Krisenmanagement : „Wir brauchen einen nationalen Krisenplan für Schulen“

Krisenforscher Harald Karutz bescheinigt der Bildungspolitik ein schlechtes Krisenmanagement in der Corona-Pandemie. Aber er ist überzeugt, dass es besser gehen kann, und hat Vorgehensweisen in einer Studie für das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe skizziert. Im Interview mit dem Schulportal erklärt Karutz, was ein nationaler Krisenplan alles umfassen sollte, wieso Schulen besonders anfällig für Krisen sind und wie sie resilienter werden.

Transparent mit Aufschrift Schulsozialarbeit
Damit Schulen besser für große Krisen gewappnet sind, sollte nach Ansicht des Krisenforschers Harald Karutz auch die Schulsozialarbeit gestärkt werden.
©Jens Büttner/zb/dpa

Deutsches Schulportal: Die Corona-Schutzmaßnahmen sind fast überall aufgehoben worden – ist das für die Stabilität von Schulen richtig?
Harald Karutz: Die Rückkehr zum Alltag ist grundsätzlich gut und richtig. Wenn die gesamte Gesellschaft zunehmend zum Alltag zurückkehrt, kann man Schulen von dieser Entwicklung nicht ausnehmen.

Ich bin mir aber nicht sicher, ob der komplette Wegfall aller Schutzmaßnahmen eine gute Idee ist. Ich hätte dafür plädiert, dass zumindest die Masken noch einige Zeit weiter getragen werden. Außerdem gibt es Familien mit vorerkrankten Angehörigen, die zu einer Hochrisikogruppe gehören und teilweise nicht mal geimpft werden konnten. Für diese Familien ist die Situation jetzt, wo sich auf den ersten Blick alles entspannt, besonders belastend. Das wird aus meiner Sicht zu wenig beachtet.

Nie wieder dürfen in der Pandemie spätabends Schulmails versendet werden, die Schulen dann am nächsten Morgen in ein Chaos stürzen.

Welche Vorkehrungen sollten für eine möglicherweise im Herbst wieder angespannte Pandemielage getroffen werden, und wann sollte das passieren?
Eines muss klar sein: Nie wieder dürfen in der Pandemie spätabends Schulmails versendet werden, die Schulen dann am nächsten Morgen in ein Chaos stürzen. Das hat nichts mit der Krise an sich zu tun – das ist einfach schlechtes Krisenmanagement und schlechte Krisenkommunikation!

Für den Herbst müssen deshalb schon jetzt nachhaltig tragfähige Planungen erfolgen, unter welchen Umständen Schulen auf welche Weise reagieren sollen. Es wäre fatal, wenn wieder nur abgewartet würde, bis man ad hoc improvisieren muss. Ich würde mir in diesem Zusammenhang zum Beispiel wünschen, dass vielleicht doch mal ein Blick auf die S3-Leitlinie geworfen wird, die bis heute nirgendwo ganz umgesetzt wurde.

Es fehlen Rahmenpläne, in denen festgelegt ist, wer wann was zu tun hat

„S3-Leitlinie“ – was ist das?
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) gibt zu allen relevanten medizinischen Themen Leitlinien mit Handlungsempfehlungen heraus, die sie in vier Klassen einteilt.

Die S3-Leitlinie zur Prävention und Kontrolle von Corona-Übertragungen in Schulen ist sehr gut begründet – und die verschiedensten Akteure waren an der Erarbeitung beteiligt. Beachtung findet diese Leitlinie aber kaum. Das meiste, was Expertinnen und Experten empfohlen haben und was die Sicherheit in Schulen erhöht, wurde weitgehend außer Acht gelassen: die Bildung kleinerer und fester Lerngruppen, die Nutzung von Ausweichräumlichkeiten, die Beschaffung von Luftfiltern dort, wo sie wirklich sinnvoll sind, die Etablierung von psychosozialen Unterstützungsangeboten, curriculare Veränderungen. Weil solche Planungen viel Zeit in Anspruch nehmen, muss spätestens jetzt damit für den Herbst begonnen werden.

Die Pandemie ist nicht die einzige Krise – die Aufnahme geflüchteter Kinder aus der Ukraine oder Umweltkatastrophen wie die im Ahrtal sind auch Ereignisse, die Schulen an Grenzen führen. Wie können sich Schulen auf große Lagen besser vorbereiten?
Auf „Individualnotfälle“, die nur einige Schülerinnen und Schüler oder nur einzelne Schulen betreffen, ist man inzwischen gut vorbereitet. Für Unglücke auf einer Klassenfahrt, für einen Brand im Schulgebäude und auch für Amokläufe gibt es gute Unterstützungskonzepte und Notfallpläne.

