Deutsch-Abitur in Baden-Württemberg : Wie Bücher zur Pflichtlektüre werden

Wer 2024 an einem beruflichen Gymnasium in Baden-Württemberg Abitur im Fach Deutsch auf erhöhtem Anforderungsniveau ablegt, wird dafür den 1951 erschienenen Roman „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen lesen müssen. Gegen die Auswahl der Lektüre gibt es Widerstand, weil sie rassistische Sprache und Stereotype zitiert – unter anderem kommt hundertfach das N-Wort darin vor. Ein guter Anlass, um zu fragen: Wie wird eigentlich ein Buch zur Pflichtlektüre?

Junge Frau holt Buch aus Regal als Symbol für Pflichtlektüre
Welche Bücher sollten Jugendliche heute in der Oberstufe lesen? Darüber wird gerade viel debattiert.
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Viel Aufruhr gab es im Frühjahr 2023 um den Nachkriegsroman „Tauben im Gras“. Für das Jahr 2024 soll er an beruflichen Gymnasien Pflichtlektüre und Thema im Abitur sein. Doch ein Jahr später müssen die Schülerinnen und Schüler das Buch dann möglicherweise schon nicht mehr im Unterricht lesen. Dieselbe Abiturkommission, die das Buch auf die Liste der Pflichtlektüren gesetzt hatte, ist aktuell auf der Suche nach einem weiteren Titel – als Alternative für Lehrkräfte, die nicht mit „Tauben im Gras“ arbeiten wollen. So sieht der Kompromiss aus, den das baden-württembergische Kultusministerium nach der Kritik, die in einer Petition tausende Unterstützerinnen und Unterstützer fand, vorgestellt hat.

Vorausgegangen waren mehrere Gespräche, in denen das Ministerium die Entscheidung für „Tauben im Gras“ verteidigt hatte. Es gehe darum, deutlich zu machen, wie Rassismus Gesellschaft präge: damals in den 50er-Jahren, als der Roman entstanden sei, aber auch heute, erklärte Theresa Schopper, Kultusministerin in Baden-Württemberg, in einem Interview. Dass die Sprache des Romans Rassismus transportiert, räumt sie ein und rät, genau darüber im Unterricht zu sprechen.

Die „Abituraufgabenauswahlkommission“ wählt die Pflichtlektüre

In der Schule über Rassismus zu sprechen, finden auch diejenigen wichtig, die den Roman als Pflichtlektüre ablehnen – aber dafür soll eben nicht Koeppens Text die Grundlage liefern. „Um über Rassismus zu sprechen oder rassistische Sprache zu thematisieren, muss man Rassismen […] nicht reproduzieren. Es braucht auch die Literatur weißer Männer nicht, die an zukünftige Leser*innen of Color wohl keinen Gedanken verschwendet haben“, argumentiert  etwa die Autorin Simone Dede Ayive in der taz. „Man kann über Rassismus reden, ohne ihn dabei zu erleben.“

Die Entscheidung der zuständigen Kommission sei einstimmig gewesen, wie zwei Mitglieder  im Interview mit der Schwäbischen Zeitung berichten. „Klar war: Wir wollten nicht nur Goethe, Schiller und Kleist, sondern auch Gegenwartsliteratur“, erzählen sie. Aufruhr – noch dazu „mit der Vehemenz“ – habe man nicht erwartet. Die zehnköpfige Kommission habe seit Ende 2019 ihre Vorschläge ausgearbeitet und sie Anfang 2021 dem Kultusministerium vorgestellt. Ein halbes Jahr habe allein das Lesen gedauert.

„Abituraufgabenpool“ als länderübergreifendes Angebot

Nach Auskunft der Pressestelle des Kultusministeriums wählt eine „Abituraufgabenauswahlkommission“ die zwei verpflichtenden Lektüren aus, anschließend setzt das Kultusministerium sie offiziell fest. Zwei weitere würden durch das länderübergreifende Institut zur Qualitätssicherung im Bildungswesen (IQB) festgelegt. Zum Umgang mit dem Abituraufgabenpool der Länder heißt es beim IQB: „Jedes Land kann für seine eigene Abiturprüfung im jeweiligen Fach alle dem jeweiligen Prüfungstermin zugeordneten Aufgaben des Pools nutzen. Dabei entscheidet jeweils eine landeseigene Kommission darüber, welche Aufgaben des Pools für die Abiturprüfung verwendet und in welchem Umfang diese durch landeseigene Aufgaben ergänzt werden sollen. Die Verantwortung für die Abiturprüfungen eines Landes liegt also beim Land selbst.“

In der Regel werden solche Texte ausgewählt, die allgemein bedeutsame Themen und Probleme behandeln, die im Erfahrungsbereich der Schülerinnen und Schüler liegen und für sie als Heranwachsende relevant sind oder potenziell relevant werden könnten.
Benedikt Reinhard, Pressereferent des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg

Die baden-württembergische Kommission bestünde „aus erfahrenen Fachberaterinnen und Fachberatern (Personen, die sich in einem Fach sehr gut auskennen und auch Lehrkräftefortbildungen abhalten) sowie besonders ausgesuchten qualifizierten Lehrkräften, die in der jeweiligen Schulart unterrichten“, erklärt das Ministerium weiter. Benannt und beauftragt würden sie vom Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW)  im Einvernehmen mit dem Kultusministerium. Um in einer solchen Kommission mitzuarbeiten, muss eine Person vom Kommissionsvorsitzenden und dem IBBW „gesucht und berufen“ werden. Auch die Regierungspräsidien und Schulleitungen seien dabei einbezogen. Eine festgelegte Dauer der Mitgliedschaft gibt es nicht.

Viel Spielraum bei der Auswahl der Pflichtlektüre

Welche Kompetenzen die Schülerinnen und Schüler durch die Beschäftigung mit der Lektüre erwerben sollen, regeln sowohl die Bildungsstandards Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife  als auch die Bildungspläne der Länder. In den Bildungsstandards etwa heißt es: „Die Schülerinnen und Schüler erschließen sich literarische Texte von der Aufklärung bis zur Gegenwart und verstehen das Ästhetische als eine spezifische Weise der Wahrnehmung, der Gestaltung und der Erkenntnis. Sie verfügen über ein literaturgeschichtliches und poetologisches Überblickswissen, das Werke aller Gattungen umfasst, und stellen Zusammenhänge zwischen literarischer Tradition und Gegenwartsliteratur auch unter interkulturellen Gesichtspunkten her.“

Ähnlich liest sich der neue Bildungsplan in Baden-Württemberg für das berufliche Gymnasium. Hier heißt es ergänzend noch: „Sie [Die Schülerinnen und Schüler] formulieren und begründen ihr Textverständnis und beschreiben ihre persönliche Leseerfahrung.“ Der Bildungsplan gibt allerdings nicht darüber Auskunft, welche Werke sich eignen, um diese Kompetenzen zu vermitteln.

Kein bundesweiter Literaturkanon für die Oberstufe

Als Kriterien nennt Benedikt Reinhard, Pressereferent des Kultusministeriums in Baden-Württemberg, auf Anfrage des Schulportals, es würden „in der Regel solche Texte ausgewählt, die allgemein bedeutsame Themen und Probleme behandeln, die im Erfahrungsbereich der Schülerinnen und Schüler liegen und für sie als Heranwachsende relevant sind oder potenziell relevant werden könnten. Darüber hinaus sind bei der Textauswahl Kriterien wie ein für die unterrichtliche Behandlung angemessener Umfang oder die Eignung der Texte für die Konzeption von Abituraufgaben über mehrere Jahre hinweg zu berücksichtigen.“

Zusammengefasst: Bei der Auswahl der nicht durch das IQB vorgegebenen Pflichtlektüren entscheiden die Länder beziehungsweise die durch sie eingesetzten Kommissionen im jeweiligen eigenen Ermessen. Ein verbindlicher Literaturkanon für Schülerinnen und Schüler existiert in Deutschland nicht. Wenige Länder, darunter beispielsweise Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern, veröffentlichen lediglich Lektüreempfehlungen, aus denen die Lehrkräfte wählen können.

Der Entscheidungsspielraum bietet die Möglichkeit, auch neuere, in den Schulen bisher seltener gelesene Bücher vorzuschlagen – ohne dabei auf die „Klassiker“ zu verzichten.

Fortbildungen und Unterrichtsmaterialien sind nötig

Für die mangelnde Vielfalt und den geringen Wandel in den Abitur-Pflichtlektüren gibt es auch ganz pragmatische Gründe: Es ist mit viel Aufwand verbunden, Lehrkräfte für die Auseinandersetzung mit einem neuen Werk zu schulen und Unterrichtsmaterialien zu entwickeln. Denn anders als etwa im Fach Mathematik gibt es beim Umgang mit literarischen Texten keine absolute Objektivität, kein eindeutiges Richtig oder Falsch.

Auch im Fall von „Tauben im Gras“ in Baden-Württemberg argumentierte Kultusministerin Schopper mit dem hohen Aufwand, der bereits in Fortbildungen und Begleitmaterialien geflossen sei. Von den Verlagen gibt es ebenfalls bereits Hilfen für die Arbeit mit dem Roman – er stand nämlich 2014 in Nordrhein-Westfalen schon einmal auf der Liste der Pflicht-Abiturlektüren.

„Faust“ nicht mehr überall Pflichtlektüre

  • Diskussionen um Pflichtlektüre in der Schule gibt es auch, wenn ein Werk aus dem Literaturkanon gestrichen wird: In Bayern beginnt im September das vorletzte Schuljahr, in dem „Faust I“ von Johann Wolfgang von Goethe noch als Pflichtlektüre auf dem Lehrplan steht.
  • Ab dem Schuljahr 2024/25 müssen Schülerinnen und Schüler das Drama, das als eines der bedeutendsten und meistzitierten Werke der deutschen Literatur gilt, an bayerischen Gymnasien nicht mehr lesen. Damit endet ein fast ein halbes Jahrhundert dauernde Phase, in der „Faust I“ verpflichtende Lektüre war – wenn auch über fast drei Jahrzehnte hinweg nur für Deutsch-Leistungskurse.
  • Wie eine dpa-Umfrage unter den Kultusministerien der Länder im August 2022 ergab, ist es inzwischen eher die Ausnahme als die Regel, „Faust“ am Gymnasium verpflichtend zu lesen. Zu diesen Ausnahmen gehören Hessen, das Saarland sowie Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen, wo das Werk schon in der 10. Klasse auf dem Lehrplan steht. dpa

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