Flüchtlinge aus der Ukraine : Die Krisenerfahrung der Schulen zahlt sich aus
Hunderttausende Kinder aus der Ukraine brauchen Bildung in Deutschland. Einfach wird es nicht, aber diese fünf Erkenntnisse werden den Schulen dabei helfen.


Die deutschen Schulen können mehr, als man ihnen vielleicht zutraut. Erst war da die Inklusion behinderter Kinder in die Schulen, dann waren da die vielen geflüchteten syrischen oder afghanischen Kinder und Jugendlichen 2015 und 2016. Und dann kam Corona mit den immer neuen Schulschließungen. Stetig stieg während all der neuen Aufgaben und Krisen der Lehrermangel. Und nun könnten Hunderttausende ukrainische Schüler und Schülerinnen bei uns in den Schulen ankommen. Wenn erschöpfte Lehrer und Lehrerinnen jetzt ein bisschen jammern, ist das verständlich. Aber schaffen werden sie auch das, wie es Angela Merkel ausdrücken würde.
Denn Schulen haben aus den Krisen gelernt. Sogar die Behörden haben gelernt. Statt dass alle Bundesländer (ausschließlich) für sich allein planen und experimentieren, hat die Kultusministerkonferenz diesmal eine Taskforce mit Expertinnen und Experten aus allen Bundesländern gebildet, die unter anderem versucht, Daten zu sichern: Zunächst geht es darum, wie viele Schüler und Schülerinnen überhaupt wo ankommen. Die Taskforce soll laut der Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Karin Prien, auch dafür sorgen, dass digitale ukrainische Lehrmaterialien rechtlich abgesichert und stabil von allen Schulen genutzt werden können. Die Expertinnen sollen zudem eruieren, welche Mittel die Länder für zusätzliche Lehrkräfte und Räume benötigen. Zu hoffen ist, dass diese Taskforce Leitlinien für deren Unterricht erarbeitet, an denen sich alle Schulleiterinnen orientieren können, selbst wenn sie im Detail improvisieren müssen. Daneben gibt es mindestens fünf Erkenntnisse, die Schulleitungen und Lehrer aus der Vergangenheit gelernt und von denen nun ukrainische Kinder profitieren könnten. Und die – evaluiert und professionalisiert – anderen Kindern in Zukunft zugutekommen werden.
Zweisprachigkeit wird jetzt gefördert
Derzeit ist nicht absehbar, wie lange die Geflohenen bleiben wollen oder müssen. Einigkeit besteht aber darüber, dass die Kinder schnell Deutsch lernen sollten. Anders als 2015 soll es daher möglichst viele Angebote in ukrainischer Sprache geben. So könnten geflohene ukrainische Lehrerinnen beispielsweise ukrainischen Geschichtsunterricht erteilen. Ukrainische Deutschlehrerinnen sollen etwa in Hamburg Willkommensklassen leiten. Unterstützt werden sollen auch die Kinder, die noch Kontakt zu ihren Klassenkameraden in der Ukraine halten, weil der Lehrer oder die Lehrerin sie weiter via Video unterrichtet. Außerdem können sie über die gut ausgebauten ukrainischen Lernplattformen und mit digitalen Lernmaterialien lernen – ältere Schüler und Schülerinnen vielleicht auch so den Abschluss machen.
Das ist eine gute Idee, viele Geflüchtete wollen wahrscheinlich so bald wie möglich in die Ukraine zurückkehren. Außerdem nutzt Mehrsprachigkeit auch der Integration. Manche Bundesländer haben damit (meist mit arabischem oder türkischem Unterricht) gute Erfahrungen gemacht. Felicitas Thiel, Professorin für Schulentwicklung an der FU Berlin und Mitglied der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (Stäwiko), die die Kultusminister wissenschaftlich berät, sagt: “Wenn die eigene kulturelle Identität und der Bezug zur Herkunftskultur gefördert wird, ist das eine wichtige Entwicklungsressource.” Wer sich marginalisiert fühle, könne sich umgekehrt schwer entwickeln. Ideal wären den Unterricht ergänzende Angebote in ukrainischer Sprache. Um das zu ermöglichen, müssen gegebenenfalls auch zivilgesellschaftliche Akteure wie Stiftungen einbezogen werden.