Auf flächendeckende, langfristig anhaltende Krisenlagen ist das Bildungssystem bislang aber unzureichend vorbereitet. Hier müssen wir Rahmenpläne erarbeiten, in denen festgelegt ist, wer wann was zu tun hat, nach welchen Kriterien Entscheidungen getroffen werden und wie Prioritäten gesetzt werden sollen.

Notwendig sind aber auch fachliche Fortbildungen zum Krisenmanagement, und zwar auf allen Ebenen. Es besteht Schulungsbedarf bei Lehrkräften und bei Schulleitungen – vor allem aber in den Aufsichtsbehörden und den Kultusministerien. Meines Erachtens wurden Entscheidungen oft formaljuristisch oder rein virologisch begründet, aber nicht oder zumindest nicht vorrangig pädagogisch oder psychologisch.

Je komplexer eine Krisenlage aber ist, umso notwendiger ist es, sich über Entscheidungen interdisziplinär zu verständigen. Was im Bildungswesen letztlich fehlt, ist Krisenfestigkeit – das heißt: Resilienz – und eine spezielle Krisenkompetenz.

Kindern fehlen Strategien, um Krisen bewältigen zu können

Sind Schulen von Krisen schwerer getroffen als andere Bereiche?
Tatsächlich sind Schulen besonders vulnerabel, also anfällig für Krisen. Das hat mehrere Gründe: Kinder und Jugendliche sind grundsätzlich eine vulnerable Gruppe. Ihnen fehlen Vorerfahrungen und damit Strategien, um Krisen überhaupt bewältigen zu können. Außerdem haben Kinder und Jugendliche ohnehin viele Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, insbesondere die Pubertät. Aus diesem Grund sind auch psychische und psychosoziale Krisenfolgen bei Kindern und Jugendlichen häufiger als bei Erwachsenen.

Lehrkräfte kann man ebenfalls als vulnerable Gruppe betrachten. Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass viele Lehrkräfte gesundheitlich vorbelastet sind und oftmals früher in den Ruhestand gehen als Angehörige anderer Berufsgruppen.

Das Bildungswesen ist insgesamt sehr angespannt: Personalmangel, eine Reform nach der anderen, Konflikte im Schulalltag, Verhaltensauffälligkeiten von Schülerinnen und Schülern – Schulen sind im Dauerstress. Wenn dann noch eine übergreifende Krise dazukommt, sind die Bewältigungsressourcen umso eher erschöpft.

Außerdem sind Schulen abhängig von anderen Handlungsfeldern, zum Beispiel dem Personennahverkehr und der Stromversorgung – auch das trägt zur Vulnerabilität von Schulen bei.

Und nicht zuletzt gibt es einen wirklich hochkomplexen Faktor, der sich auf das schulische Krisenmanagement auswirkt: die Schulverwaltungsstruktur. Wer was entscheiden darf, ist unübersichtlich und sehr bürokratisch organisiert – so kann Krisenmanagement nicht funktionieren.

Schulen sollten in Krisenzeiten Oasen für Schutz und Sicherheit sein. In Deutschland wurden Schulen in der Pandemie hingegen oft als Orte von Angst, Verunsicherung, Gefährdung und Konflikten wahrgenommen.

Wie aber können Schulen resilienter werden?
Ich will hier vor allem diese Punkte nennen:

  • An vielen Schulen ist die Personaldecke einfach viel zu dünn – und das ist nun wirklich keine neue Erkenntnis!
  • Sichere Schulräumlichkeiten müssen geschaffen werden. Dazu gibt es in anderen Ländern, die häufiger mit Unwettern, Stürmen und Überschwemmungen zu tun haben, bereits sehr gute Konzepte.
  • Schulsozialarbeit, Schulseelsorge und Schulpsychologie müssen gestärkt werden, um auch in Krisenzeiten mehr Unterstützungsangebote machen zu können.
  • Notwendig sind eine einfachere Schulverwaltungsstruktur und eine klare Aufgabenverteilung. Und Schulen müssen mehr Handlungsspielräume bekommen. Sie dürfen aber auch nicht alleingelassen werden, sondern brauchen Leitplanken, innerhalb derer sie sich rechtssicher bewegen können.
  • Auch Veränderungen der Organisation des Schulalltags können Schulen krisensicherer machen, zum Beispiel durch gestaffelte Unterrichtszeiten.
  • Schulen sollten eine Art Krisenbeirat etablieren, in dem Entscheidungen gemeinsam besprochen werden. Das ist in der Corona-Pandemie zu kurz gekommen: Die Kultusministerien haben Anordnungen getroffen, und weder Lehrkräfte noch Schulleitungen, noch Eltern noch Schülerinnen und Schüler hatten größere Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Sie wurden mit ihren individuellen Bedarfen und Bedürfnissen oftmals nicht mal gehört. Das hat für viel Frust gesorgt.
  • Und noch ein letzter Punkt: Schulen sollten Krisenerfahrungen aufgreifen und sogar in den Mittelpunkt stellen, um bei der Bewältigung von Krisen zu unterstützen. Krisen sollten auch ein Bildungsthema sein – und ich wundere mich darüber, wie wenig das Bildungspotenzial des Krisengeschehens bisher genutzt wurde.

