„Clearing House Unterricht" : Wo Lehrkräfte Kernaussagen aktueller Studien finden

Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Bildungs­forschung kommen in der Praxis oft nicht oder erst mit vielen Jahren Verspätung an. Das soll sich nun ändern. Seit zwei Jahren gibt es „Clearing House Unterricht“ von der TUM School of Education, der Fakultät für Lehrer­bildung und Bildungs­forschung an der Technischen Universität München. Hier werden relevante Studien für den MINT-Unterricht aus­gewertet. Die Kern­aus­sagen werden in Kurz­reviews zusammen­gefasst und praxis­tauglich für Lehr­kräfte oder Studierende erklärt und aufbereitet. Das Schulportal hat mit Bildungs­forscherin und Projekt­leiterin Tina Seidel über das Angebot gesprochen.

Eine Lehrerin schreibt Zahlen an die Tafel und hält dabei ein Tablet in der Hand.
Wie effektiv sind digitale Anwendungen im Mathematik-Unterricht? Clearing House Unterricht hat internationale Studien zu dieser und anderen Fragen ausgewertet und die Kernaussagen zusammengefasst.
©Julian Stratenschulte (dpa)

Schulportal: Welche Idee steckt hinter dem „Clearing House Unterricht“?
Tina Seidel: Die empirische Bildungs­forschung hat in den vergangenen 20 Jahren einen enormen Aufschwung genommen. Da war es für Praktiker und Fach­kräfte in der Lehrer­bildung kaum noch möglich, einen Über­blick zu behalten und auf dem aktuellen Stand zu bleiben. Häufig wurden immer wieder Studien aus den 1990er-Jahren zitiert, obwohl es längst neue Erkenntnisse gab. Die Forderung nach mehr aktueller Evidenz in der Lehrer­bildung wurde immer stärker. Wir haben uns dieser Aufgabe gestellt und vor zwei Jahren die Website „Clearing House Unterricht“ an den Start gebracht. Unterstützt wurde das Projekt vom Bundes­ministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Qualitäts­offensive für die Lehrer­bildung.

Gab es internationale Vorbilder für das Clearing House?
Wir haben viele Anregungen vom „What Works Clearinghouse“ in den USA erhalten. Auch dort werden Forschungs­ergebnisse aus der Bildungs­forschung, die für die Praxis relevant sind, in verschiedenen Kurz­formaten zusammen­gefasst. Die Kurz­reviews dort sind zum Beispiel ähnlich aufgebaut, angefangen von der Frage „Worum geht es in der Studie?“ bis hin zum „Fazit für die Unterrichts­praxis“. Inhaltlich ist „Clearing House Unterricht“ jedoch etwas anders ausgerichtet als das Vorbild in den USA.

Welche Studien werden denn bei Ihnen ausgewertet und auf­bereitet?
Wir konzentrieren uns bisher nur auf Metaanalysen und das Thema MINT-Unterricht. Meta­analysen werten viele verschiedene empirische Studien zu einem Thema welt­weit unter einem speziellen Fokus aus. Dabei können Effekt­stärken zum Beispiel für spezielle Unterrichts­methoden bestimmt werden. Das bekannteste Beispiel für eine solche Meta­analyse ist die Studie des neuseeländischen Bildungs­forschers John Hattie. Insgesamt hat unser Team mehr als 2.600 Meta­analysen gesichtet und entschieden, welche für den MINT-Unterricht besonders relevant sind. Schließlich wurden 37 Meta­analysen ausgewählt, von denen bereits 23 Zusammen­fassungen auf der Website stehen. Wir lassen die Kurz­reviews immer auch von Praktikern testen, damit wir sicher sind, ob sie wirklich verständlich und alltags­tauglich sind. Einige der Zusammen­fassungen haben wir auch in Form von Podcasts mit verschiedenen Sprechern aufbereitet, weil wir von Nutzern die Rück­meldung erhalten hatten, dass sie gern Podcasts nutzen würden, wenn sie unterwegs sind.

Ein Mathematiklehrer der Oberstufe hatte uns beispiels­weise berichtet, er habe gemeinsam mit seinen Schülerinnen und Schülern die Studie zur Wirkung der Haus­aufgaben angeschaut und dann mit ihnen ein neues Vor­gehen vereinbart.
Tina Seidel, Clearing House Unterricht

Haben Sie Rückmeldungen, welche Studien bei den Lehrkräften oder Studierenden das größte Interesse wecken?
Wir haben derzeit pro Woche 250 Nutzerinnen und Nutzer der Website – viele kommen regel­mäßig wieder und bleiben im Schnitt fast fünf Minuten auf den Seiten. Das ist für eine Online­platt­form dieser Art ein großer Erfolg. Das Interesse liegt oft bei den Themen, die aktuell auch in der Öffentlichkeit eine große Rolle spielen. Die Studien rund um den Einsatz verschiedener digitaler Medien sind zum Beispiel sehr gefragt. Großes Interesse finden aber auch die Kurz­reviews zum Lernen in Gruppen, zum selbst gesteuerten Lernen und zum forschenden Lernen. Ein Mathematik­lehrer der Ober­stufe hatte uns beispiels­weise berichtet, er habe gemeinsam mit seinen Schülerinnen und Schülern die Studie zur Wirkung der Hausaufgaben angeschaut und dann mit ihnen ein neues Vorgehen vereinbart.

Soll Clearing House Unterricht weiter aus­gebaut werden, zum Beispiel auch Studien über den MINT-Bereich hinaus einbeziehen?
Inhaltlich wollen wir erst einmal bei unserem Fokus bleiben. Wir wollen aber künftig noch stärker die Praxis ein­beziehen. Zum Beispiel ist es geplant, auch Videos zu erstellen, in denen Praxis­beispiele aus Schulen zu den einzelnen Methoden gezeigt werden. Diese können beispiels­weise von Lehrer­bildnern in ihren Veranstaltungen zusammen mit den Kurz­reviews genutzt werden. Geplant ist auch eine Art Praxis-Guide mit konkreten Empfehlungen für den Unterricht. Das Angebot soll aller­dings nicht als Rezept verstanden werden. Wir wollen eher einen kreativen Prozess und Austausch mit den Praktikern. Schließlich ist die wissen­schaftliche Evidenz nur eine Ressource von vielen für guten Unterricht. Die Erfahrungen der Lehr­kräfte, wenn sie unsere Empfehlungen ausprobieren, sind deshalb eine wichtige Ressource für die Weiter­entwicklung des Clearing House Unterricht. Dazu wollen wir den Erfahrungs­austausch weiter fördern.

Auf einem Blick

  • Das „Clearing House Unterricht“ der TUM School of Education versteht sich als Schnitt­stelle zwischen Bildungs­forschung und Bildungs­praxis.
  • Die Website richtet sich vor allem an Lehrer­bildner in allen Phasen der Lehrerausbildung.
  • Ziel ist es, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu effektivem MINT-Unterricht zusammen­zu­fassen und für die Lehrer­bildung ziel­gruppen­gerecht aufzubereiten.