Deutsches Schulbarometer : „Wir müssen endlich dahin kommen, Ungleiches ungleich zu behandeln“

Infolge der Corona-Pandemie verschärft sich die soziale Ungleichheit zwischen Schülerinnen und Schülern. Auch die Ergebnisse des aktuellen Deutschen Schulbarometers Spezial zur Corona-Krise im Auftrag der Robert Bosch Stiftung lassen das erwarten. Dagmar Wolf und Dirk Zorn, die dort gemeinsam für den Bereich Bildung verantwortlich sind, werfen im Interview mit dem Schulportal einen kritischen Blick auf die Schwächen der Bildungspolitik und leiten konkrete Forderungen ab, damit gerade Schulen in sozial benachteiligter Lage mehr Unterstützung bekommen und der Innovationsschub, den die Pandemie angestoßen hat, nicht wieder verpufft.

Lehrerin unterstützt Schüler im Klassenraum Soziale Ungleichheit
Viele Schülerinnen und Schüler brauchen jetzt besondere Unterstützung. Schulen und Lehrkräfte stellt das vor große Herausforderungen.
©Bernd Weißbrod/dpa

Deutsches Schulbarometer: Welche Ergebnisse des aktuellen Deutschen Schulbarometers Spezial – der zweiten Folgebefragung von Lehrkräften zum Umgang der Schulen mit den Pandemiefolgen – haben Sie besonders überrascht?
Dagmar Wolf: Überraschend ist, dass 95 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer geimpft sind. Diese Zahl zeigt, wie sehr die Lehrkräfte in die Verantwortung gehen, um Schule trotz der schwierigen Bedingungen möglich zu machen.

Eine zweite Zahl, die mich überrascht hat, ist, dass 76 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer im Hinblick auf eine weitere Homeschooling-Phase noch immer großen Nachholbedarf bei der häuslichen digitalen Ausstattung der Schülerinnen und Schüler sehen. Bei Schulen in benachteiligter sozialer Lage sind es sogar noch mehr. Das heißt, Lehrkräfte können für digital gestützten Unterricht nicht auf ein häusliches Umfeld zurückgreifen, das dafür entsprechend ausgestattet ist.

Dirk Zorn: Mich hat vor allem das Ausmaß der „sozialen Schere“ bestürzt, das die Daten des Schulbarometers sehr deutlich belegen. So haben Lehrkräfte insgesamt bei 33 Prozent der Schülerinnen und Schüler zu Beginn dieses Schuljahres deutlich Lernrückstände festgestellt. An Schulen mit einem hohen Anteil von Familien, die staatliche Leistungen beziehen, sind es hingegen 49 Prozent.

Schlechtere Rahmenbedingungen verstärken soziale Ungleichheit

Auch mit Blick auf die psychosozialen Folgen der Pandemie zeigen sich dramatische Verwerfungen zwischen den Schulen mit mehr und solchen mit weniger armen Kindern. Gleichzeitig sind die Voraussetzungen, diese Folgen abzumildern und zu einem geregelten Lernen zurückzukehren, für Schulen in sozial benachteiligter Lage sehr viel schlechter. Die Gefahr ist groß, dass die Pandemie einen neuen Schub für soziale Ungleichheit bewirkt.

Was muss passieren, damit sich die Effekte der sozialen Ungleichheit nicht weiter verschärfen?
Wolf: Man muss das endlich zum Thema machen. Und dann müssen wir versuchen, diese Schulen so zu unterstützen, dass sie gute Arbeit machen können. Dafür brauchen sie eine herausgehobene Stellung, wenn es zum Beispiel um Schulbauprogramme oder digitale Ausstattung geht.

Aktuell stimmen die Rahmenbedingungen für diese Schulen aber nicht, das zeigt auch das Deutsche Schulbarometer. Nur jede dritte Schule mit einem hohen Anteil an Familien, die staatliche Leistungen beziehen, verfügt über eine ausreichend starke Internetverbindung. Und nur 46 Prozent der Lehrkräfte bekommen an diesen Schulen dienstliche Laptops oder Tablets gestellt. Wenn die Rahmenbedingungen aber stimmen, ist es leichter, gutes Lehrpersonal anzuwerben. Gerade Schulen in schwieriger sozialer Lage sind vom Lehrkräftemangel besonders betroffen.