Im Japan sind Schulen im Krisenfall Anlaufstellen für Familien

Sie sagen, Schulen können zum Beispiel von anderen Ländern lernen. Wo läuft es besser?
Japan ist da zum Beispiel viel weiter. Hier stellen Erdbeben eine große Gefahr dar, und Schulen werden nicht nur strukturell und organisatorisch, sondern auch baulich und gebäudetechnisch entsprechend gesichert, um auch im Notfall zuverlässig funktionsfähig zu sein. Schulen haben dort in der Regel sogar eine eigene Notstromversorgung. Außerdem sind sie im Krisenfall Anlaufstelle für Familien. Von dort aus werden Menschen verpflegt und versorgt. Grundsätzlich sollten Schulen in Krisenzeiten Oasen für Schutz und Sicherheit sein. In Deutschland wurden Schulen in der Pandemie hingegen oft als Orte von Angst, Verunsicherung, Gefährdung und Konflikten wahrgenommen.

Wie lässt sich die Resilienz von Lehrkräften stärken?
Zumindest teilweise sind Belastbarkeit sowie der Umgang mit Stress, Flexibilität und das Verhalten in Krisen lern- und trainierbar. Auch Bewältigungsstrategien und einfache Entspannungstechniken lassen sich vermitteln, sodass es zum Beispiel besser gelingen kann, in schwierigen Situationen „einen kühlen Kopf“ zu behalten. Die Stärkung der persönlichen Resilienz im Hinblick auf Krisen im Schulkontext sollte auf jeden Fall mehr Gewicht in der Lehrerbildung haben.

Mein Eindruck ist aber, dass viele Lehrkräfte in der Pandemie eher alleingelassen worden sind und dann überfordert waren. Das kann man einzelnen Lehrkräften nicht vorwerfen, sondern das ist ein systemisches Problem.

Außerdem sollten Lehrkräfte entlastet werden, etwa von Verwaltungs- und technischen Aufgaben. Die kann eine einzelne Lehrkraft nicht nebenbei erledigen. Aber genauso läuft es an vielen Schulen. Das ist doch absurd! Jedes mittelständische Unternehmen hat inzwischen eine IT-Abteilung – warum soll das in Schulen anders sein?

Ein Krisenplan muss auch mal abweichen von geltenden Regeln

Was fordern Sie für den Umgang mit Krisen für die Zukunft?
Wir brauchen einen nationalen Krisenplan für Schulen. In allen Bundesländern gibt es inzwischen Notfall- und Krisenpläne für verschiedene Ereignisse. Diese Pläne sind entstanden, nachdem man Erfahrungen mit mehreren Amokläufen an Schulen gesammelt hat. Was bislang aber fehlt, sind klare, modular oder stufenartig strukturierte Pläne für längerfristig anhaltende und großflächige Krisen wie eine Pandemie.

„Not bricht Gebot“ heißt eine Regel des Krisenmanagements – und genau das sollte auch in einem Krisenplan deutlich werden: Jetzt ist die Krise so groß, dass man von geltenden Regeln abweichen darf, dass man vielleicht sogar abweichen muss. Damit nun aber nicht alle beliebig irgendetwas machen, sind auf den einzelnen Ebenen Handlungskorridore erforderlich – und genau die müssen in einem solchen nationalen Krisenplan für das Bildungswesen beschrieben werden.

