Forschung : Warum Erwachsene beim Lernen auf die Bremse treten
Erwachsene lernen nicht mühsamer als Kinder, sondern anders, sagt die Lern- und Lehrforscherin Elsbeth Stern von der ETH Zürich. Im Interview mit dem Schulportal erklärt sie, warum erfahrene Lehrkräfte oft lieber an erprobten Modellen festhalten und was das für die Fortbildung von Lehrkräften bedeutet.
Schulportal: Frau Stern, es heißt ja oft, Erwachsene würden langsamer und mühsamer lernen als Kinder. Ist da was dran, oder lernen Erwachsene einfach anders?
Elsbeth Stern: Nein, es ist nicht so, dass Erwachsene langsamer lernen als Kinder. Meist trifft das Gegenteil zu. Das Entscheidende beim Lernen ist das Vorwissen. Je mehr Wissen man bereits erworben hat und je mehr Lerngelegenheiten einem bereits geboten wurden, umso einfacher und schneller kann man viele Dinge lernen. Der Vorteil zum Kind ist, dass man auf Vorhandenes aufbauen kann. Ein erwachsener Mensch, der bereits rechnen kann, wird zum Beispiel auch die Differentialrechnung erlernen können, während das für ein Kind ohne Vorwissen in Arithmetik unmöglich ist.
Warum ist es dann für ältere Menschen so viel mühsamer, eine Fremdsprache zu erlernen als für Kinder?
Wenn Kinder mit ihren Eltern ins Ausland gehen, lernen sie tatsächlich meist die Sprache schneller als die Eltern. Das liegt daran, dass die Muttersprache noch nicht so ausgeprägt ist und sie sich auf einem relativ niedrigen Niveau verständigen. Die Erwachsenen können sich ja in ihrer Muttersprache schon sehr differenziert ausdrücken. Deshalb halten sie natürlich lieber daran fest. Für jeden erwachsenen Menschen ist es ja ein Horror, in einer Fremdsprache zu radebrechen. Sich wie ein sechsjähriges Kind auszudrücken, kann man ja nicht wirklich wollen.
Vorwissen kann zum Nachteil werden, wenn man die Dinge automatisiert hat und dann nicht davon loskommt. Das kennt jeder, der einmal versucht hat beim Autofahren von der Automatik auf die Gangschaltung zu wechseln. Man tritt in der ersten Zeit automatisch beim Schalten auf die Bremse.
Gerade im Zuge der Digitalisierung wird von vielen Lehrkräften verlangt, sich ständig weiterzubilden und auf Neues einzulassen. Ist das für die älteren Lehrkräfte überhaupt möglich oder müssen wir da auf die Jüngeren setzen?
Erwachsene wollen zwar an Bewährtem festhalten, aber sie können sich auch ändern. Die Einführung des Computers hat gezeigt, dass auch bei den älteren Erwachsenen das Umlernen möglich ist. Die Schreibkräfte haben sich zuerst heftig gewehrt und den Computer verteufelt. Als sie dann damit arbeiten mussten, haben sie schnell die Vorteile erkannt und den Umgang mit dem Word-Programm schneller gelernt als so mancher Wissenschaftler an der Uni. Wenn die Lehrkräfte erkennen, dass der Einsatz der neuen Software oder der neuen App tatsächlich Vorteile bringt, werden sie auch umdenken. Dabei muss man ja nicht alles mitmachen. Mich ärgert auch, wenn ich mich an eine neue Software gewöhnen soll, die aus meiner Sicht überhaupt nicht besser ist als die alte.
In der Lehrerfortbildung geht es ja oft darum, die alten Muster zu verändern. Zeitgemäße Pädagogik ist ganz anders, als es die Lehrkräfte noch vor 30 Jahren gelernt haben. Wie gelingt es, die erfahrenen Lehrkräfte dafür zu öffnen?
Jeder, der in der Lehrerfortbildung gearbeitet hat, kennt diese zwei Sätze: „Das mach ich doch schon lange so“ und „Mit meiner Klasse geht das nicht“. Die erfahrenen Lehrkräfte wollen in der Regel an ihrem erprobten Modell festhalten. Das ist eine ziemlich normale Reaktion. Ein Umdenken erreicht man meist dann, wenn ein Kollege oder eine Kollegin in der eigenen Klasse vormacht, dass ein anderer Unterricht tatsächlich besser funktioniert. Wenn man sich den Unterricht vor Ort genau ansieht und dann ganz konkret aufzeigt, wo man zum Beispiel Aufgabenstellungen optimieren kann, dann nehmen das auch die erfahrenen Lehrkräfte gern an. Das passiert in der Schweiz viel über Unterrichtsbeobachtung. Ich selbst sitze als Mitglied einer Schulkommission oft in der Klasse und schaue mir die Kinder genau an. Ich würde mir nicht zutrauen, besser zu unterrichten. Die Expertise dafür liegt klar bei der Lehrkraft. Aber ich kann die einzelnen Kinder besser im Blick haben. Anschließend kann ich der Lehrerin oder dem Lehrer zurückmelden, welche Aufgabenstellung gut funktioniert oder bei welchem Kind man vielleicht eine veränderte Aufgabenstellung ausprobieren sollte. Wichtig ist es, den Verständnisprozess bei den Kindern immer wieder zu überprüfen und den Unterricht anzupassen.
Ein Seminar in einem Fortbildungszentrum außerhalb der Schule bringt also gar nichts?
Es kann schon interessant sein für die Lehrkräfte von neuen Forschungsergebnissen zur Unterrichtsgestaltung zu erfahren. Aber werden sie das, was sie gehört haben am nächsten Montag in ihrer Klasse auch umsetzen? Eher nicht. Nachhaltiger wird die Fortbildung, wenn sie in der Schule fortgesetzt wird. Das können auch Kolleginnen und Kollegen untereinander machen, indem sie gegenseitig ihren Unterricht beobachten und auswerten.
Kann Deutschland in Sachen Lehrerfortbildung von der Schweiz etwas lernen?
Da die Autonomie der Schulen in der Schweiz sehr viel größer ist, kann man viele Formate erproben, zum Beispiel, indem man als Lehrerbildner in den Unterricht geht.
Wie sinnvoll sind dann die Webinare oder andere Onlineformate?
Webinare können die Fortbildung nicht ersetzen, genau so wenig wie Bücher oder Youtube-Videos die Schule ersetzen können. Sie können aber eine sinnvolle Ergänzung sein, zum Veranschaulichen oder zum Vertiefen. In meinen Fortbildungen verweise ich auch gern auf Videos, in denen ein Sachverhalt gut dargestellt ist.
Zur Person
- Die Psychologin Elsbeth Stern ist Professorin für Lern- und Lehrforschung an der ETH Zürich. Ihre Schwerpunkte liegen in der Kognitionspsychologie und in der Intelligenzforschung.
- Dort ist sie verantwortlich für den pädagogischen Teil der Ausbildung angehender Gymnasiallehrkräfte.
- In ihren wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt sie sich vorrangig mit dem Erwerb, der Veränderung und der Nutzung von Wissen.