Wir verfügen aktuell nicht mal über ein Monitoring, das verlässlich und einheitlich identifiziert, wo diese Schulen überhaupt sind, die besondere Begleitung und Unterstützung brauchen.
Dirk Zorn, Leiter des Bereichs Bildung bei der Robert Bosch Stiftung

Bei der Preisverleihung zum Deutschen Schulpreis 20I21 hat der Schirmherr, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, gesagt: „Die Pandemie entblößt unsere Schwächen im Bildungssystem.“  Wo liegen aus Ihrer Sicht die größten Schwächen?
Zorn: Wir haben bisher in der Fläche kein wirksames Rezept gefunden, damit auch Kinder in sozialen Brennpunkten gute und starke Lernerfahrungen machen können.

Die Zahlen des Schulbarometers sprechen hier eine deutliche Sprache: Wir haben einerseits privilegierte Lernsettings an Schulen mit wenigen sozial benachteiligten Kindern und einem guten Unterstützungsnetzwerk aus engagierten Eltern, pensionierten Lehrkräften und Schulfördervereinen. Andererseits haben wir Schulen, denen es an allem mangelt: an grundständig ausgebildeten Lehrkräften, an einem stabilen Unterstützungsnetzwerk.

Wir verfügen aktuell nicht mal über ein Monitoring, das verlässlich und einheitlich identifiziert, wo diese Schulen überhaupt sind, die besondere Begleitung und Unterstützung brauchen.

Wolf: Und wir lassen auch zu, dass wir immer noch Proporzregelungen haben, was die Versorgung durch Lehrerinnen und Lehrer angeht. Es gibt ein Lehrerstundenmodell, das nicht bedarfsorientiert ist und Ressourcen zu starr verteilt. Gerade die Schulen in sozial benachteiligter Lage haben hier großen Bedarf, um Lücken schließen zu können und individuell stärker differenzieren zu können. Wir müssen endlich dahin kommen, Ungleiches ungleich zu behandeln.

  • Dagmar Wolf und Dirk Zorn leiten gemeinsam den Bereich Bildung bei der Robert Bosch Stiftung.
  • Dagmar Wolf hat zuvor viele Jahre als Lehrerin, in der Lehrerausbildung an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, in der Schulleitung und Schulverwaltung gearbeitet. Sie hat vor allem zur Wirkung kooperativen Lernens geforscht.
Dagmar Wolf Robert Bosch Stiftung
Dirk Zorn
  • Dirk Zorn war Director bei der Bertelsmann Stiftung und hat dort das Programm „Integration und Bildung“ geleitet. Der Fokus seiner Arbeit liegt u. a. in den Feldern Bildungsmonitoring, Ganztagsschulentwicklung, digitale Bildung und Lehrerbildung.

Die Mittel bedarfsorientiert verteilen

Wo lässt sich hier der Hebel ansetzen?
Zorn: Wir haben ein Proporzproblem auf zwei Ebenen. Einzelne Bundesländer haben sich zwar auf den Weg gemacht und erste Programme aufgelegt, um Schulen in schwieriger Lage zu stärken. Diese Programme sind aber zumeist nicht weitreichend genug und wenig wirksam. Die zweite Ebene betrifft das Zusammenspiel von Bund und Ländern. Nehmen wir als Beispiel die digitale Ausstattung der Schülerinnen und Schüler: Das Sonderförderprogramm des Bundes aus dem Digitalpakt Schule zur Beschaffung von digitalen Endgeräten für Schülerinnen und Schüler folgt der Logik des Königsteiner Schlüssels. Das heißt, jedes Land erhält basierend auf dem Bevölkerungsanteil und dem Steueraufkommen Mittel proportional zugewiesen.

Mit dem Anteil ärmerer Schülerinnen und Schüler – und damit mit dem Bedarf – hat das nichts zu tun, denn ein Land wie Bayern erhält so pro Kopf mehr Geld als ein Land wie Bremen. Daran sieht man schon: Das funktioniert nicht mehr; die Gießkanne hat ausgedient. Wir brauchen eine bedarfsorientierte Zuschlüsselung der Mittel.

Wolf: Überdies sind diese Fördertöpfe verbunden mit einem bürokratischen Dickicht, an dem Schulleitungen oft verzweifeln. Das beste Beispiel dafür ist das Corona-Aufholprogramm des Bundes. Es ist darauf ausgerichtet, kurzfristig Löcher zu stopfen, aber nicht darauf, langfristig den Schulen Hilfe zu geben, sich entwickeln zu können. Und es ist für Schulen mit einem enorm großen Verwaltungsaufwand verbunden, für den sie nicht die personellen Ressourcen haben.