Was sollte so ein Krisenplan regeln?
In einem solchen Krisenplan könnten jede Kommune und jeder Kreis zum Beispiel Ausweich- und Ergänzungsquartiere festlegen, die von Bildungseinrichtungen genutzt werden könnten, wenn in Krisenzeiten ein entsprechender Bedarf besteht. Dies wurde zu Beginn der Pandemie schon von verschiedenen Stellen vorgeschlagen. Soweit ich weiß, ist diese Idee aber nirgendwo umgesetzt worden – vermutlich, weil formelle Gründe im Wege standen …

Außerdem sollte es für Notfälle einen Personal-Vertretungspool geben. Bei einer Lage wie der Pandemie könnte man zum Beispiel Lehramtsstudierende einbeziehen. Ein solches Engagement müsste dann auch als Studienleistung angerechnet werden können. Dafür muss es aber Rahmenvereinbarungen geben.

Eine Katastrophenschutzeinheit speziell für Schulen

In den USA gibt es zudem verschiedene Katastrophenschutzeinheiten und „Disaster Child Care Volunteers“, das sind Freiwillige, die eine entsprechende Ausbildung absolviert haben und deren Aufgabe es ist, sich in Katastrophen um Kinder und Jugendliche zu kümmern. Ich könnte mir hier eine Katastrophenschutzeinheit vorstellen, die speziell für die Unterstützung von Kindertagesstätten und Schulen ausgerüstet und ausgebildet wird.

Was muss passieren, damit tatsächlich solch ein Krisenplan entwickelt wird und das Bildungssystem jetzt nicht ins „business as usual“ zurückfällt?
Unbedingt notwendig ist, die jetzt gesammelten Erfahrungen systematisch auszuwerten und daraus zu lernen. Alle Beteiligten müssen offen und ehrlich darüber sprechen: Was ist gut gelaufen, was nicht? Was können wir in Zukunft noch einmal so machen, und was darf sich keinesfalls wiederholen?

Ich würde mir wünschen, dass eine solche Evaluation auf allen Ebenen stattfindet: in den einzelnen Schulen, auf kommunaler, auf Landes- und auf Bundesebene. Vor einigen Jahren war ich an der Evaluation der psychosozialen Notfallversorgung nach dem Amoklauf an einer Schule in Winnenden beteiligt und weiß, wie sehr sich solche Evaluationsprojekte für alle Beteiligten lohnen.

Wir haben in Deutschland leider keine konstruktive Fehlerkultur, sondern es geht rasch darum: Wer hat Schuld?

Sind Sie zuversichtlich, dass solch eine Aufarbeitung jetzt stattfindet und tatsächlich ein nationaler Krisenplan erstellt wird?
Inzwischen liegen viele wissenschaftliche Publikationen vor, die Hinweise geben, was jetzt alles zu beachten ist. Leider nehme ich aber kein ausgeprägtes Interesse an solchen Auswertungen wahr. Das hat vermutlich auch damit zu tun, dass es immer Ängste gibt, es könnten Fehler oder Versäumnisse erkennbar werden. Wir haben in Deutschland leider keine konstruktive Fehlerkultur, sondern es geht rasch darum: Wer hat Schuld? Ein solches Denken verhindert aber, dass wir aus den Erfahrungen lernen.

Auf politischer Ebene sehe ich auch viel Selbstzufriedenheit und „Schulterklopfen“. Dass Karin Prien, die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, vor einigen Tagen eingestanden hat, dass man die Schulschließungen im März 2020 besser hätte vorbereiten müssen, ist eher die Ausnahme. Selbstkritische Stimmen höre ich ansonsten kaum. Daher würde ich mich auch nicht wundern, wenn im Herbst erneut hektisch damit begonnen wird, Tests zu verteilen und sich schnell ein neues Lüftungskonzept zu überlegen.

Zur Person

  • Harald Karutz ist Diplom-Pädagoge und Professor für Psychosoziales Krisenmanagement an der MSH Medical School Hamburg.
  • Er forscht seit vielen Jahren zur psychosozialen Notfallversorgung von Kindern und Jugendlichen, insbesondere zur Bewältigung von Unglücken, Krisen und Katastrophen in Kitas und Schulen.
  • Harald Karutz bildet Notfallseelsorgerinnen und Notfallseelsorger sowie Mitglieder von Kriseninterventionsteams aus.
  • Im Auftrag des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat er in den vergangenen Jahren mehrere Forschungsprojekte durchgeführt; aktuell hat er an der Pilotstudie „Vulnerabilität und Kritikalität des Bildungswesens in Deutschland“ mitgewirkt. Der Abschlussbericht steht hier zum Download bereit.
Harald Karutz
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