Neues Schuljahr : „Regelbetrieb heißt nicht Regelbetrieb wie vor der Pandemie“

Mecklenburg-Vorpommern ist das erste Bundesland, in dem am Montag wieder die Schule beginnt. Wie in allen anderen Bundesländern auch soll das neue Schuljahr im Regelbetrieb laufen. Das heißt Unterricht in voller Klassenstärke und ohne Mindestabstand. Auch wenn das gelingt, sieht Bildungsforscher Kai Maaz die Schulen vor große Herausforderungen gestellt. Zusammen mit anderen Bildungsexpertinnen und -experten hat der geschäftsführende Direktor des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation schon Ende Mai für die Friedrich-Ebert-Stiftung Empfehlungen für die Gestaltung des neuen Schuljahres vorgelegt. Im Interview mit dem Schulportal erklärt Kai Maaz, warum es wichtig ist, sich die Lehrpläne genau anzuschauen, warum man bei der Digitalisierung nicht in Aktionismus verfallen sollte und welche und welche Auswirkungen die Corona-Krise auf die Schulanfängerinnen und -anfänger hat.

Neues Schuljahr Schüler im Unternricht mit Maske
Das neue Schuljahr soll im Regelbetrieb beginnen. Allerdings wird es wegen der Pandemie viele Einschränkungen geben. Zum Beispiel gilt in vielen Bundesländern jetzt Maskenpflicht - in Nordrhein-Westfalen sogar im Unterricht.
© Sven Hoppe/dpa

Deutsches Schulportal: Alle Bundesländer haben angekündigt, im neuen Schuljahr zum Regelbetrieb zurückkehren zu wollen. Wie zuversichtlich sind Sie, dass das klappt?
Kai Maaz: Wenn Regelbetrieb heißt, dass die Schulen wieder öffnen und in normaler Klassengröße unterrichtet wird, dann halte ich es für realistisch, dass das funktioniert – vorausgesetzt, es ist epidemiologisch vertretbar. Ich denke, das ist auch notwendig. Wir haben ja in den Wochen der Schulschließungen gesehen, dass Schule nicht nur als Lernraum, sondern auch als Lebens- und Erfahrungsraum fehlt.

Ob Regelbetrieb aber gleichzusetzen ist mit Regelbetrieb vor der Pandemie, wage ich zu bezweifeln, denn die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Wir müssen schauen, wo die einzelnen Schülerinnen und Schüler stehen, wie groß die Lernrückstände sind, wie die psychosoziale Befindlichkeit der Kinder und Jugendlichen aussieht. Wir werden es mit Leistungsspreizungen zu tun haben, die aller Wahrscheinlichkeit nach im neuen Schuljahr viel größer sind, als sie es noch im Februar dieses Jahres waren. Darauf muss man reagieren. Und wir werden mit Unsicherheit umgehen müssen, da wir noch nicht absehen können, wie sich das Infektionsgeschehen im Herbst und Winter entwickeln wird.

Wie kann man die durch die Corona-Krise entstandenen Defizite auffangen?
Erst mal muss man schauen, wie die Lernstände wirklich aussehen und ob es Zusammenhänge mit anderen Merkmalen gibt, also ob zum Beispiel bestimmte Schülergruppen in besonderer Weise betroffen sind. Erst mit diesen Informationen kann man auch gezielt Angebote entwickeln und implementieren. Die Sommerschulen, die es in einigen Bundesländern gibt, werden meines Erachtens nicht ausreichen. Wir brauchen eine integrative Förderung im Bereich des Unterrichts und zusätzliche Lernangebote in Form von Förderangeboten. Möglicherweise muss man hier auch mit außerschulischen Bildungsanbietern zusammenarbeiten, wenn die Ressourcen in den Schulen nicht reichen.

Wenn Kürzungen notwendig sind, muss die gesamte Breite des Lehrangebots berücksichtigt werden.

