Digitaler Kulturwandel : „Die Lehrkraft muss wie ein DJ spontan sein und diverse Medien (re)mixen“

Am 19. und 20. November findet die Konferenz Bildung Digitalisierung statt. Sie gilt im deutschsprachigen Raum als die Leitkonferenz für gute Schule in der digitalen Welt. 1.700 Teilnehmende aus Schule, Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft sind angemeldet, um sich fachlich auszutauschen und zu vernetzen. Mit dabei ist auch Thomas Strasser, Professor für technologieunterstütztes Lehren und Lernen an der Pädagogischen Hochschule Wien. Das Schulportal sprach vorab mit ihm darüber, was der digitale Kulturwandel für den Lehrerberuf und für die Lehrerausbildung bedeutet.

DJ Mixer
Ähnlich wie ein DJ muss die Lehrkraft aus dem Überangebot passgenau Medien aussuchen, die den Bedürfnisse der Schülerinnen entsprechen.
©DEEPOL/Plainpicture

Sie haben mal gesagt, digitale Medien könnten kein „Zusatzschmankerl“ in der Schule sein. Vielmehr sei eine völlig neue Lernkultur nötig. Wie sieht diese Lernkultur aus?
Es geht darum, dass digitale Medien nicht mehr als „Schmankerl“ oder „Belohnung“ im Unterricht gedacht werden. Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, dann ging die Lehrerin, wenn wir alle „brav“ waren, zur Belohnung mit uns in den Computerraum. Die Arbeit mit dem Computer wurde immer als etwas Besonderes betrachtet – und das war es vor 20 Jahren ja auch.

Mittlerweile gibt es seit 25 Jahren E-Mail – da ist es nicht mehr angebracht, von „neuen Medien“ zu sprechen.

In der Lern- und auch Lehrkultur heute müssen digitale Medien als integrativer Bestandteil im Unterricht gedacht werden. Mittlerweile gibt es seit 25 Jahren E-Mail – da ist es nicht mehr angebracht, von „neuen Medien“ zu sprechen. Dennoch höre ich das immer wieder. In meiner Forschung nenne ich dieses Phänomen gern das „Lehrer-Lämpel-LTE-Paradoxon“. Einerseits ist da im schulischen Bereich oft noch immer der klassische Lehrer als Wissensvermittler, der sehr linear und professoral unterrichtet. Auf der anderen Seite steht „LTE“ als Metapher für eine Netzkultur, die auch im Unterricht viel unkonventioneller, nonlinearer, partizipativer, dynamischer und mobiler ist. Das ist möglicherweise der Grund dafür, dass digitale Medien nicht so gern im Unterricht eingesetzt werden.

Thomas Strasser
©Privat

In Deutschland sind die Lehrerverbände angesichts des Digitalisierungsschubs durch Corona eher verhalten und sprechen lieber von „digital unterstütztem Unterricht“. Sind wir da zu zögerlich?
Das finde ich gar nicht so verkehrt. Auch die Forschung schlägt inzwischen eher in diese Kerbe. Wir reden nicht mehr so gern über „die Digitalisierung“, sondern lieber über „das Lernen unter den Bedingungen der Digitalität“.

Dieser Begriff ist aus meiner Sicht viel besser, weil er das Technische nicht so sehr in den Vordergrund rückt. Die Formulierung „digital gestützt“ kann zwar auch „hin und wieder“ meinen, aber es ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Wir dürfen nicht vergessen, dass digitale Implementierungsstrategien stark von den Protagonisten des Schulsystems abhängig sind. Und das sind eben nicht nur Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung, sondern die Leute vor Ort. Wenn es wichtig ist, einen Begriff zu entschärfen, um Haltungen zu verändern, kann ich damit gut leben.

Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die da radikaler denken und meinen, wir müssten endlich mit dem „Schritt-für-Schritt-Denken“ aufhören und einen großen Sprung machen. Aber so funktioniert Schulentwicklung nicht. Sonst hätten wir in Österreich längst nicht mehr die 50-Minuten-Unterrichtsstunde, die noch aus der maria-theresianischen Epoche stammt.

Welche Kompetenzen benötigen Lehrkräfte, um die Potenziale der Digitalisierung optimal zu nutzen?
Ähnlich wie es einen Kompetenzrahmen für den Spracherwerb in Europa gibt, gibt es auch Standards für digitale Kompetenzen, die im Rahmen der EU in der „DigCompEdu“ – der „Digitalen Kompetenz Lehrender“ – gut beschrieben sind. Das kann man nachlesen, deshalb möchte ich auf einen anderen Punkt aufmerksam machen.

