Lehrergesundheit : Was den Lehrerberuf so stressig macht

Die Zahlen zur Lehrergesundheit sind alarmierend. Etwa jede dritte Lehrkraft fühlt sich überlastet. Und das nicht erst in der Corona-Pandemie. Bildungsforscherin Bärbel Wesselborg forscht seit Langem zum Thema Lehrergesundheit. Im Interview mit dem Schulportal erklärt sie, welche Faktoren zu Belastungen führen, wie sich gegensteuern lässt und warum ein gesundheitsförderlicher Unterricht zugleich auch die Unterrichtsqualität verbessern kann.

Lehrergesundheit Lehrerin vor Schulklasse
Der größte Belastungsfaktor für Lehrkräfte ist zugleich auch die stärkste Ressource: Der Umgang mit den Schülerinnen und Schülern.
©Jens Büttner/dpa

Deutsches Schulportal: Lehrkräfte leiden mehr als viele andere Berufsgruppen unter psychischen Erkrankungen und Erschöpfung bis hin zum Burnout. In einer Befragung für ein Gutachten zur Lehrergesundheit des Aktionsrats Bildung gab ein Drittel der Lehrerinnen und Lehrer an, unter zu hohen Belastungen zu leiden. Woran liegt das?
Bärbel Wesselborg: In der Tat zeigen verschiedene Studien, dass 10 bis 30 Prozent der Lehrkräfte unter einer Erschöpfungssymptomatik leiden. Das sind besorgniserregende Zahlen zur Lehrergesundheit. Sie hängen mit der hohen Belastungssituation zusammen. Diese lässt sich nicht monokausal erklären. Da kommen mehrere Dinge zusammen.

Welche sind das?
Schon allein die Tätigkeit bringt hohe Herausforderungen mit sich. Lehrkräfte sind in ständiger Interaktion. Während sie ihrer Kernaufgabe, der Unterrichtsgestaltung, nachkommen, müssen sie gleichzeitig mit den Bedürfnissen in der Klasse umgehen und darauf achten, alle Schülerinnen und Schüler mitzunehmen Denn das Gelingen des Unterrichts setzt eine hohe Kooperationsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler voraus.

Zum zweiten spielen die Arbeitsbedingungen eine wichtige Rolle. Lehrkräfte haben zum Beispiel einen geteilten Arbeitsplatz. Der Unterricht findet in der Schule, die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts, die Korrekturen von Arbeiten oder die Kontakte zu den Eltern finden meist zu Hause statt. Der geteilte Arbeitsplatz bedingt, dass der Lehrerberuf von vielen als Halbtagsjob gesehen wird, also nur auf die Zeit in der Schule reduziert wird. Diese falsche öffentliche Wahrnehmung ist zusätzlich eine Belastung.

Und ein dritter Faktor sind die persönlichen Voraussetzungen: Die eine Lehrperson ist resilienter gegenüber Belastungen und kann sich besser distanzieren als die andere.

Bleiben wir mal beim Unterricht. Was sind hier die größten Stressfaktoren?
In allen Studien wird immer wieder der Umgang mit unmotivierten und undisziplinierten Schülerinnen und Schülern als größter Belastungsfaktor genannt, da dann die notwendige Kooperation im Unterricht nicht gelingt. Damit hängt auch ein weiterer Stressfaktor zusammen: der hohe Lärmpegel, der oft eine Folge von Unruhe in der Klasse ist.

Im EU-Vergleich stehen Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland daher weit oben, was die Anzahl der Unterrichtsstunden anbelangt.

Und welche konkreten Faktoren sind es bei den Arbeitsbedingungen?
Hier ist es vor allem das Arbeitspensum mit teilweise hohen Zeitspitzen. Diese ergeben sich zum Beispiel in Korrekturphasen, aber auch durch zusätzliche Aufgaben und Ämter, die Lehrkräfte neben dem Unterricht übernehmen. Schulen haben immer mehr Verwaltungsaufgaben und Dokumentationspflichten. Außerdem können Konflikte mit dem Kollegium und der Schulleitung Stressfaktoren sein. Und es fällt vielen schwer, beim Arbeiten zu Hause Arbeits- und Privatleben voneinander zu trennen.

