Studie : Wie ein neues Arbeitszeitmodell für Lehrerinnen und Lehrer aussehen kann

Das Deputatsmodell, nach dem in Deutschland überwiegend die Lehrerarbeitszeit bemessen wird, steht schon lange in der Kritik. Tatsächlich arbeiten Lehrerinnen und Lehrer im Schnitt auch deutlich mehr Stunden als vorgesehen und sind häufig überlastet. Was ist zu tun? Der Bildungsexperte und frühere Berliner Staatssekretär Mark Rackles hat für die Deutsche Telekom Stiftung eine Expertise erstellt und stellt ein alternatives Modell vor.

Frau schaut auf ihre Armbanduhr Symbol für Arbeitszeitmodell
Beim aktuellen Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte werden nur die tatsächlich gegebenen Unterrichtsstunden gemessen, nicht aber die Stunden für die vielen anderen Aufgaben.
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Wie die Arbeitszeit von Lehrerinnen und Lehrern in Deutschland berechnet wird, ist aus Sicht des Bildungsexperten Mark Rackles „ungerecht, unflexibel, ineffizient und tendenziell überlastend“. In einer Expertise, die er für die Telekom-Stiftung erstellt hat, geht der frühere Berliner Staatssekretär für Bildung mit dem vorherrschenden Deputatsmodell hart ins Gericht.

Nach diesem Modell bezieht sich die Lehrerarbeitszeit auf den zu erteilenden wöchentlichen Unterricht – das Deputat. Je nach Schulart haben Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen meist zwischen 22 und 28 Pflichtstunden Unterricht in der Woche. Die übrige Arbeitszeit wird dann pauschal draufgerechnet – für die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts, für Korrekturen, Besprechungen, Fortbildungen und weitere Dinge.

Da der Arbeitsaufwand je Unterrichtsstunde abhängig vom Fach und von der Schulstufe aber sehr unterschiedlich ist, gibt es an diesem Vorgehen seit Jahren viel Kritik. Außerdem macht der tatsächlich erteilte Unterricht in Deutschland oft nicht viel mehr als ein Drittel der gesamten Arbeitszeit aus, denn die 22 bis 28 Pflichtstunden beziehen sich auf Unterrichtsstunden à 45 Minuten. Damit liegt Deutschland deutlich unter dem Schnitt der OECD-Länder. Dabei sei das Unterrichten doch die Kernaufgabe von Lehrkräften.

Urteil des Bundesarbeitsgerichts macht Zeiterfassung erforderlich

Das Deputatsmodell sei aus der Zeit gefallen, sagt deshalb auch Ekkehard Winter, Geschäftsführer der Telekom Stiftung: „Wir können uns nicht länger ein System leisten, das so ineffizient mit der wertvollen Arbeitszeit von Lehrkräften umgeht. Der besorgniserregende Abwärtstrend der Schülerleistungen, insbesondere bei den Grundkompetenzen, aber auch der Lehrkräftemangel fordern ein entschiedenes, aber durchdachtes Gegensteuern.“

Unbefriedigend ist das aktuelle Arbeitszeitmodell, von dem bislang nur Hamburg abweicht, auch deshalb, weil es eine „chronische Überlastung der Beschäftigten“ fördert, schreibt Rackles in seiner Expertise. Nach verschiedenen Berechnungen arbeiten Lehrkräfte dauerhaft im Schnitt knapp 50 Stunden in der Woche. Außerdem zeige das Modell „fast keine Adaptionsfähigkeit an neue Entwicklungen“ und eine „geringe Ressourceneffizienz“. Es kann weder an die Rahmenbedingungen der jeweiligen Schule angepasst werden noch lasse es eine „flexible Umverteilung von Zeitanteilen auf neue Aufgaben“ zu.

Aber nicht nur diese für Lehrkräfte und Schulen unbefriedigende Situation lässt eine Reform nötig erscheinen, sondern auch das im September 2022 vom Bundesarbeitsgericht (BAG) gefällte Urteil zur Arbeitszeiterfassung macht diese erforderlich. In Anlehnung an ein entsprechendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2019 sind Unternehmen demnach dazu verpflichtet, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzurichten, mit dem sie die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter festhalten. Schulen sind davon nicht ausgenommen.

Wie kann ein alternatives Arbeitszeitmodell aussehen?

Rackles plädiert in seiner Expertise dafür, alternativ auf Modelle zu setzen, die die Jahresarbeitszeit zugrunde legen. In anderen Ländern – zum Beispiel Dänemark, Österreich oder Spanien – ist das der Fall. Und auch Hamburg arbeitet als einziges Bundesland in Deutschland nach diesem Modell. Auf Basis der Jahresarbeitszeit und unter Abzug von Ferienzeiten und Wochenenden werden die Wochenstunden berechnet.

Außerdem wird die Arbeitszeit hier nicht nur nach Unterrichtsstunden berechnet, sondern es werden auch alle anderen Tätigkeiten erfasst, für die jeweils Zeitanteile als Orientierungswerte vorgesehen sind. Wird die Jahresarbeitszeit als Grundlage genommen, bietet sich mehr Flexibilität, weil zum Beispiel Phasen mit viel Korrekturtätigkeit und einem hohen Arbeitsaufwand zu anderen Zeiten wieder ausgeglichen werden können.