Für mich ist abseits dieser standardisierten Parameter der Aspekt wichtig, dass Lehrende auch Kuratoren sind. Mittlerweile prallt enorm viel an Informationen über Technologien oder Apps auf Lehrkräfte ein. Gerade während der Corona-Pandemie. Aber viele wissen nicht, wie dieses Angebot richtig im Unterricht angewendet werden kann. Das Bild des Kurators kann man sich vorstellen wie in einem Museum. Der Kurator, der eine Ausstellung zum Thema Impressionismus machen will, holt nicht wahllos Gemälde aus dem Keller, sondern sucht bestimmte Gemälde aus, mit denen er verschiedene Stilrichtungen am besten vermitteln kann.

Ähnlich sollten Lehrkräfte vorgehen. Zunächst geht es darum, sich das Unterrichtsziel zu überlegen, dann wählt man die richtige App dazu aus. Das ist nicht mehr als das „schnöde“ Primat der Didaktik, der aber noch immer nicht überall angekommen ist. Gerade jetzt wollen viele Softwareunternehmen ihre Produkte verkaufen, da ist es wichtig, dass Lehrkräfte Kuratoren sind und in der Manier der Wissenschaft Dinge konstant kritisch reflektieren, verifizieren oder falsifizieren. Man kann also durchaus auch mal eine App für seinen Unterricht schlechtheißen, auch wenn sie in den Medien oder von anderen Lehrkräften gehypt wird.

Die größte Herausforderung im Zeitalter der Überdigitalisierung ist es, noch bewusster und passgenauer mit Technologie auf die speziellen Lernbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler einzugehen.

Die Lehrkraft muss wie ein DJ spontan sein und diverse Medien (re)mixen. Auch ein DJ muss an verschiedenen technologischen Knöpfen drehen und so eine Playlist erzeugen, die dem Gros der Zuhörenden entspricht. Die größte Herausforderung im Zeitalter der Überdigitalisierung ist es, noch bewusster und passgenauer mit Technologie auf die speziellen Lernbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler einzugehen. Viele Lehrkräfte leisten ja gerade unter Corona-Bedingungen Großartiges im Bereich des Distanzlernens. Gerade in Deutschland gibt es da eine große Community, die tolle Sachen im Netz miteinander teilt.

Viele Lehrkräfte fühlen sich überfordert. Wie muss sich die Lehrerausbildung verändern? Muss sich auch hier die Lehrkultur ändern?
Das ist eine meiner Lieblingsfragen, weil ich mich als Professor an der Pädagogischen Hochschule Wien natürlich selbst täglich damit auseinandersetze. Der erste Schritt ist auch hier, bestimmte Mindsets oder Paradigmen zu ändern. Wenn im Hochschulbereich in der Lehrerausbildung Begriffe wie etwa „Zwangsdigitalisierung“ oder „Emergency Remote Teaching“ (Online-Unterricht als Notfallmaßnahme im Zuge von Corona; Anm. d. Red.) umherschwirren, dann spricht das schon Bände über die Haltung zu dem Thema.

Die Uni Wien hat Studierende im ersten Lockdown zu ihren Erfahrungen mit Distance Learning befragt. Die Rückmeldung war ganz klar: bitte weniger Arbeitsblätter auf der Lernplattform und bitte mehr Feedback, Interaktion und Kommunikation. Wir müssen in der Lehrerausbildung auch selber innovative Formate anbieten. Dann werden die Studierenden sehen, dass man mit digitalen Formaten innovativ arbeiten und diese später im Unterricht anwenden kann.

Wir müssen in der Lehrerausbildung auch selber innovative Formate anbieten. Dann werden die Studierenden sehen, dass man mit digitalen Formaten innovativ arbeiten und diese später im Unterricht anwenden kann.

Wir brauchen eine immersive Didaktik, das heißt, Lehramtsstudierende müssen in ihren Lehrveranstaltungen an der Hochschule erleben, wie man eine Lehrveranstaltung didaktisieren kann. Der Dozent oder die Dozentin müsste also in der Zoom-Konferenz Methodenvielfalt zeigen und zum Beispiel die Studierenden auffordern, ihre Klarnamen in Superhelden umzubenennen mit Superkräften, die sie als Lehrkraft gern hätten. Diese einfache Methode lässt eine gewisse Interaktion zu. In der Wissenschaft sprechen wir von „interaktionaler Proximität“. Eine der größten Herausforderungen ist es, Nähe auch beim Distanzlernen zu schaffen. Wenn es Hochschuldozenten gibt, die nicht einmal wissen, wie man einen Bildschirm teilt, und deshalb keine Online-Vorlesungen anbieten, hört mein Verständnis auf.