Gibt es da Unterschiede zwischen den Schularten?
Das konnten Studien bislang nicht eindeutig feststellen. Aber es gibt einen Unterschied zwischen den Geschlechtern: Frauen fühlen sich offenbar stärker belastet.

Woran liegt das?
Ein wesentlicher Aspekt dabei ist, dass sich Teilzeitarbeit weniger auswirkt als in anderen Berufen. Auch im Lehrerberuf arbeiten ja mehr Frauen als Männer in Teilzeit. Bei der Teilzeit wird lediglich das Unterrichtsdeputat reduziert, also die Anzahl der Stunden, die eine Lehrkraft gibt. Die vielen anderen Aufgaben verteilen sich aber meist auf alle Lehrkräfte, unabhängig davon, ob sie in Vollzeit oder Teilzeit arbeiten. Nur für sehr wenige Aufgaben und Ämter kann die Unterrichtszeit reduziert werden. Im EU-Vergleich stehen Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland daher weit oben, was die Anzahl der Unterrichtsstunden anbelangt. Das zeigt auch eine EU-Veröffentlichung zu den Beschäftigungsbedingungen von Lehrkräften in der EU. Andere EU-Länder sind demnach inzwischen vom Deputatsmodell auf flexiblere Modelle umgestiegen, um die Aufgaben neben dem Unterricht stärker zu berücksichtigen und die Arbeitszeit von Lehrerinnen und Lehrern transparenter darzustellen.

Steht das Thema Lehrergesundheit in Deutschland genug im Fokus?
Seit den 2000er-Jahren ist das Thema Lehrergesundheit durchaus auf dem Bildschirm in Deutschland. Seitdem haben viele Kultusministerien Präventionsprogramme entwickelt. Auch in der Lehrerbildung ist das Thema Lehrergesundheit und Belastungen seit 2004 sowohl im Studium als auch im Referendariat verankert. Es hapert hier aber noch an der berufspraktischen Umsetzung. Gerade Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger bräuchten noch mehr Begleitung.

Worauf zielen die Präventionsprogramme zur Lehrergesundheit, die es bislang gibt?
Das Problem bei den Programmen ist, dass sie in erster Linie auf die personenbezogenen Ressourcen ausgerichtet sind. Das heißt, es gibt Trainings zur Stressbewältigung, zur Klassenführung oder zur Kommunikation. Was die gesundheitsförderliche Veränderung des Arbeitsplatzes anbelangt, werden weniger Programme angeboten. Arbeitsplatzbezogene Maßnahmen könnten sich zum Beispiel auf die Flexibilisierung des Deputatmodells, die Einrichtung von Arbeitsplätzen in der Schule, die erholsame Pausengestaltung oder die Lärmbelastung beziehen.

Was müsste noch passieren?
Die bisherigen Maßnahmen beziehen sich alle eher auf einzelne Personen, nicht auf das gesamte Kollegium. Es ist aber notwendig, dass die gesamte Schule als Organisation das Thema Lehrergesundheit in den Fokus rückt. Wichtig ist auch, dass es mehr Bereitschaft in den Schulen gibt, über Probleme zu reden. Das Schulklima spielt für die Lehrergesundheit eine große Rolle.

Die Forschung zur Lehrergesundheit hat gezeigt, dass der höchste Belastungsfaktor, also der Umgang mit Schülerinnen und Schülern, zugleich auch die stärkste Ressource für Lehrkräfte ist.

Wenn eine Schule das Thema Lehrergesundheit in den Blick nehmen will – wie fängt sie damit am besten an?
Viele Schulen nutzen den Pädagogischen Tag, um sich in einer Kick-off-Veranstaltung mit dem Thema Lehrergesundheit zu befassen. Dazu können sie sich auch externe Unterstützung holen. Sie identifizieren erst mal, wo die Probleme liegen und überlegen, wie sie mit den Ressourcen, die an der Schule vorhanden sind, dem entgegenwirken können. Allein schon die Entwicklung eines gemeinsamen pädagogischen Leitbildes kann dabei helfen. So lassen sich zum Beispiel Fragen beantworten: Wie gehen wir mit Schülerinnen und Schülern um, die stören? Wie gehen wir mit Schülerinnen und Schülern um, die einen schwierigen Hintergrund haben? Wo können wir uns gegenseitig unterstützen?

