Arbeitszeiterfassung : Jetzt wird sogar an der Schuluhr gedreht

Auch die Arbeitszeit von Lehrern muss nun genau erfasst werden. Was das in Schulen ändert, erklärt der Bildungsexperte Mark Rackles.

Dieser Artikel erschien am 27.04.2023 in DIE ZEIT
Interview: Martin Spiewak
Unterricht in einer Schulklasse
©DPA

DIE ZEIT: Überall herrscht Lehrermangel, nun denken Politik und Wissenschaft darüber nach, Lehrkräfte mehr arbeiten zu lassen. Sie haben in einer aktuellen Studie die heutige Arbeitsbelastung untersucht. Ist da noch Luft nach oben?

Mark Rackles: Das ist nicht ganz einfach zu berechnen. Aber nimmt man alle seriösen Erhebungen zusammen, arbeiten Lehrerinnen und Lehrer jetzt schon im Schnitt 43 Stunden pro Woche, also drei Stunden mehr, als sie tariflich müssten. Rechnet man diese unbezahlte Mehrarbeit auf das gesamte Personal in unseren Schulen hoch, ergeben sich rund 25.000 Lehrkräfte, die der Staat eigentlich zusätzlich einstellen müsste.

ZEIT: Dafür haben Lehrer deutlich mehr Ferien.

Rackles: Das ist einberechnet. In der Schulzeit kommen deutsche Lehrer im Schnitt auf knapp 50 Arbeitsstunden pro Woche, viele auf deutlich mehr. Diese Arbeitsverdichtung ist eine besondere Belastung des Berufs. Das können die vielen Ferien oft nicht ausgleichen.

ZEIT: Man könnte argumentieren: Viele Akademiker mit ähnlichem Gehalt kommen ebenso auf drei Stunden Mehrarbeit pro Woche. Anders als sie haben Lehrkräfte jedoch das Privileg, einen Teil ihrer Arbeitszeit selbst frei einteilen zu können.

Rackles: Mit dem Freiraum ist das so eine Sache. Lehrer bereiten den Unterricht für den nächsten Tag meist zu Hause vor, Gleiches gilt für Korrekturen. Das passiert in den Abendstunden oder am Wochenende. Einige empfinden dies als Freiheit, viele jedoch als Entgrenzung der Arbeit: Sie hört niemals auf.

ZEIT: Wie groß sind die individuellen Unterschiede in der Belastung?

Rackles: In allen Berufen gibt es faule und fleißige, belastbare und weniger belastbare Menschen. Bei Lehrkräften kommt etwas Spezielles hinzu: Ihre offizielle Arbeitszeit berechnet sich nach den Unterrichtsstunden, die sie geben. Und die sind – innerhalb der Schulform – für alle Kollegen gleich. Dabei aber ist der Arbeitsaufwand je nach Fach sehr unterschiedlich. Ein Beispiel: Wenn Sie in der Oberstufe Englisch oder Deutsch unterrichten, müssen Sie Klausuren korrigieren, die oft mehr als ein Dutzend Seiten lang sind. Da brauchen Sie pro Klausur gut und gern eine Stunde. Einen solchen Korrekturaufwand gibt es im Fach Sport nicht. Das ist natürlich alles andere als gerecht.

ZEIT: Was folgt für Sie daraus?

Rackles: Wir müssen die individuelle Arbeitszeit von Lehrkräften endlich realistisch berechnen und nicht nur das offizielle Stundendeputat – also die Anzahl der Unterrichtseinheiten, die eine Lehrkraft zu geben hat – zur Grundlage nehmen. 1873, als das Deputatsmodell in Deutschland eingeführt wurde, mag es zur Schulrealität gepasst haben. Heute jedoch gibt es so viele Zusatzaufgaben zu erledigen, dass die reine Unterrichtszeit vor der Klasse tatsächlich nur ein gutes Drittel des Arbeitsaufkommens ausmacht.

ZEIT: Das dürfte viele überraschen. Was sind die anderen beiden Drittel?

Rackles: Einen großen Teil machen die erwähnten Vor- und Nachbereitungen aus, hinzu kommen Lehrerkonferenzen, Elterngespräche oder Fortbildungen. Auch neuere Themen wie Inklusion, Digitalisierung, Ganztagsunterricht oder die Zusammenarbeit mit Betrieben und Jugendämtern kosten Mühe und Zeit – was jedoch in der Regel nicht als Arbeitszeit festgehalten wird. Konkret weiß der Staat also nicht, wie viel die größte Gruppe unter seinen Beschäftigten – immerhin rund 800.000 Personen – konkret arbeitet. Das ist ein Unding.

Schule ist mehr als Unterricht

ZEIT: Das Unding wird seit 150 Jahren akzeptiert.

Rackles: Genau das wird in Zukunft aber nicht mehr möglich sein. Laut den aktuellen Vorgaben des Bundesarbeitsgerichts sind Arbeitgeber überall verpflichtet, die konkrete Arbeitszeit ihres Personals zu erfassen. Arbeitsminister Heil hat dazu in der vergangenen Woche einen ersten Entwurf vorgelegt, der auch für Schulverantwortliche eine Bedeutung haben wird. Bisher haben sich die Kultusminister bei dem Thema weggeduckt. Jetzt aber steigt der Druck, das anachronistische Deputatsmodell zu reformieren.

ZEIT: Gibt es Vorbilder, wie man die Arbeitszeit gerechter berechnen und verteilen kann?

Rackles: Unter anderem in Hamburg. Die Hansestadt hat sich als einziges Bundesland vor 15 Jahren vom Deputatsmodell verabschiedet. Stattdessen bekommt dort jede Lehrkraft eine Jahresarbeitszeit, in die nicht nur die verschiedenen Unterrichtfächer je nach Aufwand einfließen, sondern auch Aufgaben jenseits des Klassenraums.

ZEIT: Wie funktioniert das?

Rackles: Jedes Fach hat in Hamburg je nach Arbeitsaufwand einen bestimmten Zeitfaktor. Um beim Beispiel zu bleiben: Während einer Sportstunde der Faktor 0,8 zugewiesen ist, liegt er im Fach Englisch bei 1,2 – mit der Folge, dass eine Englischlehrerin weniger Stunden unterrichten muss als ihr Sportkollege. Ebenfalls weniger unterrichten muss, wer zusätzliche Aufgaben übernimmt, etwa eine Klassenleitung, die Wartung der Computer oder die Leseförderung. Die konkrete Zuweisung erfolgt in zwei Stufen: Zuerst bekommt die ganze Schule ein Arbeitszeitbudget, das dann von der Leitung auf das Kollegium verteilt wird.

ZEIT: Hört sich kompliziert an.

Rackles: Ist es auch. In Österreich ist es noch komplizierter, dort differenziert man in sechs Lehrverpflichtungsgruppen mit jeweils bis zu 264 verschiedenen Lehrertätigkeiten. Ich halte das für zu kleinteilig und übertrieben. Aber das Grundprinzip ist richtig: Schule ist mehr als Unterricht.

ZEIT: Dennoch ist das Modell in Hamburg auch nicht gerade beliebt.

Rackles: In Hamburg war die Einführung des Modells leider mit einer generellen Erhöhung der Lehrerarbeitszeit verbunden, was den neuen Verteilmechanismus diskreditierte. Bei aller Kritik habe ich aber nicht das Gefühl, dass die Hamburger zurück zur alten Lösung wollen, die deutlich unfairer und intransparenter ist. Zudem ist es durchaus sinnvoll, dass die Schule vor Ort über die Verteilung der Stunden entscheidet.

ZEIT: Das birgt aber Konfliktpotenzial.

Rackles: Stimmt, das Modell erfordert eine starke Schulleitung, die mit Kollegen über ihre konkrete Arbeitsleistung ins Gespräch geht und sich dabei auch einmal unbeliebt macht. Aber Schulen sind mittelständische Betriebe, die brauchen Führungsverantwortung und ein klares Personalmanagement. Leider fehlt unseren Schulen oft beides.

Die moderne Schule braucht nicht unbedingt mehr Lehrer

ZEIT: Ist es nicht ebenso anachronistisch, dass Lehrer in der Schule keinen richtigen Arbeitsplatz haben?

Rackles: Ideal wäre, wenn die Lehrkräfte ihre gesamte Arbeit in der Schule absolvierten. Das würde aber bedeuten, dass alle bis zum späten Nachmittag blieben …

ZEIT: … was nicht jedem Lehrer und jeder Lehrerin gefallen dürfte.

Rackles: Stimmt. Aber eine feste Kernarbeitszeit erleichtert auch die Zusammenarbeit zwischen den Kollegen, was unter dem Strich wiederum Zeit spart – etwa indem man die Unterrichtsvorbereitung von anderen übernimmt. Aus Studien wissen wir, dass ein hoher Grad der Kooperation den Stresslevel im Kollegium senkt.

ZEIT: Sie haben die deutsche Lehrerarbeitspraxis auch mit der in anderen Ländern verglichen. Was fällt dabei auf?

Rackles: Es gibt kaum noch ein Land, das wie wir nur die offiziellen Unterrichtsstunden zählt. Zudem arbeiten deutsche Lehrer relativ viel: im Jahr knapp 200 Stunden mehr als der OECD-Durchschnitt.

ZEIT: Deutsche Lehrkräfte gehören international aber auch zu den Spitzenverdienern.

Rackles: Richtig, nur Schweizer und Luxemburger Lehrer verdienen mehr. Was jedoch besonders auffällig ist: Der deutsche Staat setzt die teure Arbeitskraft seiner Lehrer ziemlich ineffektiv ein. Dass sie ihre Zeit nur zu einem Drittel fürs Unterrichten verwenden, ist schon außergewöhnlich. Die erwähnte Wartung von Computern, die psychologische Betreuung verhaltensauffälliger Kinder, selbst die Pausenaufsicht sind keine genuinen Aufgaben eines Lehrers. Das machen andere Länder besser.

ZEIT: Wie?

Rackles: Indem sie andere Professionen in die Schule holen: IT-Experten, Schulkrankenschwestern oder Psychologen. Meiner Meinung nach benötigt jede größere Schule einen Verwaltungsleiter, der sich um die angesprochene Personalverteilung kümmert, Laptops bestellt sowie das Schulbudget managt. All das machen heute unsere Schulleitungen. Die sollten sich aber besser um die pädagogische Führung kümmern.

ZEIT: Das heißt, eine gerechtere Arbeitsverteilung benötigt Ihrer Meinung nach nicht unbedingt mehr Lehrkräfte?

Rackles: Die moderne Schule braucht mehr Menschen, aber nicht unbedingt mehr Lehrer. Würde man diese von den vielen nichtpädagogischen Arbeiten entlasten, könnten sie sogar die eine oder andere Stunde mehr unterrichten. Nur darf die Entlastung kein leeres Versprechen sein! Und die bisher versteckten Überstunden im Umfang der genannten 25.000 Stellen müsste man vorher ausgleichen. Die Zahl der Unterrichtsstunden bloß zu erhöhen, wie es einige Bundesländer jetzt vorhaben, wird dazu führen, dass noch mehr Lehrer in Teilzeit gehen oder ganz den Beruf verlassen. Das ist der falsche Weg.

Mark Rackles war zwischen 2011 und 2019 Staatssekretär in der Berliner Behörde für Bildung, Jugend und Wissenschaft. Heute arbeitet er als Berater und Publizist. Die Expertise zur Lehrerarbeit entstand im Auftrag der Deutschen Telekom Stiftung.