Wenn Sie die Ergebnisse des aktuellen Deutschen Schulbarometers betrachten: Hat sich auch etwas positiv entwickelt?
Zorn: Digitales Lernen und Lehren hat einen riesigen Schub erfahren. Das Schulbarometer zeigt, dass die Bereitschaft im Kollegium, sich mit digitalen Tools zu befassen und sie verstärkt einzusetzen, sehr verbreitet ist. So sagen im Schulbarometer 60 Prozent der befragten Lehrkräfte, dass sie heute digitale Tools häufiger im Unterricht einsetzen als vor März 2020. Die Pandemie hat hier als gigantische Fortbildungsmaßnahme gewirkt.

Allerdings: Eine stärkere Vertrautheit mit digitalen Tools geht nicht zwingend einher mit einer Verbreiterung des pädagogischen Repertoires. Das ist kein Selbstläufer. Lehrkräfte sind hier eher gespalten – auch das belegen die Zahlen im Schulbarometer. 43 Prozent der Befragten sagen: „Die Corona-Krise wird, insgesamt betrachtet, langfristig zu positiven Veränderungen an meiner Schule führen“. Aber 46 Prozent wiederum sind der Ansicht: „Ich glaube, dass wir nach der Pandemie schnell wieder zu alten Routinen zurückkehren.“ Es ist noch offen, wie das ausgeht.

Wir beobachten schon seit Jahren das Phänomen, dass sich viele Schulen aus eigener Kraft um ihre Schulentwicklung kümmern.
Dagmar Wolf, Leiterin des Bereichs Bildung der Robert Bosch Stiftung

Welche Weichen müssen Bildungspolitik, und Schulverwaltung jetzt stellen, damit der Entwicklungsschub bei der Digitalisierung, den Schulen und Lehrkräfte durch die Pandemie gerade erlebt haben, nicht verpufft und Schulen in alte Routinen zurückfallen?
Wolf: Ich glaube, wir brauchen einen enormen finanziellen Aufwand, um die Schulen ans Netz zu bringen. Bei der Internetverbindung hat sich an den Schulen noch nicht so viel getan.

Und wir brauchen an den Schulen Menschen, die den IT-Service professionell sicherstellen. Das kann nicht mehr die Lehrkraft sein, die mit Anrechnungsstunden vergütet wird. Zur Unterstützung brauchen die Schulen mediendidaktische Expertinnen und Experten, die sie in Fragen des digitalen Unterrichts unterstützen.

Das ist ein Handlungsfeld, in dem wir noch sehr wenig Expertise haben. Nicht jede Schule braucht eine solche Stelle, aber wir brauchen solche Stellen zum Beispiel auf kommunaler Ebene.

Schulen brauchen eine mediendidaktische Beratung

Zorn: Ein „Digitalpakt II“, von dem derzeit in den Koalitionsverhandlungen die Rede ist, ist aus meiner Sicht falsch. Ein Digitalpakt suggeriert eine Kraftanstrengung auf Zeit, für die der Bund einmalig Mittel bereitstellt. Das ist nicht nachhaltig.

Wir brauchen hier eine dauerhafte Lösung, für die das Verhältnis zwischen Bund, Ländern und Kommunen neu austariert werden muss. Das betrifft das Thema Bildung insgesamt. Wir haben eine Komplexität in der Steuerung erreicht, die nicht mehr zeitgemäß ist. Und unter dieser ungeklärten Steuerungsfrage leiden insbesondere Schulen in sozial benachteiligter Lage. Die neue Bundesregierung muss hier Lösungen finden.

Wolf: Schulen brauchen Rechtssicherheit. Wir haben in der Pandemie absurde Situationen erlebt: Schulen haben mit sehr viel Mühe und einem großen finanziellen Aufwand in Zusammenarbeit mit dem Schulträger zum Beispiel Teams- oder Zoom-Lizenzen angeschafft, deren Verwendung einzelne Bundesländer dann aus datenschutzrechtlichen Gründen wieder untersagt haben.

Zum Teil haben die Länder dann eigene Lösungen angeboten, die aber nicht immer verlässlich funktioniert haben und einen extremen Aufwand im Support erfordert haben, der aber oft nicht gewährleistet werden konnte. Das kann man Schulen nicht zumuten – schon gar nicht in einer solchen Situation.

Krise zeigt große Bedeutung sozialer Beziehungen in der Schule

Trotzdem gibt es Schulen – auch in kritischer Lage –, die Erstaunliches schaffen. Das haben nicht zuletzt die beeindruckenden Konzepte der Bewerberschulen für den Schulpreis 20I21 gezeigt. Was ist ihnen möglicherweise besser gelungen als anderen Schulen?
Wolf: Wir beobachten schon seit Jahren das Phänomen, dass sich viele Schulen aus eigener Kraft um ihre Schulentwicklung kümmern.

Und gerade in der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass vor allem diejenigen Schulen überzeugende Konzepte vorgelegt haben, die sehr nah an ihren Schülerinnen und Schülern sind. Sie leisten sehr viel mehr als nur fachlichen Unterricht. Sie haben einen ganzheitlichen Blick auf ihre Schülerinnen und Schüler und richten darauf ihre Arbeit aus. Sie kennen das häusliche Umfeld der Kinder und Jugendlichen und haben ihnen während der Schulschließungen nicht nur Bildungsangebote gemacht, sondern auch Unterstützung gegeben, was zum Beispiel die Infrastruktur angeht. Es gab auch Schulen, die den Kindern Carepakete nach Hause gebracht haben, weil sie um die prekäre Situation zu Hause wussten, zum Beispiel, was es heißt, wenn das Mittagessen in der Schule wegfällt.

Zorn: Ein großes Bewusstsein für die Bedeutung sozialer Beziehungen spiegelt sich auch in den Ergebnissen des Schulbarometers wider. Die Mehrheit der Lehrkräfte hat in der Befragung angegeben, dass es ihnen ein prioritäres Anliegen ist, die pädagogischen Beziehungen zu ihren Schülerinnen und Schülern zu stärken.

Lehrkräfte wissen also individuell, dass gutes Lernen ohne gute, tragfähige Beziehungen nicht funktionieren kann. Dieser Einsicht müssen wir jetzt aber auch im Bildungssystem Rechnung tragen. Erfolgreiches Lernen, Chancengerechtigkeit und Wohlbefinden gehören zusammen.

Wolf: Ich glaube, dass dies einer der zentralen positiven Aspekte der Corona-Pandemie ist. Alle haben gemerkt, welchen sozialen Stellenwert Schule und Unterricht haben. Wir müssen jetzt darauf achten, dass dieses soziale Moment nicht wieder in den Hintergrund rückt. Schule kann nur im Zusammenspiel zwischen fachlichem Lernen, sozialem Lernen und auch emotionalen Aspekten gelingen.

Unterricht ganzheitlicher verstehen

Im Deutschen Schulbarometer Spezial sagen 74 Prozent der befragen Lehrkräfte, die Kompensation von Lernrückständen finde im regulären Unterricht statt. Auch der Deutsche Schulpreis 2022 setzt den Fokus auf Unterrichtsqualität. Wieso erscheint es Ihnen gerade jetzt so wichtig, dieses Thema in den Mittelpunkt zu rücken?
Wolf: Dem Unterricht fällt jetzt eine besondere Rolle zu. Das Kerngeschäft von Schule ist der Unterricht – allerdings umfasst Unterricht mehr als fachliches Lernen. Ausgehend von einem erweiterten Lernbegriff deckt unterrichtliches Lernen sowohl das fachlich inhaltliche wie auch das methodische, soziale und personale Lernen ab. Unterricht lebt von der sozialen Interaktion aller Beteiligten.

Wir müssen gerade jetzt schauen, was wir aus den Erfahrungen der Pandemie lernen können und wie vor diesem Hintergrund ein zukunftsfähiger Unterricht aussehen kann. Wir glauben, dass sich viele Schulen hier in der Pandemie weiterentwickelt und tragfähige Konzepte für einen Unterricht entwickelt haben, der Schülerinnen und Schüler dort abholt, wo sie nach der Corona-Pandemie stehen, und sie individuell fördert.

Wir wollen eine Debatte um Unterrichtsqualität anstoßen, die letztlich immer auch eine Debatte um Schulqualität ist.

Das Deutsche Schulbarometer

  • Im Auftrag der Robert Bosch Stiftung in Kooperation mit der ZEIT hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa Ende September 1.001 Lehrerinnen und Lehrern an allgemeinbildenden Schulen befragt.
  • Zusammen mit der ersten und zweiten Befragung von April und Dezember 2020 bietet das dritte Deutsche Schulbarometer Spezial ein umfassendes Bild der Situation von Schulen und Lehrkräften in der Corona-Pandemie.
  • Alle Ergebnisse des aktuellen Deutschen Schulbarometers Spezial stehen als PDF zum Download hier bereit: