Kooperationsgebot : Die Schweiz zeigt, wie Bildungsföderalismus funktionieren kann

Die Parteien SPD, Grüne und FDP haben sich in ihrem Ampel-Koalitionsvertrag für eine grundlegende Reform des Bildungsföderalismus ausgesprochen. Vorgesehen ist ein Kooperationsgebot zwischen Bund und Ländern, falls erforderlich auch per Änderung des Grundgesetzes. Seit Jahren kommt die Harmonisierung der Bildungssysteme in den 16 Bundesländern nicht voran. Die Schweiz hat es geschafft, den Bildungsföderalismus zu reformieren, ohne dabei die Souveränität der 26 Kantone in dieser Frage aufzugeben. Wie ist das gelungen? Darüber sprach das Schulportal mit Hans Ambühl, der von 2000 bis 2017 als Generalsekretär der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) den Reformprozess und die Verfassungsänderung begleitete. Die EDK entspricht der KMK in Deutschland.

Die 26 Kantone in der Schweiz haben die Bildungshoheit, trotzdem ist die Zusammenarbeit untereinander und mit dem Bund verbindlich geregelt.
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Schulportal: Herr Ambühl, auch in der Schweiz kochte in der Vergangenheit ähnlich wie in Deutschland regelmäßig die Kritik an der „Kleinstaaterei“ in der Bildung hoch. Schließlich kam es 2006 zu Verfassungsänderung per Volksabstimmung. Was war der Auslöser und was wurde damals beschlossen?
Hans Ambühl: Um das zu verstehen, ist es wichtig, in die Historie zurückzugehen. In der Schweiz sind seit jeher die Kantone für das Schulwesen zuständig, mit Ausnahme der beruflichen Bildung, die in der Hand des Bundes liegt. Das wurde schon in der Bundesverfassung 1874 in Artikel 62 so festgeschrieben. Natürlich hatten die Kantone dennoch das Bedürfnis zusammenzuarbeiten. Deshalb ist die Konferenz der kantonalen Minister, also die sogenannte Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), 1897 gegründet worden. Die Zusammenarbeit war aber eher lose und erfolgte vor allem über Absprachen und Empfehlungen. Im Zuge der 68er-Bewegung wurde dann vermehrt der Ruf nach einer verbindlichen Schulharmonisierung durch den Bund laut. 1970 führte das bis zum konkreten Vorhaben einer Partei, eine Bundesinitiative zu starten. Dies hätte bei ausreichenden Unterschriften zu einer Volksabstimmung führen können. Soweit wollten es die Kantone nicht kommen lassen. Um die Initiative abzuwenden, haben sie in der EDK einen Staatsvertrag, das sogenannte Schulkonkordat, beschlossen. Das war die die erste richtig verbindliche Zusammenarbeitscharta, die bis heute Wirkung zeigt. Die Volksinitiative konnte durch die Eigeninitiative der Kantone abgewendet werden.

Hans Ambühl
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Trotzdem kam es 2006 zu einer zu einer Verfassungsänderung per Volksabstimmung. Was ist passiert?
Der erste Staatsvertrag enthielt nur einige wenige Harmonisierungen in strukturellen Bereichen, und auch dort betraf er nur wenige Elemente, wie zum Beispiel das Einschulungsalter oder die Dauer eines Schuljahres. Mit der Zeit kam es auch zu vertraglichen Regelungen von Finanzierungsfragen, etwa der sehr wichtigen Universitätsvereinbarung. Dadurch, dass die Kantone anders als die Bundesländer in Deutschland, sehr klein sind, haben sie daran auch ein ureigenes Interesse. Schließlich ist es vielen Kantonen gar nicht möglich, ein vollständiges Bildungssystem inklusive Hochschulbereich anzubieten. Mir ist es wichtig, zu betonen, dass ein 1:1 Vergleich mit Deutschland durch die unterschiedlichen Gegebenheiten gar nicht möglich ist.

Um die Jahrtausendwende kam es in der Schweiz dann erneut zu einem starken Druck aus der Bevölkerung, auch in inhaltlichen Fragen des Bildungssystems eine Harmonisierung zu erreichen. Es ging zum Beispiel um einheitliche Bildungsziele der einzelnen Schulstufen oder um gemeinsame Übergangsregelungen. Auch da gab es wieder Ankündigungen von Volksinitiativen. Im Bundesparlament wurde eine parlamentarische Initiative für mehr Bundeskompetenzen gestartet. Vorgesehen war eine „Grundsatzgesetzgebungskompentenz“ des Bundes im Bildungsbereich. Das wollten wir in der EDK nicht, denn die Frage, wann es sich um eine Grundsatzgesetzgebung handelt und wann um konkrete Gesetzgebung im Kanton, wäre nicht zu definieren gewesen. Der Wald beispielsweis unterliegt in der Schweiz auch einer Grundsatzgesetzgebung und da wird mittlerweile der Waldabstand bis auf den Zentimeter geregelt. Das wollten die Kantone verhindern und haben stattdessen selbst zusammen mit der zuständigen Kommission des Bundesparlaments die Verfassungsnovelle von 2006 entwickelt. Diese Verfassungsnovelle wurde dann per Volksabstimmung angenommen.

Was genau wurde geändert, hat der Bund nun mehr Einfluss?
Mit Artikel 61a wird geregelt, dass Bund und Kantone gemeinsam im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für eine hohe Qualität und Durchlässigkeit des Bildungsraumes Schweiz sorgen. Interessant ist die Formulierung „im Rahmen ihrer Zuständigkeiten“, das bedeutet, an den Zuständigkeiten hat sich nichts geändert. Durchlässigkeit ist in der Schweiz sehr wichtig, weil wir ab Sekundarstufe II einen hohen Anteil an Berufsbildung haben, die nicht in Sackgassen münden darf. Auch der Begriff „Bildungsraum“ war eine Erneuerung. Das heißt, man versteht das schweizerischen Bildungssystem als ein kohärentes Ganzes, das in sich durchlässig ist. Geregelt wird auch, wie diese Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen zu erfolgen hat. Und dann hat man noch etwas Entscheidendes hinzu gefügt: Artikel 62, Absatz 4 besagt nämlich, dass die Koordinierung in bestimmten Bereichen zwingend zustande kommen muss; wenn das nicht gelingt, erlässt der Bund die notwendigen Vorschriften. Diese klar definierten Bereiche betreffen zum Beispiel Bildungsziele in den einzelnen Schulstufen oder auch die Übergänge.

2006 wurde also in einem gemeinsamen Prozess die Zusammenarbeit unter den Kantonen und mit dem Bund zur Verfassungspflicht gemacht. Ein Jahr darauf haben die Kantone einen neuen Staatsvertrag beschlossen, der die Harmonisierung der obligatorischen Schule betraf.

In Deutschland wollen die Ampel-Parteien laut Koalitionsvertrag ein verbindliches Kooperationsgebot für Bund und Länder. Doch wer definiert, in welchen Bildungsbereichen die Länder kooperieren müssen und wo nicht? Wie ist das in der Schweiz geregelt?
Das schreibt bei uns die Verfassung klar vor. Wir wollten ja gerade für die Bundeskompetenzen nicht diese allgemeinen offenen Formulierungen. Wir haben also Kriterien formuliert, wo die Harmonisierung zwingend erreicht werden muss. Die Sekundarstufe I dauert in allen Kantonen zum Beispiel seither gleich lang. Die Bildungsziele sind im Rahmen des Staatsvertrages definiert. Dort ist zwar vereinbart, dass es keinen einheitlichen Lehrplan für alle Kantone in der Schweiz gibt, wir haben immerhin drei Sprachregionen, die in ihren Kulturen bis hinein in die Didaktik unterschiedlich sind. Aber wir haben Grundkompetenzen definiert, die zum Ende der jeweiligen Schulabschnitte überall erreicht werden müssen. Zusätzlich haben in allen drei Sprachregionen die Kantone untereinander ihre Lehrpläne vereinheitlicht. Ohne diese verfassungsrechtliche Verankerung wäre das nicht gelungen, weil die Verpflichtung zur Verbindlichkeit gefehlt hätte. Das ist, denke ich, auch in Deutschland die Herausforderung.

Grundlage für die Zusammenarbeit der Kantone in der Schweiz ist auch das gemeinsame Bildungsmonitoring. Wie funktioniert das genau?
Für mich ist das Bildungsmonitoring das wichtigste Instrument für die Zusammenarbeit unter den Kantonen und mit dem Bund. An einem Bildungssystem soll ja tunlichst nicht irgendwie punktuell herumoperiert werden. Die diesbezügliche Zusammenarbeit der Behörden setzt ein gemeinsames Bewusstsein voraus, wie das Bildungssystem aussehen und wirken soll. Dafür muss man zunächst gemeinsame Kriterien haben, nach denen das System bewertet wird. Diese werden dann in regelmäßigen Abständen überprüft. Wir machen das alle vier Jahre in einem Bildungsbericht mit den relevanten Daten aus Statistik und Bildungsforschung Der Bericht ist immer in der gleichen Art und Weise aufgebaut, so dass man auch Veränderungen gut erkennen kann. Das System wird also analysiert und dann werden Schlüsse daraus gezogen, nur so kann die Zusammenarbeit sorgfältig und kontinuierlich umgesetzt werden. Nach der gemeinsamen Auswertung des Bildungsbericht geben Bund und EDK in einer öffentlichen Erklärung eine gemeinsame Beurteilung der Lage ab und leiten daraus auch Maßnahmen auf gesamtschweizerischer Ebene ab. Und dann werten natürlich auch die einzelnen Kantone den Bericht für sich selbst aus.

Auch in Deutschland gibt es regelmäßige Bildungsberichte, allerdings entscheidet jedes Land selbst, welche Schlussfolgerungen gezogen werden. Wie gelingt es in der Schweiz, dass die Kantone daraus gemeinsame Konsequenzen ableiten?
Wenn es um Fragen geht, die das nationale Bildungssystem bzw. die gesamte Schweiz betreffen, werden sie im Sinne der Verfassung zum Thema für alle Kantone. Beispielsweise Wertigkeit des Abiturs oder auch Bildungsgerechtigkeit sind solche Fragen. Wenn dort wiederholt Defizite in den Bildungsberichten auftauchen, müssen gemeinsam Antworten gefunden werden.

Die Antworten könnten ja unterschiedlich ausfallen. Was passiert, wenn sich die Kantone nicht einigen können?
Die Einigung ist nicht immer einfach. Auch die Frage, was überhaupt gemeinsam entschieden werden muss, wird teilweise unterschiedlich bewertet. Und das verändert sich auch im Laufe der Zeit. Relativ neu ist hier zum Beispiel das Thema Bildungsgerechtigkeit hinzugekommen. Lange herrschte die Auffassung vor, dass dies doch besser angepasst an die jeweiligen Verhältnisse vor Ort entschieden werden sollte. Das stimmt zum Teil. Aber wenn es etwa um eine ungleiche Selektion beim Übergang zum Gymnasium geht, dann betrifft dies das ganze System, denn die gesamtschweizerische Maturitätsanerkennung geht von der Gleichwertigkeit der Abschlüsse aus. Dafür muss man dann gemeinsame Instrumente finden. Eine solche gemeinsame Auswertung der Bildungsberichte und  daraus abgeleitet gemeinsame Zielsetzungen würde ich auch in Deutschland empfehlen. Anders lässt sich meiner Meinung nach die Zusammenarbeit nicht wirksam gestalten.  Das setzt natürlich auch den Willen zur Kooperation voraus.

Müssen immer alle Kantone einverstanden sein, oder gibt es Mehrheitsentscheidungen?
Es gibt in der EDK Mehrheitsentscheidungen. Und wenn es um die Staatsverträge geht, dann tritt man als Kanton entweder bei oder eben nicht. Es gab auch einzelne Kantone, die anfangs nicht dabei waren. Die Kantone müssen in den jeweiligen Parlamenten den Beitritt zum Staatsvertrag beschließen. In Einzelfällen hat das Volk dann auch von der Möglichkeit des Referendums Gebrauch gemacht. Zum Beispiel gab es bei der Einführung des obligatorischen Kindergartens in einigen Kantonen Widerstände. Aber selbst da, wo die gesetzliche Pflicht nicht eingeführt wurde, wurde doch das entsprechende Angebot zur Verfügung gestellt. So dass selbst in den wenigen Kantonen, die nicht dem Staatsvertrag beigetreten sind, heute der überwiegende Anteil der Kinder in den letzten zwei Jahren vor der Schule im Kindergarten ist. Der Effekt der Harmonisierung ist also trotzdem da.

Es gibt ja auch immer noch das Damoklesschwert, dass der Bund die Entscheidung trifft, wenn es keine Einigung gibt. Kam das schon einmal vor?
Es gab eine heikle Situation, als es um die Frage des Unterrichts der zweiten Landessprache ab der Primarstufe ging. Einige Regionen wollte das lieber auf die Sekundarstufe I verschieben. Das wäre im Sinne der Harmonisierung ein Problem gewesen. Der Bund hatte mit einem Gesetz gedroht. Schließlich haben die Kantone eingelenkt. Inzwischen haben alle die zweite Landessprache als Unterrichtsfach in der Primarstufe. Ich bin ein überzeugter Föderalist, aber ich sehe auch, dass das Druckmittel der subsidiären Bundeskompetenz für diese wenigen wesentlichen Bereiche des Bildungssystems legitim ist.

Wie wird kontrolliert, ob die formulierten Strategien tatsächlich umgesetzt werden?
In Fragen, wo die Harmonisierung zwingend gilt, wie zum Beispiel beim Sprachunterricht, würde sich der Bund bemerkbar machen und verhandeln. Das war aber auch ein Sonderfall, ich gehe nicht davon aus, dass es ähnliche Widerstände in diesen Bereichen noch einmal geben wird. Die Akzeptanz ist hier inzwischen sehr groß. In anderen nicht zwingenden Bereichen, wo man sich auf gemeinsame Strategien verständigt hat, sieht das anders aus. Es gibt keine „EDK-Polizei“, die in den Kantonen irgendetwas durchsetzen könnte. Das läuft eher über die Wirkung des Bildungsmonitorings. Da wird ja deutlich gezeigt, wo es Defizite gibt und was beispielsweise andere getan haben, um diese Defizite zu überwinden. Diese Form der Versachlichung bei der Steuerung des Bildungssystems scheint mir extrem wichtig. Dadurch wächst auch die gesellschaftliche Akzeptanz, wenn Veränderungsbedarfe offensichtlich werden. Gleichzeitig ist aber auch der Respekt für die Unterschiedlichkeit geboten. Was heißt denn schon „Flickenteppich“? Unterschiede sind per se nicht schlecht. Das Problem entsteht nur dort, wo Unterschiedlichkeit für die Betroffenen zur Benachteiligung führt.

Zur Person

Hans Ambühl war von 2000 bis 2017 als Generalsekretär der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) in Bern tätig. In dieser Funktion konzipierte und betreute er im Auftrag der Kantone die Geschäfte der gesamtschweizerischen Bildungszusammenarbeit, unter anderem

  • die Bildungsverfassung von 2006;
  • die Konkordate über die Harmonisierung der obligatorischen Schule und die Stipendienharmonisierung, das Hochschulkonkordat sowie mehrere interkantonale Finanzierungsvereinbarungen;
  • den Aufbau des Bildungsmonitorings und der schweizerischen Bildungsberichterstattung.

Auf einen Blick

Die wichtigsten rechtlichen Regelungen zum Bildungsföderalismus in der Schweiz im Überblick:

  • Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (1874 / 1999), Artikel 62 Absatz 1: „Für das Schulwesen sind die Kantone zuständig.“
  • Konkordat (der Kantone) über die Schulkoordination vom 29. Oktober 1970, Artikel 1: „Die Kantone bilden eine unterkantonale öffentlich-rechtliche Einrichtung zur Förderung des Schulwesens und zur Harmonisierung des entsprechenden kantonalen Rechts.“ Artikel 5: „Die Konkordatskantone übertragen der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) die Durchführung der unter Art. 2 bis Art. 4 festgelegten Aufgaben.“
  • Bundesverfassung (Teilrevision 2006), Artikel 61a Absätze 1 und 2: „Bund und Kantone sorgen gemeinsam im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für eine hohe Qualität und Durchlässigkeit des Bildungsraumes Schweiz. Sie koordinieren ihre Anstrengungen und stellen ihre Zusammenarbeit durch gemeinsame Organe und andere Vorkehren sicher.“ Artikel 62 Absatz 4: „Kommt auf dem Koordinationsweg keine Harmonisierung des Schulwesens im Bereich des Schuleintrittsalters und der Schulpflicht, der Dauer und Ziele der Bildungsstufen und von deren Übergängen sowie der Anerkennung von Abschlüssen zustande, so erlässt der Bund die notwendigen Vorschriften.“
  • Unterkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule vom 14. Juni 2007 (HarmoS-Konkordat), Artikel 1: „Die Vereinbarungskantone harmonisieren die obligatorische Schule, indem sie a) die Ziele des Unterrichts und die Schulstrukturen harmonisieren und b) die Qualität und Durchlässigkeit des Schulsystems durch gemeinsame Steuerungsinstrumente entwickeln und sichern.“