Tafel mit Aufschrift "Heute Abitur" als Symbol für mehr Vergleichbarkeit beim Abitur
Die Kulturministerkonferenz muss nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts mehr Vergleichbarkeit beim Abitur schaffen. Über die Umsetzung des Ziels ist eine Debatte entbrannt.
©Sina Schuldt/dpa

Was wollen Sie mit der „Potsdamer Erklärung für ein zukunftsfähiges Abitur“ erreichen?
Trotz des PISA-Schocks vor mehr als 20 Jahren hat sich im deutschen Bildungssystem strukturell nur wenig verändert, und auch im internationalen Ranking hat sich Deutschland in vielen Vergleichsstudien kaum verbessert. Daher halten wir eine Reform für notwendig und wollen die neue Oberstufenvereinbarung der Kultusministerkonferenz zum Anlass nehmen, darüber öffentlich zu diskutieren. Wir brauchen mehr Raum für individuelles Lernen, mehr Raum für individuelle Bildungsbiografien, für andere Prüfungsformate und eine andere Lernkultur.

Wer steckt hinter der Potsdamer Erklärung?
Die Initiative Flexible Oberstufe beschäftigt sich schon länger mit dem Thema. Nun hat sie sich mit anderen Akteuren zu einem Bündnis zusammengeschlossen und die „Potsdamer Erklärung für ein zukunftsfähiges Abitur“ veröffentlicht. Inzwischen gehören fünf Landesschülervertretungen und zehn Initiativen und Verbände dazu, darunter das Institut für zeitgemäße Prüfungskultur, die Initiativen Kreidestaub und Schule im Aufbruch, der Gemeinschaftsschulverband GGG und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Wir haben gesehen, dass wir zusammen mehr Gehör finden, als wenn jeder das Thema einzeln thematisiert.

Vergleichbarkeit beim Abitur muss nicht formale Gleichheit heißen

Was sind Ihre Befürchtungen hinsichtlich der geplanten neuen Oberstufenvereinbarung der Kultusministerkonferenz?
Wir befürchten, dass noch mehr formal reglementiert und ein noch größerer Schwerpunkt auf Klausuren liegen wird. Klausuren wird es weiterhin geben, aber der Anteil ist aus unserer Sicht zu groß, und sie sind auf formale Gleichheit ausgerichtet: Alle Schülerinnen und Schüler bekommen die gleiche Aufgabe, schreiben zur gleichen Zeit und haben gleich viel Zeit zur Verfügung. Vergleichbarkeit ist wichtig, aber die Frage ist doch: Was wollen wir eigentlich vergleichen? Wollen wir vergleichen, wie viele Stunden jemand im Mathematikunterricht gesessen hat oder ob alle 90 Minuten Zeit für Klausuren hatten? Wir brauchen viel mehr kriteriale Bezugsnormen.

Die 21st Century Skills – Kommunikation, Kreativität, Kollaboration, kritisches Denken – lassen sich nicht in herkömmlichen Prüfungsformaten abbilden.

Was heißt das?
Ich will das mal am Beispiel Führerschein klarmachen. Bei der Führerscheinprüfung geht es um Kriterien, an denen wir messen, ob die Person fähig ist, Auto zu fahren und am Verkehr teilzunehmen. Dabei spielt es keine Rolle, wie viele Fahrstunden sie vor der Prüfung gemacht hat und ob sie die Prüfung mehrmals wiederholt hat.

Übertragen auf das Abitur muss es also darum gehen, dass wir Menschen für eine produktive Mitgestaltung unserer Gesellschaft befähigen und dass wir sie auch studierfähig machen. Wir hören doch von Universitäten, dass sie nicht zufrieden sind, wie die Schülerinnen und Schüler heute bei ihnen ankommen. Dabei spielt die Abiturnote nicht die entscheidende Rolle. Es gibt Studierende mit einem sehr guten Abitur, die mit dem selbstständigen Arbeiten an den Universitäten nicht zurechtkommen. Und es gibt andere, die ein weniger gutes Abitur haben, die damit keine Probleme haben.

Kritik: KMK soll nicht hinter verschlossenen Türen arbeiten

Was sind Ihre konkreten Kritikpunkte?
Die Kompetenzen, die junge Menschen für ihre Zukunft brauchen, also vor allem die sogenannten 21st Century Skills – Kommunikation, Kreativität, Kollaboration, kritisches Denken – lassen sich nicht in herkömmlichen Prüfungsformaten abbilden, die auf inhaltliches Wissen ausgerichtet sind und in Klausuren stattfinden, die von Hand geschrieben sind. Wir brauchen zeitgemäßere Prüfungsformate.

Und wir kritisieren auch, dass die Kultusministerkonferenz die neue Oberstufenvereinbarung hinter verschlossenen Türen erarbeitet. Wenn wir wüssten, dass die Kultusministerkonferenz mit dieser Methode bislang erfolgreich gewesen wäre, dann könnte sie das natürlich weiter so machen. Aber sie war damit bisher nicht erfolgreich. Daher fordern wir eine öffentliche Debatte.

Das Problem ist, dass eine flexiblere Zeitstruktur und neue Prüfungsformate in der neuen Oberstufenvereinbarung gar nicht vorkommen. Das ist kein Wandel, kein Paradigmenwechsel. Den brauchen wir aber!

Wie kann denn aus Ihrer Sicht eine größere länderübergreifende Vergleichbarkeit beim Abitur erreicht werden, ohne Gestaltungsspielräume von Schulen einzuschränken?
Es geht gar nicht so sehr um die Gestaltungsspielräume für Schulen, sondern um die Möglichkeiten für Schülerinnen und Schüler, ihre Fähigkeiten bestmöglich zu entfalten und herauszustellen. Die Frage, welche Kompetenzen unsere Schülerinnen und Schüler erreichen sollten, muss immer im Zentrum stehen. Dafür brauchen wir klare Kriterien.

