Kalenderblatt

Gesamtschule : 27. November 1969

Die Serie „Kalender­blatt“ erinnert an wichtige Ereignisse, die die deutsche Bildungs­landschaft geprägt haben. In diesem Teil geht es um den 27. November 1969 – an diesem Tag beschließt die Kultusministerkonferenz (KMK), einen „Schulversuch mit Gesamtschulen“ zu starten. Damit feiert diese Schulform, in der alle Abschlüsse möglich sind, heute ihr 50-jähriges Jubiläum.

Blick ins Foyer der Neuen Schule Wolfsburg
In den vergangenen zehn Jahren wurden mehr Gesamtschulen als andere Schulformen gegründet. Darunter auch die Neue Schule Wolfsburg, die 2009/2010 als Grundschule und Integrierte Gesamtschule an den Start ging.
©Florentine Anders

In der Theorie reicht die Ursprungsidee der Gesamtschule bis in das 17. Jahrhundert zurück: Von Johann Amos Comenius über Wilhelm von Humboldt haben sich Politik und Wissenschaft bis heute mit dem Konzept „einer Schule für alle“ befasst. In der Weimarer Republik hatte man sich 1920 als Kompromiss widerstreitender Parteien auf eine vierjährige gemeinsame Grundschule mit einem mehrgegliederten Schulsystem ab der fünften Kasse geeinigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich diese Tradition zumindest in Westdeutschland fort, obwohl die USA als dominierende westliche Besatzungsmacht die Gesamtschule favorisierten. In der sowjetischen Besatzungszone erweiterte man die gemeinsame Grundschulzeit zunächst auf acht Jahre.

Im Zuge der 1968er-Studentenproteste, die sich auch für mehr Bildungsgerechtigkeit einsetzten, rückte in der Bundesrepublik die Gesamtschule wieder in den Fokus. Ziel der Reformbewegung war es, Schülerinnen und Schülern aus allen Bevölkerungsschichten den Zugang zu den Hochschulen zu ermöglichen. Erfahrungen in anderen Ländern hatten gezeigt, dass die Gesamtschule, an der auch das Abitur möglich ist, dafür die geeignete Schulform sein kann.

Gesamtschulen sollten Kontakt zwischen den Bevölkerungsschichten herstellen

Der Deutsche Bildungsrat empfahl daher im Januar 1969, die Gesamtschule versuchsweise einzuführen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) beschloss am 27. November 1969 der Empfehlung des Bildungsrates zu folgen. Zunächst sollte die Gesamtschule als zusätzliche Schulform eingeführt werden, ohne das gegliederte System grundsätzlich zu verändern.

Dabei hatte man ehrgeizige Ziele: Die Gesamtschule sollte nicht mehr äußerlich unterscheiden zwischen volkstümlicher und wissenschaftlicher Bildung, sondern wissenschaftliche Schule für alle sein. Sie sollte Lerngeschwindigkeiten individualisieren und besser fördern können. Sie sollte Kontakt herstellen zwischen den Bevölkerungsschichten und soziale Erfahrungen ermöglichen. Man wollte sich von alten Strukturen lösen, um mehr Bildungsgerechtigkeit herzustellen.

Inzwischen gehört die Gesamtschule, die 1982 als Regelschule aufgewertet wurde, zwar zum festen Bestandteil der Bildungslandschaft, das dreigliedrige Schulsystem konnte sie aber – anders als von den Gründungsvätern erhofft – nicht ablösen. Im Schuljahr 2016/17 lernten in Deutschland in der Sekundarstufe I 18 Prozent der  4,1 Millionen Schülerinnen und Schüler an Gesamtschulen. Der Anteil an den Gymnasien war mit 34 Prozent fast doppelt so groß. In den vergangenen zehn Jahren wurden  allerdings mehr Gesamtschulen als andere Schulformen neu gegründet – auch als Folge der durch PISA 2000 ausgelösten Debatte um die mangelnde Bildungsgerechtigkeit in Deutschland.