Mathematikunterricht : Besser erkennen, wie Kinder denken

Jeder vierte Jugendliche scheitert an Mathe. Muss der Mathematikunterricht anders werden? Das Schulportal sprach mit Christoph Selter, Experte für Mathematikdidaktik und Mitglied des Vorstands des Deutschen Zentrums für Lehrerbildung Mathematik (DZLM). Selter sieht es für die Mathematik kritisch, wenn Lehrkräfte zunehmend auf das selbstgesteuerte Lernen der Schülerinnen und Schüler setzen.

ein Kind arbeitet im Mathematikunterricht an einem Arbeitsblatt
Eine Studie hat gezeigt, dass Kinder in Klassen, die stark auf Schulbücher setzen, die die Lernenden sich selbst erarbeiten sollen, in Mathematik geringere Kompetenzen zeigten als Lernende in Klassen, in denen Bücher zum Einsatz kamen, die stärker auf Kommunikation setzten.
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Schulportal: 24 Prozent der 15-Jährigen scheitern an den Mindeststandards für den mittleren Schulabschluss. Das zeigte zuletzt der IQB-Bildungstrend 2018. In Mathe scheint es kaum Fortschritte zu geben. Brauchen wir einen neuen Mathematikunterricht?
Christoph Selter: Verbesserungen der Unterrichtsqualität wird es vermutlich nur dann nachhaltig und breitenwirksam geben, wenn es gleichzeitig auch verbesserte Rahmenbedingungen gibt. Die Lehrkräfte stehen heute häufig vor großen Klassen und sollen auf die Lernenden individuell eingehen, gleichzeitig sind die Klassen viel heterogener geworden. Immer mehr Kinder haben zum Beispiel Schwierigkeiten mit der Unterrichtssprache. Wir dürfen nicht den Lehrkräften allein die Schuld für die Mathematikleistungen der Schülerinnen und Schüler geben.

Gleichwohl, für die Qualität des Mathematikunterrichts sind drei Punkte von zentraler Bedeutung: die kognitive Aktivierung, das formative Assessment und das Classroom-Management. „Kognitive Aktivierung“ bedeutet, dass alle Kinder jeglichen Niveaus zum Denken herausgefordert werden. Um das zu schaffen, braucht es das „formative Assessment“, das heißt: die Feststellung, wo jedes Kind gerade steht. Das bildet die Grundlage für eine erfolgreiche Förderung. Beim „Classroom-Management“ kommt es darauf an, die Lernprozesse so zu organisieren, dass sie wirklich wirksam werden und möglichst wenig Zeit verschwendet wird.

Woran fehlt es denn bei diesen drei Punkten im Mathematikunterricht?
Kognitive Aktivierung findet im Mathematikunterricht leider noch zu selten statt. Häufig müssen die Lernenden nur etwas ausrechnen, ohne darüber nachzudenken, was sie da eigentlich machen. Auch die kontinuierliche Erfassung des Lernstands ist noch keine Realität.

Häufig müssen die Lernenden nur etwas ausrechnen, ohne darüber nachzudenken, was sie da eigentlich machen.

Viele Lehrkräfte setzen auf Klassenarbeiten und Zensuren allein. Die kontrollierende Leistungsbewertung nützt aber wenig für das Lernen. Klassenarbeiten werden immer dann geschrieben, wenn ein bestimmtes Stoffgebiet abgeschlossen ist. Wenn sich dann zeigt, dass ein Kind den Stoff nicht verstanden hat, ist es zu spät. In der nächsten Stunde kommt das nächste Thema dran, und es gibt keine Gelegenheit mehr, im Lernprozess auf die Schwierigkeiten einzugehen. Die Mathematik ist aber hierarchisch aufgebaut – wer die Addition nicht verstanden hat, wird danach auch die Multiplikation nicht verstehen, denn die ist ja ein wiederholtes Addieren, und so weiter. Wichtiger wäre es, regelmäßig im Unterricht zu schauen, wo die Kinder gerade stehen.

Was das Classroom-Management betrifft, ist für die Mathematik kritisch zu sehen, dass Lehrkräfte zunehmend auf die Dominanz freien selbstgesteuerten Lernens setzen. Die fachbezogene Kommunikation mit der Lehrkraft und der Schülerinnen und Schüler untereinander bleibt dabei oft auf der Strecke. Aber gerade für die Mathematik ist das Lernen von- und miteinander sehr wichtig, denn genau diese Auseinandersetzung bringt die kognitive Aktivierung. Mathe können sich die Kinder in weiten Teilen nicht selbst beibringen.

Zur Person

Christoph Selter
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  • Professor Christoph Selter ist Hochschullehrer für Mathematikdidaktik an der Fakultät für Mathematik der Technischen Universität Dortmund.
  • Er ist Leiter diverser Projekte zur fachbezogenen Unterrichtsentwicklung und zur Professionalisierungsforschung, Mitglied des Vorstands des Deutschen Zentrums für Lehrerbildung Mathematik (DZLM) und begleitet(e) wissenschaftlich die Entwicklung und Implementation mehrerer Mathematik-Lehrpläne.