An den Schulen in Deutschland wird vor allem noch an der Infrastruktur gearbeitet, gleichzeitig müssen Lehrkräfte, coronabedingt oft ohne Konzepte oder Fortbildungen, erste Schritte mit digitalen Medien machen. Kann dieses „Learning by Doing“ funktionieren?
Ich denke, dass es gerade bei der Nutzung digitaler Medien eine gewisse Anleitung braucht. Es geht nicht um das klassische Fortbildungsseminar, sondern eher um Onlinekurse, die sich jeder nach Bedarf auswählen kann. Da gibt es auch schon gute Ansätze. In Österreich haben wir zum Beispiel einen Massive Open Online Course – einen MOOC – zum Distance Learning, wo sich jede Lehrkraft anmelden kann. Darin werden die Lehrkräfte mit einem klaren didaktischen Design angeleitet, ohne dass dort ständig live ein Dozent dabei ist. Das soll auch signalisieren: Traut euch, ihr müsst keine Technikexperten sein!

Gibt es in Österreich Ansätze in der Lehrerausbildung, die auch für Deutschland interessant wären?
In Österreich ist der sogenannte Acht-Punkte-Plan zur Digitalisierung sehr auf Didaktik und Anwendung orientiert. Das ist aus meiner Sicht der richtige Fokus. Es soll beispielsweise eine zentrale Plattform geben, auf der Lehrkräfte Zugang zu allen digitalen Angeboten haben. Ein Gütesiegel soll sicherstellen, dass Lern-Apps datenschutzkonform und didaktisch sinnvoll sind und gleichzeitig Hinweise geben, für welche Fächer sie geeignet sind.

Wichtig finde ich auch den gesellschaftspolitischen Fokus in der Gesamtstrategie. Wir müssen wissen, womit sich die Kinder gerade beschäftigen, und das dann auch im Unterricht aufgreifen. Meine Studierenden müssen beispielsweise auch mal einen wissenschaftlichen Vortrag in Form eines TikTok-Videos zusammenfassen, um zu sehen, wo die Potenziale des Mediums sind.

Auch die Schülerinnen und Schüler brauchen neue Kompetenzen im Zuge der Digitalisierung. Die Vergleichsstudie ICILS hat gezeigt, dass ein großer Teil der Jugendlichen in Deutschland kaum die Mindeststandards der Digitalkompetenzen erreicht. Vermitteln wir noch die richtigen Fähigkeiten in der Schule, oder müssen die Prioritäten neu gesetzt werden?
Ich bin überzeugt, dass die Vermittlung digitaler Kompetenzen nicht nur fachintegrativ passieren kann, so wie es in Österreich im Moment vorgesehen ist. Nicht jede Lehrkraft kann das in gleicher Weise übernehmen – dafür ist das Thema zu komplex.

Ich plädiere für einen eigenen Unterrichtsgegenstand „digitale Grundbildung“. Wir brauchen dafür ein eigenes Curriculum.

Ich plädiere für einen eigenen Unterrichtsgegenstand „digitale Grundbildung“. Wir brauchen dafür ein eigenes Curriculum. Die PH Wien hat ein Bachelorstudium im Bereich Grundschulpädagogik mit dem Schwerpunkt „Informatische Grundbildung und Medienbildung“ eingeführt. Mit dieser Ausbildung können die Lehrkräfte mit den Kindern Dinge wie „Social Media Security“, „Medienethik“, „Meinungsmache“, „Quellkritik“, „Popkultur“, „Schönheitswahn“ und vieles mehr thematisieren. Hinzu kommen Computational Thinking, Problemlösungsstrategien oder auch kreatives Arbeiten, unter anderem mit Laser-Cuttern und 3D-Druckern. Fakt ist, dass man nicht allein den Eltern die Aufgabe der Medienerziehung überlassen kann, denn die meisten sind dazu, nachvollziehbarerweise, nicht in der Lage.

Zur Person

  • Thomas Strasser ist Professor für Fremdsprachendidaktik und technologieunterstütztes Lehren und Lernen an der Pädagogischen Hochschule Wien.
  • Er arbeitet außerdem als wissenschaftlicher Gutachter und Berater für verschiedene internationale Bildungseinrichtungen, vor allem im Bereich Digitalisierung.
  • Zu seinen Publikationen gehören unter anderem Methodikbücher wie „Mind the App! 2.0. Inspiring tools and mobile learning activities for your class“.

Forum Bildung Digitalisierung

  • Das Forum Bildung Digitalisierung veranstaltet am 19. und 20. November 2020 zum fünften Mal in Folge die Konferenz Bildung Digitalisierung. Sie gilt im deutschsprachigen Raum als eine der wichtigsten Veranstaltungen zum Thema.
  • Erwartet werden mehr als 1.700 Teilnehmende aus Schule, Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.
  • Unter der Überschrift „Fast Forward“ findet die diesjährige Konferenz vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und dem damit verbundenen Digitalisierungsschub an Schulen statt.
  • Im Forum Bildung Digitalisierung engagieren sich derzeit acht Stiftungen: Deutsche Telekom Stiftung, Bertelsmann Stiftung, Dieter Schwarz Stiftung, Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, Robert Bosch Stiftung, Siemens Stiftung, Stiftung Mercator und Joachim Herz Stiftung.