Wie lassen sich Defizite ausgleichen und zugleich der Lehrplan des neuen Schuljahres durcharbeiten? Muss es Kürzungen im Lehrplan geben?
Wir haben in der Kommission der Friedrich-Ebert-Stiftung dafür geworben, sehr sensibel damit umzugehen. Wenn Kürzungen notwendig sind, muss die gesamte Breite des Lehrangebots berücksichtigt werden. Man sollte sich nicht ausschließlich auf die Kernfächer fokussieren. Allerdings startet in manchen Bundesländern jetzt schon wieder der Unterricht. Es ist völlig utopisch, davon auszugehen, dass man Lehrpläne auf die Schnelle substanziell reduzieren kann. Dennoch wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, sich Lehrpläne aus einer mittelfristigen Perspektive anzuschauen. Es geht nicht nur darum, an einigen Stellen möglicherweise zu entschlacken, sondern sich auch zu fragen, ob andere Bereiche wie Bildung für nachhaltige Entwicklung, politische Bildung, Demokratiepädagogik oder Digitalisierung als neue Lerninhalte in den Kanon aufgenommen werden müssen.

Wie lässt sich eine Entschlackung konkret umsetzen?
Man muss an der Quantität, nicht aber an der Qualität der Lerninhalte ansetzen. Nehmen wir Mathematik als Beispiel: Die Kompetenzbereiche „Argumentieren“ und „Beweisen“ werden an verschiedenen mathematischen Sätzen gelehrt. Müssen es zwingend drei oder vier sein, oder kommt man vielleicht mit zwei aus, bei denen man in die Tiefe geht? Auch mit Blick auf die Abschlussprüfungen spielt das eine wichtige Rolle. Prüfungsrelevant kann und darf ja nur sein, was Gegenstand des Unterrichts war. Möglicherweise lassen sich aber nicht alle Bereiche abdecken, besonders wenn es an einzelnen Schulen oder in bestimmten Regionen wieder zu Schulschließungen kommt. Dann ist die eine Klasse vielleicht im Lehrbuch auf Seite 75 und die andere schon auf Seite 175. Um nicht eine weitere Ungerechtigkeit entstehen zu lassen, hätte man bereits vor Beginn dieses Schuljahres überlegen müssen, welche Bereiche man möglicherweise zurückfahren kann. Ich sehe da noch keine praktikable Lösung.

Ich hoffe, dass Schulen nicht von der Wunschvorstellung geleitet sind: Wir bekommen den Regelbetrieb, und dann funktioniert alles.

Sind die Schulen überhaupt auf einen möglichen Wechsel von Präsenz- und Fernunterricht vorbereitet?
Ich hoffe, dass Schulen nicht von der Wunschvorstellung geleitet sind: Wir bekommen den Regelbetrieb, und dann funktioniert alles. Aber klar ist auch: Schulschließungen müssen der Worst Case sein. Denn sie haben ja nicht nur für die Schulen, sondern auch für die Familien enorme Auswirkungen. Eltern haben keine Planungssicherheit. Wie sollen sie es organisieren, wenn ihre Kinder plötzlich wieder zu Hause sein müssen, sie aber regulär arbeiten? Ein 14-Jähriger kann möglicherweise eigenständig zu Hause arbeiten, wenn die Rahmenbedingungen gegeben sind. Aber ein Zweit- oder Drittklässler braucht ja Betreuung und Anleitung. Das ist ein Punkt, der überhaupt noch nicht geklärt ist.

Meine Hoffnung ist, dass sich die Diskussion darüber, wann eine Schule wieder öffnen kann, wendet zur Frage: Ab wann ist es zwingend notwendig, dass man eine Schule schließen muss? Das wäre ein wichtiger Perspektivwechsel. Im Kreis Gütersloh wurden nach dem Tönnies-Skandal im Juni sofort wieder die Bildungseinrichtungen geschlossen. Über die Sinnhaftigkeit wurde dabei nicht nachgedacht. Ich hoffe, dass man im neuen Schuljahr – immer vor dem Hintergrund der medizinischen Vertretbarkeit – nicht so schnell Bildungseinrichtungen schließt.

Was sehen Sie als größte Herausforderungen für das neue Schuljahr?
Schulen brauchen eine hohe Flexibilität. Sie müssen vorbereitet sein auf Dinge, die man heute noch gar nicht abschätzen kann: Kommt es wieder zu einer Schließung? Wie lange wird sie dauern?

Eine große Herausforderung wird auch sein mit der Unterschiedlichkeit in den Lerngruppen umzugehen, insbesondere bei den Lernständen. Diese Herausforderung gab es schon vor der Corona-Krise, aber sie wird aller Wahrscheinlichkeit nach im neuen Schuljahr noch größer sein.

Ein dritter Aspekt ist die Digitalisierung. Wichtig ist, dass man diesen Schwung, der jetzt im System ist, nutzt und für die Schülerinnen und Schüler attraktive Formen neuer Lernmethoden entwickelt, ohne in einen Aktionismus zu verfallen, weil man glaubt, jetzt müsse alles digital werden.

Nur die Tatsache, dass die Technologien da sind, ist ja noch kein Garant dafür, dass sich Kompetenzstände verbessern.

Wie kann das gelingen?
Die pädagogische Intention muss immer das Handeln leiten. Wir brauchen nicht den Weg hin zum Digitalunterricht, sondern wir brauchen eine gute Implementierung von digitalen Technologien in die verschiedenen Lernprozesse. Dazu kann auch gehören, dass das Lernen nicht ausschließlich im Kontext des Klassenraums geschehen muss.

Wichtig dabei ist, dass die Lehrenden entsprechend qualifiziert sind und abwägen können: Wann arbeite ich mit digitalen Mitteln, wann greife ich auf analoge Wege zurück, und wie verknüpfe ich beide Welten sinnvoll miteinander? Nur die Tatsache, dass die Technologien da sind, ist ja noch kein Garant dafür, dass sich Kompetenzstände verbessern und sich Lernfortschritte erzielen lassen. Wir brauchen für den Einsatz digitaler Technologien – in den klassischen Unterrichtskontexten und für den Fernunterricht – verbindliche Qualitätsstandards.

Wie sieht es mit den Schulanfängerinnen und -anfängern aus? Die meisten sind im letzten halben Jahr nicht oder kaum in die Kita gegangen. Eine Vorbereitung auf die Schule konnte nicht stattfinden. Wird das Auswirkungen haben?
Wir machen einen deutlichen Unterschied zwischen vorschulischem und schulischem Bereich. Es gibt die Schulpflicht und einen Bildungsauftrag der Schulen. Der vorschulische Bereich hat sich in der Corona-Krise vom Bildungsauftrag gelöst und nur einen Betreuungsauftrag in Form einer Notbetreuung wahrgenommen. Welche Konsequenzen das für die Kinder hat, die jetzt in die Schule kommen und denen fast ein halbes Jahr fehlt, wissen wir noch nicht. Möglicherweise muss man diesen Kindern jetzt mehr Lernzeit im schulischen Kontext geben. Hier wird eine hohe Sensibilität der Lehrkräfte nötig sein. Ich würde mir wünschen, dass man große Freiräume für die individuellen Lernfortschritte der Kinder ermöglicht.

Was wünschen Sie den Schulen für das neue Schuljahr?
Mein Wunsch für die Schulen ist, dass sie nach den Sommerferien wirklich geöffnet werden können und dass es Unterricht in voller Klassenstärke gibt. Dann hätten die Schülerinnen und Schüler Schule wieder als Sozial- und Erfahrungsraum.

Ich wünsche den Schulen auch, dass sie mit einer gewissen Gelassenheit das neue Schuljahr angehen. Die Anforderungen sind so groß, dass es auch mal gut ist, einen Schritt zurückzutreten, um die Situation zu reflektieren.

Und ich wünsche den Schulen, dass die Lernrückstände überschaubar sind, dass wir keine fundamentalen Defizite bei bestimmten Schülergruppen haben. Damit wir mit guten Diagnose- und Fördermöglichkeiten das Schuljahr so gestalten, dass wir im übernächsten Schuljahr wirklich wieder im Regelbetrieb sind. Der dann aber hoffentlich auch nicht der gleiche ist wie vor der Corona-Krise, sondern der davon geprägt ist, dass die Entwicklungsschübe, die wir jetzt unfreiwillig bekommen haben, produktiv und kreativ weiterentwickelt werden konnten.

Zur Person

Kai Maaz
©DIPF
  • Kai Maaz ist geschäftsführender Direktor des DIPF I Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation und Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Bildungssysteme und Gesellschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
  • Zusammen mit 21 Bildungs- und Schulexpertinnen und -experten hat er Ende Mai für die Friedrich-Ebert-Stiftung Empfehlungen für die Gestaltung des Schuljahres 2020/2021 veröffentlicht. Maaz hatte den Vorsitz der Kommission.
  • Seit 2014 ist Kai Maaz Sprecher der Autorengruppe des nationalen Bildungsberichts.  Gerade ist der achte nationale Bildungsbericht erschienen.
  • Die Schwerpunkte seiner Arbeit und Forschung liegen in der Analyse sozialer Ungleichheit im Bildungssystem, der Evaluation von Schulstrukturen und Bildungsprogrammen sowie im Bildungsmonitoring.