Lehrerarbeitszeit : Heißt von Hamburg lernen, wirklich siegen lernen?

Das Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte in Deutschland ist längst überholt, da sind sich Wissenschaft und Praxis seit Jahren einig. Trotzdem wird die Arbeitszeit der Lehrerinnen und Lehrer wie vor 100 Jahren nach den 45-Minuten-Unterrichtsstunden bemessen. Kooperation- und Entwicklungszeiten beispielsweise sind in dem Pflichtstunden-Modell nicht definiert. Nur Hamburg hat vor fast 20 Jahren, im Jahr 2003, die Lehrerarbeitszeit radikal reformiert. Wie wirkt diese Reform heute? Sind die Schulen damit besser durch die Pandemie gekommen? Was könnten andere Bundesländer abschauen, und welche Fehler sollten lieber nicht wiederholt werden? Das Schulportal hat sich das Für und Wider des Hamburger Modells genauer angeschaut.

Hamburg hat bisher als einziges Bundesland das Pflichtstundenmodell durch eine neues Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte ersetzt.
©Michael Pohl/Unsplash

Besonders in der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, wie durch die übliche Arbeitszeitbemessung nach Pflichtstunden ein schnelles Reagieren auf neue Herausforderungen ausgebremst wird. Digitale Konzepte, Wochenpläne für den Distanzunterricht, kein Kind aus dem Blick verlieren – all das gelingt nur in Teamarbeit, doch dafür fehlen in den meisten Schulen festgelegte Zeiten und Strukturen. Nichtsdestotrotz hält sich das alte Pflichtstundenmodell in Deutschland hartnäckig, während andere Länder längst neue Wege gehen.

Hamburg hat als einziges Bundesland im Jahr 2003 eine Richtungsänderung gewagt. Konnten die Schulen damit besser auf die aktuellen Herausforderungen reagieren? Und warum reißt die Kritik trotz der offensichtlichen Vorteile des Modells nicht ab?

Was ist die Grundidee der Reform?

Ziel der Neuregelung der Arbeitszeit für Lehrkräfte im Jahr 2003 war eine Orientierung an den tatsächlichen Aufgaben. Neben den Unterrichtsstunden werden auch Zeiten für allgemeine Aufgaben in der Schule (z. B. Konferenzen, Aufsichten, Fortbildungen) und Zeiten für Funktionen (z. B. Klassenleitung, Fachleitung) berücksichtigt.

Das Modell geht bei der Zuweisung einer Lehrerstelle davon aus, dass 75 Prozent der Arbeitszeit für den Unterricht benötigt werden. Hinzu kommen 10 Prozent für allgemeine Aufgaben und 15 Prozent für Funktionen.

In den anderen Bundesländern gibt es zwar auch die Möglichkeit, Lehrkräfte von einer bestimmten Anzahl der Pflichtstunden für Funktionen von Unterrichtsstunden zu entlasten, allgemeine Aufgaben sind aber in den Pflichtstundenmodellen nicht in der Arbeitszeit festgelegt.

In Hamburg wird für jede Lehrkraft die gesamte Arbeitszeit in Zeiten für Unterricht und Zeiten für allgemeine Aufgaben unterteilt. Die allgemeinen Aufgaben sind in der Verordnung klar festgelegt. Die Schulleitung entscheidet, welche besonderen Funktionen in welchem Umfang zusätzlich auf die Arbeitszeit angerechnet werden.

Bei der Berechnung der Unterrichtszeit kommt noch die sogenannte Faktorisierung ins Spiel. Dabei wird für die Unterrichtstunde je nach Schulstufen und Korrekturaufwand in den Fächern nach einem bestimmten Umrechnungsschlüssel mehr oder weniger Arbeitszeit angerechnet. Ein Deutschlehrer in der Oberstufe beispielsweise muss dadurch weniger Stunden unterrichten als ein Sportlehrer.

Durch diese Berechnung haben die Lehrkräfte an Schulen eine ganz unterschiedliche Anzahl an Pflichtstunden. „An Gymnasien gibt es zum Beispiel Lehrkräfte, die bei Vollzeit 20 Stunden und andere, die 29 Stunden unterrichten“, sagt Helge Petersen von der Hamburger Schulbehörde. Allerdings seien die 29 Stunden selten, nur etwa 3,2 Prozent der Lehrkräfte hätten die höchste Anzahl an Pflichtstunden an Gymnasien, habe eine Stichprobe ergeben.

Was läuft besser durch das Hamburger Arbeitszeitmodell?

Vicky-Marina Schmidt, Schulleiterin der Goethe-Schule Harburg, weiß vor allem die Vorteile des Modells zu schätzen. Bevor sie nach Hamburg kam, arbeitete sie in Schleswig-Holstein nach der herkömmlichen Arbeitszeitregelung, deshalb kann sie die Modelle gut vergleichen. Ein Zurück in das alte Deputatsstundenmodell käme für sie nicht infrage. Arbeitsfelder außerhalb des Unterrichts, wie etwa Kooperationen, kämen darin nicht vor und seien somit allein vom persönlichen Engagement der Lehrkräfte abhängig. Das Hamburger Arbeitszeitmodell mache alle Arbeitsfelder sichtbar und auch, wie viele Stunden dafür jeweils vorgesehen sind.

Ein weiterer Vorteil sei die Faktorisierung und somit die Berücksichtigung von arbeitsintensiven Fächern. „Das ist auf jeden Fall gerechter, auch wenn es die absolute Gerechtigkeit nicht gibt“, so Schmidt.