Neues Arbeitszeitmodell setzt Vertrauen voraus

So ein Arbeitszeitmodell würde aus Rackles Sicht Schulen mit Blick auf Schulentwicklung mehr Flexibilität gewährleisten, weil sich Schulen leichter an neue pädagogische Erfordernisse anpassen können und Ausgleichsmöglichkeiten haben, wenn sich Zeitaufwände generell verschieben. Das Modell sollte „die Qualität pädagogischer Arbeit fördern und die Autonomie der Lehrkräfte in ihrer Arbeit wahren“, schreibt Rackles.

Voraussetzung für so ein Modell sei allerdings Vertrauen – zum einen auf Seiten der Schulleitung, dass Lehrkräfte mit der Flexibilität umgehen können, und auf Seiten der Lehrerinnen und Lehrer, dass das neue Arbeitszeitmodell keine versteckte Arbeitszeiterhöhung wird. Wichtig sei daher auch, die Arbeitszeit vollständig zu erfassen und nicht nur die Unterrichtsstunden, damit alle den Überblick behalten und Transparenz gewährleistet ist.

„Tätigkeitscluster“ als Berechnungsbasis

Außerdem sollte die Arbeitszeit nicht wie bislang nach Schularten, sondern nach Schulstufen und Fächern berechnet werden. Und Basis sollten nicht die Unterrichtsstunden, sondern „Tätigkeitscluster“ mit zeitlichen Richtwerten sein.

Mark Rackles schlägt vier Tätigkeitscluster vor: Unterricht, unterrichtsnahe Tätigkeiten, professionelle Kompetenz (Teamzeiten, Kooperationen, Fortbildung) und allgemeine Aufgaben wie Vertretungen, Kommunikation, Funktionen. Unterricht und unterrichtsnahe Tätigkeiten sollten dabei zusammen 75 Prozent der Zeit einnehmen. Um das zu gewährleisten, müssten unterrichtsferne Tätigkeiten möglichst an anderes Personal abgegeben werden.

In anderen Ländern sei das schon längst der Fall. Da gebe es viel mehr Assistenzen im Unterricht und in der Verwaltung, die Lehrkräfte entlasten. Während es viele andere Länder in den vergangenen Jahren durch dieses Delegieren von Aufgaben geschafft hätten, den Anteil unterrichtsnaher Tätigkeiten in der Lehrerarbeitszeit zu erhöhen, sei dieser Anteil in Deutschland zurückgegangen.

Dieses neue Zuweisungsmodell globaler Budgets an ergebnisverantwortliche Schulen funktioniert jedoch nur unter der Bedingung, dass die realen Ist-Arbeitszeiten tatsächlich erfasst werden.
Mark Rackles, ehemaliger Bildungsstaatssekretär in Berlin

In der konkreten Umsetzung eines neuen Arbeitszeitmodells könnten Schulen ihrem Standort und ihrer Struktur entsprechend von der Schulbehörde eine bestimmte Stundenzahl zugewiesen bekommen. Darin sollten zum Beispiel Faktoren wie Ganztagsbetrieb, Zulagen für herausfordernde Lagen oder besondere pädagogische und sonderpädagogische Bedarfe zum Beispiel in Bezug auf Inklusion berücksichtigt werden.

Dänemark könnte Vorbild sein

Ähnlich wie beim Modell in Dänemark sollte dann die Schulleitung mit den Lehrerinnen und Lehrern individuell die Verteilung der jeweiligen Aufgaben und des Zeitbudgets besprechen. So können sich je nach Bedarfen der Schulen und Einsatz der Lehrkräfte die Verteilung auf die Tätigkeitscluster verschieben. „Dieses neue Zuweisungsmodell globaler Budgets an ergebnisverantwortliche Schulen funktioniert jedoch nur unter der Bedingung, dass die realen Ist-Arbeitszeiten tatsächlich erfasst werden, damit aus Gründen der Wirtschaftlichkeit ein Nachweis des Ressourcenverbrauchs bei hoher Flexibilität und Autonomie auf schulischer Ebene erfolgen kann“, betont Rackles. Und es funktioniere auch nur, wenn Schulleitungen eigenverantwortlicher agieren und die Dienstherreneigenschaft für das Personal übernehmen können.

Das könnten Schulleitungen allerdings auch nur, wenn sie genug Kapazitäten haben. Rackles spricht sich für eine deutliche Entlastung der Schulleiterinnen und Schulleiter aus. In Dänemark sind sie beispielsweise ganz von der eigenen Unterrichtsverpflichtung befreit.

Modellversuche statt flächendeckender Umsetzung

Nun ist Rackles Vorstoß nicht der erste, um das Modell der Lehrerarbeitszeit zu reformieren. Damit der nicht versandet, schlägt Rackles vor, nicht gleich bundesweit am großen Rad zu drehen, sondern an das Hamburger Modell anzuknüpfen und es weiterzuentwickeln. Er nennt das dann Hamburg 2.0. Das könne über Pilot- und Modellversuche im bestehenden System geschehen.

Und damit diese Pilotmodelle auch von Beschäftigten und Personalräten akzeptiert werden, setzt er auf „Transparenz und Partizipation“. Nur so lasse sich eine höhere Arbeitszufriedenheit und Effizienz erreichen. Außerdem biete so ein Vorgehen auch immer wieder die Möglichkeit nachzusteuern. Eine Chance, die aus Rackles Sicht bei der Einführung des Hamburger Modells vor zwanzig Jahren verpasst worden sei. Es wurde gleich flächendeckend eingeführt, Raum für Erprobung und Nachsteuerungen blieb da wenig.