An welchen Stellschrauben könnte man dabei drehen?
Das ist zum einen die Art und Weise, wie geprüft wird, und zum anderen ist das die Zeitstruktur. Wir haben in der Oberstufenvereinbarung festgelegt, dass die Schülerinnen und Schüler alle Kurse, die für das Abitur relevant sind, in zwei Jahren erbringen müssen. Und gesetzt ist auch, dass alle die Abiturprüfungen zur gleichen Zeit machen müssen. Wenn sie bei einer Prüfung durchfallen, können die Schülerinnen und Schüler nicht nur den einzelnen Kurs, sondern sie müssen das ganze Jahr wiederholen. Aber warum?

Das Problem ist, dass eine flexiblere Zeitstruktur und neue Prüfungsformate in der neuen Oberstufenvereinbarung gar nicht vorkommen. Das ist kein Wandel, kein Paradigmenwechsel. Den brauchen wir aber!

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Innovationsklausel in neue Oberstufenvereinbarung einbauen

Sie nennen in der Potsdamer Erklärung auch eine Innovationsklausel, die Sie sich wünschen. Was heißt das?
Innovationen sind kein Strukturmerkmal in unserem Bildungssystem. Im Gegenteil: Wir haben ein innovationsfeindliches Klima. Aus unserer Sicht müssen wir die Schulen aber dazu einladen, neue Dinge auszuprobieren und anderen Schulen dann zugänglich zu machen. Bislang ist es so: Wenn eine Schule einen neuen Weg gehen will, muss sie beim Land einen Schulversuch beantragen. Ein Schulversuch, der die KMK-Vereinbarungen strukturell betrifft, kann allerdings gar nicht beantragt werden. Das ist übrigens auch ein Grund, wieso wir den Namen „Potsdamer Erklärung“ gewählt haben.

Es kann nicht darum gehen, einzelnen Schulen Ausnahmegenehmigungen zu geben. Sondern die KMK muss doch das ganze System davon profitieren lassen.

Das müssen Sie mir erklären.
In Potsdam ist bundesweit die einzige Schule, die Eliteschule des Sports, die ein additives Abitur durchführt. Dort können die Hochleistungssportlerinnen und -sportler Prüfungen früher oder später machen und die Oberstufenzeit auf bis zu vier Jahre strecken, je nachdem, wie es für sie mit den jeweiligen sportlichen Herausforderungen vereinbar ist. Die Schule hat das additive Abitur als Schulversuch gestartet, als das noch möglich war. Inzwischen hat die KMK diesen Schulversuch als Ausnahmeregelung genehmigt – mit dem Ziel, dass die Potsdamer Eliteschule des Sports die einzige Schule bleibt, die so arbeitet. Das ist die Perversion von Innovation. Es kann nicht darum gehen, einzelnen Schulen Ausnahmegenehmigungen zu geben. Sondern die KMK muss doch das ganze System davon profitieren lassen, dass einzelne Schulen innovativ sind.

Flexible Oberstufe kann für Lehrkräfte eine Entlastung sein

Mehr zeitlicher Spielraum für Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe – lässt sich das beim derzeitigen Lehrermangel überhaupt realisieren?
Ganz sicher ist das Konzept, das wir vorschlagen, nicht personalintensiver als das bisherige System. Ein Beispiel: Wenn jemand die Klasse wiederholt, braucht er doch viel mehr Ressourcen von Lehrkräften, als wenn er nur einen Kurs wiederholt. Auch wenn wir mehr digitale Formate hätten und das selbstständige Arbeiten stärker fördern würden, kann das für Lehrkräfte eher eine Entlastung sein. Das hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK auch als Empfehlung vorgeschlagen.

Was sind die nächsten Schritte des Bündnisses, was haben Sie mit der Potsdamer Erklärung weiter vor?
Wir hoffen noch, dass in die neue Oberstufenvereinbarung, die die KMK im März unterzeichnet, eine Innovationsklausel eingebaut wird, damit das System lernfähig wird und sich weiterentwickeln kann. Und wir hoffen auch, dass eine öffentliche Debatte zum Thema Oberstufe stattfindet. Und dass sich die verschlossenen Türen der KMK vielleicht etwas öffnen.

Zur Person

  • Friedemann Stöffler war bis 2018 Studiendirektor mit Schwerpunkt Schulentwicklung am Evangelischen Firstwaldgymnasium Mössingen. Das Gymnasium gehörte 2010 zu den Preisträgerschulen des Deutschen Schulpreises. Er berät Schulen in Schulentwicklungsprozessen und ist Autor des Buches: „Die agile Schule“.
  • Seit mehr als 10 Jahren engagiert er sich in verschiedenen Projekten für eine Flexibilisierung der gymnasialen Oberstufe. So war er von 2018 bis 2021 Leiter des Innovationslabors der Deutschen Schulakademie „G-Flex auf dem Weg zum Abitur“. Daraus hervorgegangen ist die „Initiative Flexible Oberstufe“, deren Vorsitzender er ist. Die Initiative macht sich für mehr Freiräume in der Gestaltung der gymnasialen Oberstufe stark.
  • Zu dem Thema hat er zuletzt gemeinsam mit anderen Autorinnen und Autoren das Buch „Die flexible Oberstufe – Wie Schulen Freiräume schaffen und nutzen können“ im Beltz Verlag veröffentlicht.
  • Am 20. März findet ein Werkstatttag in Potsdam statt, wo die Potsdamer Erklärung vorgestellt und offiziell unterzeichnet wird. Mehr Infos zur Veranstaltung und die Potsdamer Erklärung zum Nachlesen gibt es hier.