Dritter entscheidender Vorteil ist für die Schulleiterin die Flexibilität: „Während der pandemiebedingten Schulschließungen konnte ich als Schulleiterin die Arbeitszeiten schnell an die neuen Herausforderungen anpassen.“ Schließlich sei durch die Aufschlüsselung der verschiedenen Arbeitsfelder sichtbar gewesen, welche „allgemeinen“ Tätigkeiten wegfielen, beispielsweise Klassenfahrten oder Aufsichten. Ähnlich habe sie es mit den Funktionszeiten gehandhabt. „Bestimmte Funktionszeiten, die für langfristige Schulentwicklungsprozesse vorgesehen waren, haben wir eingefroren. Andere Organisationsarbeiten wie etwa die Ganztagskoordination fielen weg. Diese Zeiten konnten genutzt werden für Teamzeiten oder für Workshops zur Digitalisierung“, sagt Schmidt. Auch um vor Arbeitsüberlastung zu schützen, sei es hilfreich, wenn alle Arbeitszeiten nicht in einer Blackbox, sondern sichtbar sind.

Und nicht zuletzt ermögliche das Arbeitszeitmodell eine neue Form der Personalentwicklung. Öffentlichkeitsarbeit zum Beispiel könne sie einer Kollegin oder einem Kollegen als Funktionszeit anrechnen. Das sorge für Verlässlichkeit und Professionalität. Verlässlich und ebenso verbindlich seien an der Goethe-Schule Harburg auch die Teamzeiten der Kolleginnen und Kollegen einmal pro Woche im Stundenplan verankert.

Was sind die Kritikpunkte am Arbeitszeitmodell in Hamburg?

Warum gibt es dennoch immer wieder Kritik an dem Modell? „Grundsätzlich entwickelt sich Schule derzeit sehr schnell und ist bemüht, sich an neue gesellschaftliche Anforderungen anzupassen“, sagt Schulleiterin Schmidt. Wenn ein Modell Aufgabenfelder sichtbar mache, dann sei eben auch sichtbar, was nicht enthalten ist oder inzwischen obsolet.

Um einen Abgleich des Arbeitszeitmodells mit den aktuellen schulischen Aufgaben in zumindest größeren Abständen komme man nicht herum, auch wenn dies mit Aufwand und Diskussionen verbunden sei.

Ein stellvertretender Hamburger Schulleiter, der anonym bleiben möchte, sieht das Hauptproblem darin, dass sich die Personaldecke mit der Einführung des neuen Arbeitszeitmodells nicht verändert habe. Das heißt, obwohl mehr Aufgaben angerechnet wurden, habe es dafür keine zusätzlichen Einstellungen gegeben. Die Schulleitungen seien gezwungen zu tricksen, um dennoch Zeiten für diese Aufgaben freizuschaufeln, beispielsweise durch größere Lerngruppen, verkürzte Stunden oder durch einen Anteil von Selbstlernzeiten für Schülerinnen und Schüler.

Auch die Faktorisierung berge Probleme. Zwar sei die Idee gut, den unterschiedlichen Aufwand für Fächer und Schulstufen auch unterschiedlich zu berechnen, doch die Berechnung gehe häufig nicht auf. So seien möglicherweise die Korrekturen in unteren Klassen weniger aufwendig, dafür gebe es aber mehr Aufgaben etwa bei der Zusammenarbeit mit den Eltern.

„Ein großer Kritikpunkt ist, dass in den vergangenen Schuljahren viele neue Aufgaben für Lehrkräfte hinzugekommen sind, diese aber nicht in das Arbeitszeitmodell eingeflossen sind“, sagt der stellvertretende Schulleiter. Das Problem werde auch von der Behörde erkannt, nur scheue man sich vor Änderungen, weil das Modell dann rechtlich anfechtbar wäre. Was die jetzige Regelung betrifft, sei die Widerspruchsfrist längst verstrichen, bei einer Neufassung wäre das anders.

Helge Petersen von der Schulbehörde ist bewusst, dass es über die in den letzten Jahren vorgenommenen Anpassungen hinaus in Zukunft eine Evaluierung und erneute Angleichung geben könnte. „Wenn wir jetzt bald nach EU-Recht aufgefordert sind, nachzuweisen, wie die Beschäftigten arbeiten, ist unser Modell wahrscheinlich sogar das Geeignetste, um überhaupt ansatzweise quantifizieren zu können, wie viele Lehrkräfte mit welchen Zeitanteilen in welchen Aufgabenfeldern arbeiten“, sagt Petersen. Interessant sei, wie dann die anderen Bundesländer damit umgehen. Möglicherweise gebe es dann noch mal einen Schub, auch dort neu über das Arbeitszeitmodell nachzudenken. (Anmerkung der Red.: Im Mai 2019 hatte der Europäische Gerichtshof entschieden, dass die Mitgliedstaaten Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die Arbeitszeit der Arbeitnehmer erfasst wird.)

Aber auch das Hamburger Modell sei in dieser Hinsicht nicht der Weisheit letzter Schluss, denn es sollte von Anfang an bewusst kein Abrechnungsmodell sein. Als Planungsmodell gehe es von einer Durchschnittsarbeitszeit auf Basis verschiedener Studien aus. Aber in den Schulen selbst könne der Aufwand natürlich je nach Aufgabe abweichen. Ein Nachrechnen einzelner Lehrkräfte gehe deshalb vor Ort oft nicht auf. Diese Berechnungsdiskussion sei eine Schattenseite des Modells, aber zumindest gebe es dadurch – im Gegensatz zu anderen Bundesländern – eine Grundlage, miteinander zu reden.

„Das Gefühl der Lehrkräfte, überlastet zu sein, gibt es in Hamburg genauso wie in anderen Bundesländern. Das ist keine Frage des Arbeitszeitmodells“, sagt Petersen.