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28. Januar 1972 : Der Radikalenerlass traf vor allem Lehrerinnen und Lehrer

Am 28. Januar 1972 beschlossen Bund und Länder den sogenannten Radikalenerlass für den öffentlichen Dienst. Der umstrittene Erlass traf vor allem Lehrkräfte aus dem linken Spektrum, denen der Schuldienst damit verwehrt wurde. Die Regelung wurde zwar später zurückgenommen, aber viele Betroffene spüren die Folgen bis heute.

Menschenmenge mit Transparent
Der Radikalenerlass rief zahlreiche Proteste hervor.
©IMAGO/Klaus Rose

Am 28. Januar 1972 kamen der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und die Ministerpräsidenten der Länder zusammen und beschlossen den sogenannten Radikalenerlass. Die großen politischen Parteien sahen damals die Gefahr, dass das Beamtentum durch extremistische Kräfte untergraben wird. Formell richtete sich der Erlass gegen rechts- und linksextremistische Personen, die in entsprechenden Organisationen verfassungsfeindliche Ziele verfolgen würden. In der Praxis traf er aber fast ausschließlich Menschen aus dem linken Spektrum. Alle Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst wurden von nun an mit einer Regelanfrage beim Verfassungsschutz überprüft.

Insgesamt gab es 3,5 Millionen solcher Regelanfragen.

Über die Zahl der tatsächlich ausgesprochenen Berufsverbote gibt es unterschiedliche Angaben. Fakt ist, dass es in den meisten Fällen Lehrerinnen und Lehrer traf.

Der Politologe Gerard Braunthal spricht von 2.250 Bewerberinnen und Bewerbern für den öffentlichen Dienst, die aufgrund der Überprüfung abgelehnt wurden, und bezieht sich auf Daten linker Protestgruppen. In 256 Fällen kam es demnach zu Entlassungen. Gerichtsverfahren zogen sich oft über Jahre hin.

Der Radikalenerlass löste heftige Debatten und Proteste aus. 1976 bezeichnete Willy Brandt selbst den Erlass als Irrtum. Der Bund stellte die Regelanfragen bei seinen Bediensteten 1979 ein, doch erst 1985 hatten sich auch die meisten Bundesländer davon verabschiedet.

Die Aufarbeitung des Radikalenerlasses hat begonnen

Obwohl der Radikalenerlass lange zurückliegt, sind die Folgen für viele Lehrkräfte im Ruhestand spürbar, da sich das Berufsverbot auf die Rente auswirkt. Die Aufarbeitung ist in einigen Bundesländern im Gange. Der Landtag in Niedersachsen hatte sich als erstes Bundesland für das Unrecht entschuldigt, es folgten die Landesparlamente in Hamburg und Bremen. Das Berliner Abgeordnetenhaus hatte im August 2021 dem Antrag „Folgen des Radikalenerlasses anerkennen – Schicksale aufarbeiten, Betroffene rehabilitieren“ zugestimmt.

Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, hat in einem ARD-Interview 50 Jahre nach Inkrafttreten des Radikalenerlasses erklärt, dass Betroffenen damals Unrecht geschehen sei. Kretschmann zählte seinerzeit als angehender Lehrer selbst zu den Betroffenen des Erlasses. Nach dem Referendariat durfte er zunächst nicht an einer staatlichen Schule unterrichten. Grund für die Zweifel an seiner Verfassungstreue war unter anderem seine Mitgliedschaft im KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland). Er arbeitete deshalb übergangsweise für eine private Kosmetikschule. Ein Jahr später wurde er dann doch zum Beamten ernannt. „Ich hatte damals mit guten Fürsprechern einfach Glück, andere hatten das nicht“, sagte Kretschmann im Interview. An der Universität Heidelberg wird der Radikalenerlass derzeit wissenschaftlich aufgearbeitet.