Lernrückstände : „Sommerschulen dürfen keine Beschäftigungstherapie sein“

Viele Bundesländer planen wieder Sommerschulen. Auch die Universität Augsburg und das Schulwerk der Erzdiözese Augsburg setzen in den Sommerferien ein solches Unterstützungsangebot um. Lehramtsstudierende gehen dann in die Schulen, um Schülerinnen und Schüler mit Lernrückständen zu unterstützen. Vorher wurden sie von der Universität auf diese Aufgabe intensiv vorbereitet. Für Klaus Zierer, Koordinator des Projekts „Brückenwerk“ und Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, ist das eine Grundvoraussetzung, damit die Sommerschule erfolgreich ist. Im Interview mit dem Schulportal erklärt er, worauf es bei der Professionalisierung der Studierenden ankommt, wie Sommerschulen eine nachhaltige Wirkung entfalten können und wieso es so schwer ist, innovative Ideen in der Schule umzusetzen.

Zwei Kinder auf dem Weg zur Sommerschule
Ein Lernangebot in den Sommerferien bringt nur etwas, wenn es gut vorbereitet wird und mit dem regulären Unterricht verknüpft wird.
©romrodinka/iStock

Deutsches Schulportal: Sie setzen im Sommer ein Sommerschulangebot um. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit das Unterrichtsangebot in den Ferien etwas bringt?
Klaus Zierer: Es gibt aus anderen Ländern viel Erfahrung mit Sommerschulen. Daher lassen sich die Möglichkeiten und Fallstricke von Sommerschulen sehr gut benennen. Zu den wichtigsten Punkten gehört:

  • Der Lernerfolg in der Sommerschule ist davon abhängig, wie gut die Diagnose der Lernausgangslage Je klarer die Ergebnisse hier sind, desto besser können Herausforderungen gesetzt werden – andernfalls werden Sommerschulen nur eine Beschäftigungstherapie sein.
  • Die Professionalisierung der Lehrpersonen in der Sommerschule ist zentral, denn Sommerschulen und die damit verbundene Aufgabe der individuellen Förderung sind keine einfachen Tätigkeiten – sondern eher als pädagogische Königsdisziplin zu sehen.
  • Wichtig ist, nicht nur beim fachlichen Lernen, sondern auch beim überfachlichen Lernen anzusetzen, um Lernerfolg nachhaltig sicherzustellen. Denn wir wissen, dass Lerndefizite im Fach häufig mit Defiziten in den Lernstrategien zusammenhängen. Stichwort: Lernen lernen.
  • Eine Sommerschule ist klug zu rhythmisieren. Neben Lernphasen sind auch Phasen des sozialen Austausches, des Miteinanders, des Spiels einzuplanen. Gerade vor dem Hintergrund der sozialen Einschränkungen infolge der Corona-Pandemie bieten sich dabei vor allem erlebnispädagogische Maßnahmen
  • Regelmäßige Feedbackschleifen sind einzubauen, damit immer im Bereich der Herausforderung und der Freude gearbeitet wird. Sommerschulen als bloße Verlängerung des Schuljahres zu sehen, würde vieles kaputtmachen. Vielmehr geht es darum, den Lernenden zu zeigen, dass sie etwas schaffen können und ihnen ein positives Gefühl mitzugeben, damit ein sogenannter „flying start“ ins neue Schuljahr möglich ist.

Begleitung der Studierenden vor Ort ist wichtig

Wie kann die Sommerschule zu einem nachhaltigen Erfolg führen?
Im Kern bieten sich zwei wirksame Möglichkeiten an: Erstens liegen aufgrund der steten Diagnose klare Lernstandserhebungen vor, so dass im neuen Schuljahr bereits sichtbar ist, was Lernende nun können und wo weiterhin Unterstützungsbedarf besteht. Zweitens könnten die Lehrpersonen, die im neuen Schuljahr die Lernenden der Sommerschule unterrichten, auch selbst in die Sommerschule gehen – nicht zwangsläufig die ganze Zeit, aber doch so viel, dass sie Lernende bereits kennenlernen, eine Beziehung aufbauen können und damit den „flying start“ auch von ihrer Seite unterstützen können.

Wie werden die Studierenden bei ihrem Einsatz vor Ort unterstützt?
Die Begleitung durch erfahrene Lehrpersonen vor Ort ist unabdingbar – nicht nur aus rechtlicher, sondern auch aus pädagogischer Sicht. So können fachliche, pädagogische oder didaktische Fragen im Team geklärt werden, was nicht nur den Schülerinnen und Schülern, sondern auch der Professionalisierung der Studierenden zugutekommt. Zusätzlich finden von Seiten der Universität Hospitationen statt, um auch unsere Expertise in die konkrete Umsetzung der Sommerschule einbringen zu können. Ein Team von vier Leuten hat sich bereits einen Plan gemacht und wird versuchen, an jeder Schule vor Ort zu sein.

Wie haben Sie die Studierenden an der Universität auf ihre Aufgabe in den Sommerschulen vorbereitet?
Uns war die Professionalisierung der Studierenden eine Herzensangelegenheit, weil die Forschungsergebnisse deutlich machen, dass ohne diese vieles nicht funktioniert, unter Umständen sogar schadet. Daher haben wir in mehreren digitalen Blocktagen den Studierenden die wichtigsten Forschungsergebnisse zur individuellen Förderung und konkret zur Sommerschule vermittelt. Darauf aufbauend gehen wir in den Bereichen Diagnose, Implementation und Evaluation in die Tiefe. Denn genau diese Bereiche sind es, die darüber entscheiden, ob eine Sommerschule wirkt. John Hattie spricht übrigens in einer – wie ich finde – interessanten Doppeldeutigkeit von „Teachers are to DIE for“. Denn einerseits sind es die Kompetenzen der Diagnose, der Implementation und der Evaluation, die entscheidend für den Erfolg einer Sommerschule sind. Andererseits ist es aber auch die Haltung, die dahintersteht, es immer und immer wieder zu versuchen, Fehler als Chance zu begreifen, eine hohe, aber realistische Erwartungshaltung gegenüber den Lernenden zu haben, klar und transparent die Herausforderungen zu setzen und immer wieder fachliches Lernen mit überfachlichen Inhalten zu verbinden.

Erfahrungen der Sommerschule sollen evaluiert werden

Sommerschulen mit Lehramtsstudierenden zu gestalten, klingt nach einer Win-win-Situation: Schülerinnen und Schüler können im besten Fall Lernrückstände aufholen, Studierende bekommen Praxiserfahrungen. Geht diese Rechnung auf?
Das ist unser Gedanke, der gerade in Zeiten der Corona-Pandemie naheliegt, weil Studierende dafür brennen, in die Schulen zu gehen. Wir hätten weitaus mehr als 120 Studierende betreuen können, wollten aber die Qualität unsere Maßnahmen durch eine möglicherweise eintretende Organisationsflut bei zu vielen Studierenden nicht aufs Spiel setzen. Insofern hoffen wir, dass die Schülerinnen und Schüler einen Lernerfolg erzielen werden und ein positives Gefühl mitnehmen, ebenso dass Studierende Erfahrungen sammeln, die für die weitere Professionalisierung entscheidend sind, Teamarbeit stärken und eine kritisch-konstruktive Haltung initiieren. Um hier mehr Informationen zu erhalten, evaluieren wir die Sommerschule wissenschaftlich.

Welche Hürden gibt es bei der Umsetzung der Sommerschule?
Wie immer gibt es Rahmenbedingungen, die den Wunsch nicht Wirklichkeit werden lassen. Ohne Frage wäre es wichtig gewesen, die Gruppe der Studierenden in Präsenz zu sehen, weil vieles in den digitalen Veranstaltungen zur Vorbereitung der Sommerschule nicht so gut umgesetzt werden kann. Hinzukommt auch die Zeitschiene, die aus unserer Sicht bereits sportlich war, auch wenn wir bereits im Januar mit den ersten Planungen begonnen hatten.

Schule muss sich gerade in Krisensituation mehr bewegen

Sehen Sie in dem Modell, Studierende schon frühzeitig in die Schulen zu bringen, einen Weg, der angesichts des Lehrermangels auch über die Sommerschulen hinausgehen könnte?
Ich bin kein Freund der pauschalen Formel: mehr Praxis in der Lehrerbildung. Denn entscheidend für die Wirksamkeit der Praxis ist immer die Reflexion darüber, und dafür sind Theorien unabdingbar. Dennoch leidet die Lehrerbildung seit Jahrzehnten an verschiedenen Schwachstellen. Fehlender Berufsfeldbezug gehört sicherlich ebenso dazu wie eine Schieflage von fachlichen, pädagogischen und didaktischen Inhalten. Hier könnte die Sommerschule helfen, neue Verfahren zu implementieren. Bei „Brückenwerk“ ist es nach ersten Widerständen seitens des Ministeriums gelungen, diese den Studierenden als Teil ihres Blockpraktikums anrechnen zu lassen. Veränderung ist also möglich.