Wie kann so eine Unterstützung aussehen?
Zwei Lehrkräfte können zum Beispiel ein Tandem bilden und einander gegenseitig im Unterricht begleiten, um sich danach Rückmeldung über die Lehrer-Schüler-Interaktion oder Stressfaktoren geben. Dazu hat die Universität Koblenz-Landau eine spezielle Fortbildung in Kooperation mit dem Kultusministerium von Baden-Württemberg und der Landesakademie für Fortbildung und Personalentwicklung an Schulen konzipiert.

Vielen Lehrkräften fällt so ein kollegiales Coaching allerdings schwer. Sie verstehen sich immer noch als Einzelkämpfer. Man macht die Türe zu – Unterricht wird als Privatsache gesehen. Eine Feedbackkultur bietet aber wichtige Entwicklungsmöglichkeit.

Wieso ist der Blick auf den Unterricht überhaupt für die Lehrergesundheit so wichtig?
Die Forschung zur Lehrergesundheit hat gezeigt, dass der höchste Belastungsfaktor, also der Umgang mit Schülerinnen und Schülern, zugleich auch die stärkste Ressource für Lehrkräfte ist. Wenn der Umgang gut funktioniert, dann ergibt sich daraus auch der größte positive Rückhalt für die Lehrergesundheit. Ebenso verhält es sich mit dem zweiten Stressfaktor, der Zusammenarbeit im Kollegium: Wenn die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen sowie mit der Schulleitung gut läuft, stärkt auch das die Lehrergesundheit.

 Die Fünf-Minuten-Pausen zwischen den Stunden sorgen auch nicht für Erholung. Im Gegenteil: Da schnellt die Anstrengung noch hoch.

Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Situation der Lehrergesundheit ausgewirkt?
Gerade die Zeit der Schulschließungen war eine sehr belastende Zeit. Lehrkräfte konnten auf diese beiden wichtigen Ressourcen – eine hohe positive Interaktion mit den Schülerinnen und Schülern und einen positiven Rückhalt durch das Kollegium und die Schulleitung – in der Zeit der Schulschließungen weniger zurückgreifen.

Dazu kam die Unzufriedenheit über die geringen digitalen Möglichkeiten an den Schulen. Für Lehrkräfte war es sehr schwierig, die Situation des Fernunterrichts zu bewältigen. Eine gerade veröffentlichte Umfrage des WDR hat gezeigt, wie überfordert und frustriert Schulen und Lehrkräfte mit dem Stand der Digitalisierung waren und sind. Da sich daran ja so schnell nichts ändern wird, aber Hybrid- oder sogar Fernunterricht auch in diesem Schuljahr nötig sein wird, könnten die Belastungen in diesem Schuljahr noch deutlich zunehmen. Die Gefahr ist groß, dass es am Ende dieses Schuljahres noch mehr ausgebrannte Lehrer gibt.

Blicken wir auf einen Unterrichtstag: Für Kinder ist der Unterricht unterbrochen durch Pausen. Lehrkräfte müssen in den Pausen hingegen häufig viel erledigen oder haben Aufsicht. Wie sieht die Stresskurve für Lehrkräfte an einem Schultag aus?
Schulforscher der Universität Bremen konnten nachweisen, wie die psychophysische Erschöpfung im Laufe eines Unterrichtstages zunimmt. Der Schultag fängt für viele Lehrkräfte damit an, dass sie über den Schulhof gehen und schon die ersten Ermahnungen aussprechen müssen. Dann haben sie meist nonstop sechs, sieben Stunden Unterricht. Nur selten ist eine Hohlstunde dabei. Aber für diese Zeit gibt es in den meisten Schulen keinen Rückzugsort. Das Lehrerzimmer bietet den selten.