Schnelle Integration in die Regelklassen
Nach 2015 wurden viele Kinder und Jugendliche recht lange in sogenannten Willkommensklassen unterrichtet. Die Klassen hatten unterschiedliche Bezeichnungen, waren aber in der Regel reine Deutschlernklassen. Studien haben aber gezeigt, dass es für Schülerinnen und Schüler besser ist, wenn sie nicht zu lange in solchen Extraklassen sind, sondern bald mit Kindern aus Deutschland in Kontakt kommen sollten, sagt der Direktor vom Mercator-Institut für Sprachförderung, Michael Becker-Mrotzek. Auch Soziologin Juliane Karakayali spricht sich dafür aus, dass die Kinder bald gemeinsam unterrichtet werden sollten. Auf keinen Fall sollten sich Fehler von 2015 und 2016 wiederholen, sagt die Expertin. An vielen Schulen sei es vorgekommen, dass die Vorbereitungs- oder Willkommensklasse beim Schulausflug oder Sportfest einfach vergessen wurde. Doch wenn so etwas geschehe, würden die Kinder marginalisiert und mitunter stigmatisiert, sagt Karakayali.
Pragmatismus ist jetzt oberste Tugend
In einigen Bundesländern hat man bereits konkrete Entscheidungen getroffen. Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, das Saarland und Thüringen haben beschlossen, die neu zugewanderten ukrainischen Schüler und Schülerinnen vom ersten Tag an einer Regelklasse zuzuweisen und zusätzlich Deutschkurse zu erteilen. In den anderen Bundesländern wird der Standard eher weiter die Vorbereitungs-/Willkommensklasse bleiben. Aber auch hier wichen Schulen immer mal wieder davon ab, wenn es für ihre Situation passe, sagt die Bildungsexpertin Karakayali.
Besonders in Großstädten wie etwa Berlin könnten – schon aus purer Not wegen der hohen Flüchtlingszahlen – rein ukrainische Lernklassen entstehen. Karakayali warnt jedoch davor. Die Erfahrung der Gastarbeiterklassen habe gezeigt, dass Kinder aus solchen Sonderklassen erst gar nicht integriert worden seien. Mehr noch: Sie erhielten schlechteren Unterricht, ihre Bildungschancen waren daher schlechter. Mit dem Wissen von damals kann man vorbeugen: Selbst wenn viele ukrainische Kinder zunächst in einer gemeinsamen Klasse unterrichtet werden müssen, lässt sich mit gemeinsamem Sport- und Kunstunterricht, mit Patenschaften zwischen Deutsch sprechenden und ukrainischen Kindern oder anderen Projekten vorbeugen und die Integration fördern.
Die Digitalisierung muss vorangehen
Schließlich kann das deutsche Bildungssystem auch von der Ukraine lernen. Das osteuropäische Land ist bei der Digitalisierung viel weiter als die Bundesrepublik. Das gilt auch für den Onlineunterricht. In der Corona-Krise wurden dort sämtliche Materialien digital zur Verfügung gestellt. Private Institute können den gesamten Lehrplan von Klasse fünf bis zu den jeweiligen Abschlüssen online anbieten – eine große Chance, um die geflüchteten Kinder und Jugendlichen nun in ihrer Muttersprache unterrichten zu können. Und für Deutschland sollte dies nicht nur ein Beispiel, sondern auch ein Anreiz sein, nun endlich alle Schulen mindestens mit starkem WLAN und Leihgeräten auszustatten, sodass nicht nur der muttersprachliche Unterricht für die Flüchtlingskinder, sondern auch der deutsche Unterricht digital uneingeschränkt gelingt.
Lehrer brauchen Unterstützung
Sich digital besser aufzustellen – und das rasch – könnte auch eine Hilfe sein, um das Problem des Raum- und Lehrermangels etwas zu mildern. Jetzt kommen noch Zehntausende ukrainische Schülerinnen und Schüler dazu. Es ist wohl nicht zu vermeiden, dass in manchen Orten die Klassen größer werden. Einige Schüler und Schülerinnen könnten selbstständig an eigenen Projekten oder vertiefenden Übungen arbeiten, gerne auch digital, je nach individuellem Bedarf. Und die anderen, die darauf angewiesen sind, erhalten die Unterstützung von der Lehrerin oder dem Lehrer. Dann würde auch die propagierte Individualisierung an den Schulen langsam ernster genommen, auch wenn das nur erste Schritte wären. Thiel sagt, die Individualisierung des Unterrichts werde bisher oft nur an der Oberfläche praktiziert, zum Beispiel mit Wochenplänen.
Multiprofessionelle Teams sind ebenfalls eine alte Forderung, die nur an manchen Schulen praktiziert wird. Bildungsforscher, -verbände und -gewerkschaften fordern sie seit Langem. Es arbeiten Psychologen, Deutsch-als-Zweitsprache-Lehrkräfte, Sonderpädagoginnen, Sozialarbeiterinnen und Erzieher mit den Lehrerinnen zusammen. Mehr Verwaltungspersonal könnte die Lehrkräfte ebenfalls entlasten. Solche Teams würden nicht nur Kindern, die vor einem Krieg geflohen sind und die sich oft um ihre Väter und Brüder sorgen, zugutekommen. Die Stäwiko empfiehlt psychologische Hilfe auf drei Ebenen: erstens Hilfetelefone und psychoedukative (Online-)Angebote in ukrainischer Sprache, zweitens Gesprächsgruppen für Kinder und Jugendliche etwa mit Sozialpädagoginnen auf Ukrainisch und therapeutische Angebote für Kinder und Jugendliche mit schwerer Symptomatik zur Traumabewältigung, eventuell mit Dolmetschern. KMK-Präsidentin Prien sagt jedenfalls zu, dass mehr Schulsozialarbeiterinnen und Schulpsychologen zum Plan gehören.
Improvisieren hilft
Die wichtigste Erkenntnis ist wohl, dass Engagement und Improvisation nach vorne führen. Während der Corona-Krise klärten Lehrerinnen eben über WhatsApp Fragen zu den Schulaufgaben, obwohl es verboten war. Oder fuhren Lehrer mit dem Fahrrad zu den Kindern ohne WLAN, brachten Aufgabenzettel und Lehrbücher. Redeten vor der Tür ein paar Worte darüber, wie es dem Kind geht. Neues ausprobieren, statt zu lamentieren.
Jetzt schauen Behördenmitarbeitende sich in Facebook-Gruppen um oder telefonieren mit ukrainischen Vereinen, um ukrainische Lehrerinnen zu engagieren. KMK-Präsidentin Prien sagt, es werde auch geprüft, ob mittelfristig die Abschlüsse ukrainischer Lehrkräfte anerkannt werden könnten. Pragmatismus schlägt auch in diesem Fall Bürokratie. Vielerorts melden Schulleiter ukrainische Kinder, die in der Schule auftauchen, einfach, anstatt sie an die zuständige Behörde zu verweisen. In der Arche in Berlin betreuen ukrainische Lehrkräfte bereits Kinder, die noch keinen Schulplatz haben. Hamburg will ukrainische Lehrer einsetzen, um gleich in den Erstunterkünften ein schulähnliches Angebot für die Kinder zu ermöglichen. Das würde den Kindern auch Struktur im Alltag und vor allem Ablenkung geben – und die Mütter hätten Zeit, selbst einen Deutschkurs zu besuchen.
Dieses Eben-mal-Machen wird in der kurzen Zeit und bei fehlenden Fachleuten keine perfekten Lösungen bringen, aber immerhin schnelle Angebote in die richtige Richtung. Nur muss man später auch prüfen, was gut gelaufen ist. Und nicht einfach hoffen, dass sich die Dinge von allein regeln. 2015 und 2016 haben die deutschen Schulen vieles geschafft. Die Bürokratie indes nicht. Karakayali sagt etwa, dass es bis heute vielerorts keine vorgegebenen Lehrpläne für die Vorbereitungs-/Willkommensklassen gibt.