Auch gegen das Projekt „Brückenwerk“ selbst gab es zuerst Widerstand von Seiten des Kultusministeriums. Sie wurden damals in der „Süddeutschen Zeitung“ mit den Worten zitiert: „Innovation ist in der Schullandschaft nicht unbedingt willkommen.“ Auch jetzt nicht nach der Corona-Pandemie?
Aus meiner Sicht belegt das Beispiel mit der Sommerschule das Problem: Was nicht in Verordnungen steht, gibt es nicht und darf auch nicht gemacht werden. Damit ist jeglicher Kreativität der Raum genommen, und wir wurschteln im bestehenden System herum. Nichts gegen Kontinuität und Beständigkeit. Wenn die Welt außerhalb der Schule sich aber verändert, dann erfordert es auch, Schule immer wieder zu hinterfragen und gegebenenfalls neu zu denken. Diese Einsicht ist aus meiner Sicht nicht allgegenwärtig, um es vorsichtig auszudrücken. Derweil ist es der Auftrag von Schule, Gesellschaft nicht nur zu reproduzieren, sondern auch zu innovieren. Beides ist wichtig. Mit Blick auf die Corona-Pandemie bin ich persönlich ernüchtert: Das, was nach 15 Monaten Krise an Innovationen auf dem Tisch liegt, mag virologisch passen, pädagogisch ist es zu wenig. Wir stolpern bildungspolitisch und verwalten mehr, als dass wir Schule neu denken und gestalten.

Wie ist die Planung beim „Brückenwerk“?

Die Universität Augsburg und das Schulwerk der Erzdiözese bieten in der ersten und letzten Ferienwoche in Bayern eine Sommerschule an. Sie richtet sich an die Klassen 5, 6 und 7, in den Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch.

Die Umsetzung läuft über das Schulwerk, der Lehrstuhl für Schulpädagogik unter Leitung von Klaus Zierer übernimmt die Qualifizierung der Studierenden. Die Lehramtsstudentinnen und Lehramtsstudenten wurden für die Umsetzung der Sommerschule gezielt ausgewählt.

Das Verhältnis in der Sommerschule zwischen Lehrenden und Lernenden soll höchstens bei 1:5 liegen. Etwa 120 Studierende wirken mit, die von etwa 80 Lehrpersonen unterstützt werden. Zusammen werden sie rund 1.000 Schülerinnen und Schüler fördern.

Welche Schülerinnen und Schüler nehmen teil?

Mit dem „Brückenwerk“ sollen vor allem Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Milieus angesprochen werden. Ausgehend von den bisherigen Lernleistungen haben die Lehrerinnen und Lehrer Schülerinnen und Schüler benannt, für die eine Sommerschule ein wichtiges Unterstützungsangebot wäre.

Gibt es vorab Lernstandserhebungen?

Die Schülerinnen und Schüler, die beim „Brückenwerk“ dabei sind, wurden mit einem digitalen Diagnosetool getestet. Dafür hat sich das „Brückenwerk“ mit dem STARK Verlag zusammengetan, der entsprechende Tools entwickelt hat. So lässt sich feststellen, wo Lerndefizite sind und wie Lernenden am besten geholfen werden kann.

Zur Person

Klaus Zierer
Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg
©Uni Augsburg
  • Klaus Zierer ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Zuvor war er Universitätsprofessor für Erziehungswissenschaften an der Universität Oldenburg. Seit 2010 ist er Associate Research Fellow am ESRC Centre on Skills, Knowledge and Organisational Performance (SKOPE) der University of Oxford.
  • Zierer hat Grundschulpädagogik studiert, an der Ludwig-Maximilians-Universität in München promoviert und wurde dort 2009 auch habilitiert.
  • Nach dem Studium war er zunächst fünf Jahre als Grundschullehrer tätig.