Die Fünf-Minuten-Pausen zwischen den Stunden sorgen auch nicht für Erholung. Im Gegenteil: Da schnellt die Anstrengung noch hoch, weil Lehrkräfte von einem in den anderen Raum wechseln müssen. Außerdem stellen Schülerinnen und Schüler Fragen, und auf dem Schulflur ist auch oft noch etwas zu regeln. Die Interaktionen, die im Unterricht noch irgendwie geregelt sind, sind da völlig ungeregelt.

Dazu kommt der Lärmpegel, der oft unterschätzt wird und im Laufe eines Unterrichtstages oft noch ansteigt. Dies tritt verstärkt in alten Schulgebäuden auf, die meist sehr schallintensiv sind.

Wir konnten feststellen, dass Lehrerinnen und Lehrer, die es geschafft hatten, klare Regeln durchzusetzen und die einen eher schülerorientierten Unterricht praktizierten, weniger gestresst waren. Außerdem war der Lärmpegel in der Klasse geringer.

Wo sehen Sie Stellschrauben, um den Schultag weniger stressig zu gestalten und die Lehrergesundheit zu stärken?
Ideal ist, wenn es Räume in der Schule gibt, in die sich Lehrer zurückziehen können. Aber das lässt sich ja in vielen Gebäuden gar nicht umsetzen. Auch die Schallreduzierung ist nicht überall möglich. Daher kommt es vor allem darauf an, Lehrkräfte dahingehend zu stärken, den Unterricht gesundheitsförderlicher zu gestalten. In einer Video-Studie haben wir Unterrichtssituationen gefilmt, um die Gesundheitssituation von Lehrkräften während des Unterrichts zu erheben und miteinander zu vergleichen. Wir konnten feststellen, dass Lehrerinnen und Lehrer, die es geschafft hatten, klare Regeln durchzusetzen und die einen eher schülerorientierten Unterricht praktizierten, weniger gestresst waren. Außerdem war der Lärmpegel in der Klasse geringer.

Besonders anstrengend wirkte sich hingegen klassischer Frontalunterricht aus. Wenn Lehrkräfte 45 Minuten vorn stehen und sprechen, ständig mit allen Schülerinnen und Schüler interagieren und immer im Mittelpunkt stehen. Die Unterrichtsgestaltung wirkt sich also direkt auf die Lehrergesundheit aus. Schön ist dabei auch, dass die Umstellung auf einen eher schülerorientierten Unterricht mit klaren Regeln und einem guten Klassenklima zugleich auch meist für eine Verbesserung der Unterrichtsqualität sorgen kann. Letztlich können also alle im Klassenraum davon profitieren.

Zur Person

Bärbel Wesselborg
Bärbel Wesselborg
©Frank Elschner, Fliedner Fachhochschule
  • Bärbel Wesselborg ist seit 2015 Professorin an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf und leitet den Studiengang Berufspädagogik Pflege und Gesundheit.
  • Sie hat eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert und Pflegepädagogik sowie Pflegewissenschaft studiert. Zunächst hat sie einige Jahre als Krankenschwester und dann als Lehrerin gearbeitet, bevor sie als Doktorandin an die schulpädagogische Forschungsstelle des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen wechselte.
  • Schwerpunkte ihrer Arbeit sind neben der Lehrerprofessionalität in der beruflichen Fachrichtung Pflege vor allem auch die Gesundheitssituation und Gesundheitsförderung im Lehrerberuf sowie die videobasierte Unterrichtsqualitätsforschung.
  • Wesselborg hat an verschiedenen Studien zur Lehrergesundheit mitgearbeitet und dazu auch viel veröffentlicht. 2018 erschien von ihr das Buch „Lehrergesundheit. Eine empirische Studie zu Anforderungen und Ressourcen im Lehrerberuf aus verschiedenen Perspektiven“.
  • Beim Zukunftscamp „Well-Being und Resilienz in Krisenzeiten” im Mai 2022 auf dem Campus des Deutschen Schulpreises hat Bärbel Wesselborg einen Input zum Workshop „Resilienz im Lehrerberuf – Umgang mit Anforderungen und Ressourcen”: