Mehrsprachigkeit : Herkunftssprachlicher Unterricht – eine Frage der Bildungsgerechtigkeit

Migrantenorganisationen kämpfen schon lange für die Anerkennung der Herkunftssprache im deutschen Bildungssystem, allerdings mit wenig Erfolg. Das könnte sich jetzt ändern. Durch die geflüchteten Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine rückt das Thema mit Nachdruck auf die Agenda. Ukrainischsprachige Online-Angebote sollen an deutschen Schulen integriert werden, auch wenn bis heute nicht genau klar ist, in welcher Form. Für Miglena Hristozova, stellvertretende Vorsitzende der Initiative für Mehrsprachigkeit und interkulturelle Bildung, ist die Anerkennung der Herkunftssprache als versetzungsrelevantes Fach überfällig. Im Interview erklärt sie, wie herkunftssprachlicher Unterricht bisher geregelt ist, was es mit den Feststellungsprüfungen in der Herkunftssprache als Ersatz für die zweite Fremdsprache auf sich hat und welche Potenziale die Digitalisierung mit sich bringt.

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Für Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine gibt es viele digitale Unterrichtsmaterialien in der Herkunftssprache. Doch über den Einsatz herrscht oft Unsicherheit.
©Florentine Anders

Schulportal: Frau Hristozova, Sie setzen sich in der Initiative für Mehrsprachigkeit dafür ein, dass die Herkunftssprache von Schülerinnen und Schülern aus zugewanderten Familien als zweite Fremdsprache anerkannt wird. Warum ist das so wichtig?
Miglena Hristozova: Wir müssen uns eher fragen, welche Folgen es hat, wenn wir das nicht tun. Jedes dritte Kind wächst von Geburt an mehrsprachig auf, mit fünf Jahren sind es schon 40 Prozent der Kinder, in Ballungsgebieten sind es noch mehr. Für all diese Kinder sind die Sprachkompetenzen, die sie von zu Hause mitbringen, nicht bildungsrelevant. Wenn wir von Bildungsgerechtigkeit reden, müssen wir uns auch die Frage stellen, wie die Mehrsprachigkeit im Schulsystem abgebildet wird und inwieweit wir es uns als Gesellschaft leisten können, auf dieses Potenzial zu verzichten. Bisher tun wir das, und das hat auch zur Folge, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund häufiger die Schule ohne Abschluss verlassen.

Wie ist der herkunftssprachliche Unterricht (HSU) bisher geregelt?
Es gibt kein Bundesland, in dem herkunftssprachlicher Unterricht als zweite Fremdsprache anerkannt wird. Es handelt sich lediglich um ein Ergänzungsangebot und hat nicht den Status eines versetzungsrelevanten Faches. In Nordrhein-Westfalen gibt es seit September 2021 zumindest die Regelung, dass man durch eine gute Note im herkunftssprachlichen Unterricht eine mangelhafte Note in einer Fremdsprache ersetzen kann.

Diese Ergänzungsangebote gibt es schon seit den 50er- und 60er-Jahren, als vermehrt Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben wurden. Dahinter standen bilaterale Abkommen zwischen Deutschland und den jeweiligen Ländern, mit dem Ziel, dass die Familien nach ihrer Rückkehr in ihr Heimatland wieder problemlos integriert werden können. In Baden-Württemberg gilt bis heute eine Regelung aus den 80er-Jahren. Danach wird der herkunftssprachliche Unterricht durch die Konsulate der Herkunftsländer durchgeführt. Dafür werden Lehrkräfte aus dem Herkunftsland für fünf Jahre nach Deutschland entsandt, auch die Unterrichtsmaterialien kommen aus den Herkunftsländern. Diese Konsulatsangebote dürfen auch in schulischen Räumen stattfinden. Angebote, die vom Kultusministerium Baden-Württemberg verantwortet werden, gibt es nicht. Allerdings soll sich das laut Koalitionsvertrag ändern und der herkunftssprachliche Unterricht künftig in staatlicher Verantwortung erteilt werden, so wie es in 12 von 16 Bundesländern bereits der Fall ist. Aber das allein reicht nicht aus. Seit 2019 gibt es eine Petition der Landesvertretung der kommunalen Migrantenvertretungen Baden-Württemberg, die darum kämpft, dass der herkunftssprachliche Unterricht nicht nur staatlich organisiert, sondern auch ein versetzungsrelevantes Fach wird. In einem ersten Schritt fordern die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner, dass die Herkunftssprache zumindest nach einer Feststellungsprüfung in allen Schulformen als Note für die zweite Fremdsprache auf dem Zeugnis eingetragen werden kann.

Eine solche Möglichkeit der Feststellungsprüfung für Herkunftssprachen als zweite Fremdsprache gibt es ja bereits, allerdings gehen die Bundesländer auch hier unterschiedlich vor. Wie funktioniert das genau in Baden-Württemberg und für wen gilt diese Regelung?
Die Regelung ist für Schülerinnen und Schüler gedacht, die nach der sechsten Klasse nach Deutschland kommen und die keine zweite Fremdsprache auf dem Zeugnis mitbringen. In Baden-Württemberg gibt es die Möglichkeit der Feststellungsprüfung nur für Schülerinnen und Schüler am Gymnasium für die Sekundarstufe I, jedoch nicht für die Oberstufe am Gymnasium. Die Petition will deshalb, dass die Regelung auf alle Schulformen und auf die Oberstufe und Abschlussprüfungen ausgeweitet wird.

Muss die Prüfung dann jedes Jahr wiederholt werden, um die Herkunftssprache auf dem Zeugnis als zweite Fremdsprache eintragen zu lassen?
Ja, genau so ist es. Bisher läuft es so, dass die berechtigten Schülerinnen und Schüler jedes Jahr diese Feststellungsprüfung machen können, ohne je an der deutschen Schule Unterricht in ihrer Herkunftssprache erhalten zu haben. Ich bin selbst seit mehr als zehn Jahren Prüfungsbeauftragte für Bulgarisch in Freiburg. In der Regel findet im Mai eine schriftliche Prüfung statt. Die Prüfungsbeauftragten schicken die Aufgaben über das Regierungspräsidium an die Schule des Schülers oder der Schülerin, und die Prüfung wird dann dort unter Aufsicht geschrieben. Das Problem ist, dass es keine Vorbereitung auf die Prüfung gibt. Früher hatte ich wenigstens noch Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern, konnte sie beraten und ihnen Materialien zur Vorbereitung schicken. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Ich kenne die Schülerinnen und Schüler nicht, sondern schicke lediglich die Aufgaben. Anschließend erhalte ich die geschriebenen Prüfungen zur Korrektur.

Sind diese Prüfungen in der Herkunftssprache für die Schülerinnen und Schüler nicht einfach? Schließlich ist es für sie ja keine wirkliche Fremdsprache.
Das ist alles andere als ein Selbstläufer. Ein Teil der Prüfung besteht darin, einen Text in der Herkunftssprache ins Deutsche zu übersetzen und zusammenzufassen. Diese Übersetzungskompetenz bringt man ja nicht automatisch ohne Übung mit. Es kommt vor, dass sehr gute Schülerinnen und Schüler, die gerade erst nach Deutschland gekommen sind, an diesem dritten Prüfungsteil scheitern, weil sie eben nicht die ausreichenden Deutschkenntnisse haben, um diesen Transfer zu leisten. Deshalb wäre eine Vorbereitung auf die Prüfung wichtig, das könnte auch ein digitales Angebot sein, denn es ist ja klar, dass nicht für jede Sprache vor Ort Lehrkräfte verfügbar sind. Ein solches Online-Angebot würde nicht nur den ukrainischen Schülerinnen und Schülern helfen.

Wissen die Schülerinnen und Schüler denn überhaupt, was von ihnen in der Feststellungsprüfung erwartet wird?
Ja, sie bekommen vorher ein Schreiben, in dem darüber informiert wird, welche Prüfungskomponenten es gibt und mit welcher Punktzahl diese jeweils bewertet werden. Die Aufgaben variieren nach den Kompetenzstufen, die im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen definiert sind. Das Problem ist eher, dass die Schülerinnen und Schüler oder deren Eltern häufig gar nicht erfahren, dass es für sie diese Möglichkeit überhaupt gibt. In Freiburg beispielsweise nehmen immer weniger Schülerinnen und Schüler an den Feststellungsprüfungen für Bulgarisch teil, dabei steigt die Zahl der zugewanderten Schülerinnen und Schüler aus Bulgarien. Die Frage ist, ob sie das Angebot nicht nutzen wollen oder nicht nutzen können, weil sie nicht am Gymnasium sind, oder aber, ob sie es gar nicht kennen. In NRW wurde kürzlich vom Bildungsministerium geregelt, dass die Schulen ihre Schülerinnen und Schüler darüber informieren müssen.

Wäre es nicht sinnvoll, diese Feststellungsprüfungen bundesweit einheitlich zu regeln?
Auf jeden Fall, dann wäre es auch einfacher, ein digitales Format zur Vorbereitung auf die Prüfungen zu entwickeln, das in allen Bundesländern genutzt werden kann. Die Feststellungsprüfung ist allerdings nur ein Nachteilsausgleich für die Schülerinnen und Schüler, die ab der sechsten Klasse nach Deutschland kommen. Wenn wir von Bildungsgerechtigkeit reden, bräuchten wir ein Angebot für all die Kinder, die in Deutschland geboren sind oder in einem jüngeren Alter nach Deutschland kommen. Das heißt konkret, dass wir neben dieser Erweiterung der Feststellungsprüfung auch „Regelangebote“ für den herkunftssprachlichen Unterricht brauchen. Und da wäre das Thema „Digitale Angebote“ sehr wichtig, denn man kann flächendeckend nicht jede Sprache als herkunftssprachliches Angebot haben. Durch digitale Angebote könnte man jedoch eine gute, zukunftsorientierte und vor allem auch kostengünstige Lösung finden – ortsübergreifend, zum Beispiel im Rahmen des jeweiligen Bundeslandes oder auch bundesweit. Darüber hinaus kann man digital vorhandene Ressourcen (u. a. mehrsprachige Tools wie Wörterbücher, Schreibplattformen, herkunftssprachliche Texte, Audiobücher usw.) einsetzen, die zu einem modernen herkunftssprachlichen Unterricht beitragen und den Mangel an geeigneten Lehrmaterialien auffangen könnten. Man bräuchte natürlich einheitliche Lehrpläne sowie eine entsprechende Qualifizierung der Lehrkräfte. Es wäre also insgesamt sehr sinnvoll, über die Regelung des herkunftssprachlichen Unterrichts im Zusammenhang mit der Digitalisierung des Bildungssystems nachzudenken.

Zur Person

Miglena Hristozova
©Privat

Miglena Hristozova ist promovierte Sprach- und Kulturwissenschaftlerin, Vorsitzende der Kommission für Familie und Bildung im Migrant:innenbeirat Freiburg und stellvertretende Vorsitzende der Initiative für Mehrsprachigkeit und interkulturelle Bildung. Die Initiative versteht sich als Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis und veranstaltet auch Schulungen zum Umgang mit Mehrsprachigkeit. Darüber hinaus arbeitet sie in der gemeinsamen Ukraine-Initiative zur Unterstützung der Schulen der Robert Bosch Stiftung und der Bertelsmann Stiftung mit.

Mehr zum Thema

Herkunftssprachlicher Unterricht wird in den Bundesländern unterschiedlich organisiert. Einen Überblick dazu und auch zu aktuellen Forschungen gibt es auf der Website der Universität Hamburg, zusammengestellt von Till Woerfel vom Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache und von Ingrid Gogolin von der Universität Hamburg. Auch Materialien für den herkunftssprachlichen Unterricht und Erklärvideos, wie Mehrsprachigkeit für das Lernen genutzt werden kann, sind hier zu finden.