Kinder denken anders als Erwachsene, sie haben andere Zugänge zu mathematischen Problemen. Wie können Lehrkräfte dieser Tatsache gerecht werden?
Lange ging man davon aus, dass eine Lehrkraft dann gut ist, wenn es ihr gelingt, das eigene Wissen gut zu vermitteln. Heute wissen wir, dass es nicht reicht, gut erklären zu können. Vielmehr ist die Lehrkraft Vermittler zwischen dem eigenen Fachwissen und dem Wissen des Kindes. Eine Lehrkraft ist dann gut, wenn sie in der Lage ist, zu sehen, wie der Schüler oder die Schülerin denkt. Auch wenn ein Ergebnis falsch ist, kann das, was sich das Kind dabei gedacht hat, durchaus sinnvoll sein. Wenn Vorschulkinder beispielsweise die Zahlenwortreihe aufsagen, dann geht das häufig so: „siebenundneunzig“, „achtundneunzig“, „neunundneunzig“, „hundert“, „einhundert“, „zweihundert“, „dreihundert“ usw. Man könnte meinen, dass die Kinder nichts verstanden haben von Zahlen, die größer sind als 100. In Wirklichkeit denken die allermeisten vernünftig. Denn im Hunderterraum wird der Einer immer zuerst genannt (sieben-und-dreißig), dieses Prinzip führt das Kind aus seiner Sicht logisch fort. Statt „einhunderteins“ sagt es „einhundert“. Aus der Sicht des Kindes ist das also eine sehr vernünftige Konstruktion.

Heute wissen wir, dass es nicht reicht, gut erklären zu können. Vielmehr ist die Lehrkraft Vermittler zwischen dem eigenen Fachwissen und dem Wissen des Kindes.

Für die Lehrerin oder den Lehrer ist es wichtig, zu erkennen, warum das Kind zu seinem Ergebnis gekommen ist. Das erfährt man, wenn man nachfragt, wenn man das Kind ernst nimmt und ihm zugesteht, dass es sich etwas Vernünftiges gedacht hat. Es geht darum, sensibel für die Denkweisen der Schülerinnen und Schüler zu sein.

Kann das in einem Unterricht, der auf selbstständiges Lernen in Lernbüros setzt, überhaupt funktionieren?
Die Frage ist, inwieweit der Unterricht lernwirksam ist. Und da kommt es auf die Umsetzung an. Wichtig ist, dass es auch dort ausgiebige Phasen der Kommunikation mit der Lehrkraft und des fachbezogenen Unterrichtsdiskurses gibt. Das ist nach meinen Erfahrungen aber oft nicht hinreichend der Fall. Eine Studie hat gezeigt, dass Kinder in Klassen, die stark auf Schulbücher setzen, die die Lernenden sich selbst erarbeiten sollen, in Mathematik geringere Kompetenzen zeigten als Lernende in Klassen, in denen Bücher zum Einsatz kamen, die stärker auf Kommunikation setzten.

Das Problem ist auch, dass gerade in stark individualisierten Lernformen häufig auf wenig herausfordernde Aufgaben zurückgegriffen wird. Wenn es darum geht, möglichst störungsfrei und ohne Nachfragen arbeiten zu können, dann geht das zulasten des Niveaus der Aufgaben. Besser wäre: herausfordern – nicht nur beschäftigen.

Wichtig ist auch, zu überprüfen, wie lernwirksam die Aktivitäten sind. Wenn Kinder in der Grundschule zum Beispiel beim Üben des kleinen Einmaleins etwas ausschneiden und aufkleben sollen, werden sie dafür viel Zeit brauchen – für das Beherrschen des Einmaleins werden diese Aktivitäten aber wohl wenig lernwirksam sein.

Nach den ernüchternden Ergebnissen der Internationalen TIMSS-Studie 1994 (Trends in International Mathematics and Science Study) wurde das bundesweite Programm SINUS (Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts) ins Leben gerufen. Was ist davon geblieben, und warum hat SINUS nicht die erwünschten Effekte gebracht?
SINUS war ein erfolgreiches Programm, das ist unstrittig. Schulen, die an dem Programm teilgenommen haben, haben in Vergleichsstudien besser abgeschnitten als andere Schulen. Erfolgreich war das Programm auch deshalb, weil die Schulen in dem SINUS-Netzwerk bei der Unterrichtsentwicklung in Mathematik durch Fachberater langfristig begleitet wurden.

Leider ist es aber nicht gelungen, das Programm in die Fläche zu bringen. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise haben nur etwa 30 von damals 3.000 Grundschulen teilnehmen können. In Bayern wird das Programm bis heute im Primarbereich kontinuierlich fortgesetzt – mit guten Ergebnissen. Ich würde mir wünschen, dass es bundesweit ein „SINUS 2.0“ als Programm zur fachbezogenen Unterrichtsentwicklung in Mathematik gäbe.

Es reicht nicht aus, eine gute Lehrkraft zu sein, um auch ein guter Fortbildner zu sein.

Sie haben für das Deutsche Zentrum für Lehrerbildung Mathematik mit PIKAS ein Programm für die Weiterentwicklung des Mathe-Unterrichts für die Primarstufe entwickelt. Was macht dieses Fortbildungsprogramm aus?
Es reicht nicht aus, eine gute Lehrkraft zu sein, um auch ein guter Fortbildner zu sein. Der Grundgedanke ist daher, dass auch die Fortbildenden unterstützt und qualifiziert werden müssen. Genau wie eine Lehrkraft wissen muss, wie ihre Schülerinnen und Schüler denken, muss der Fortbildner wissen, wie die Lehrerinnen und Lehrer fachbezogen denken. Dafür benötigt man wissenschaftliche Erkenntnisse, und auf dieser Grundlage werden dann die Fortbildenden qualifiziert. Genau das machen wir am Deutschen Zentrum für Lehrerbildung Mathematik.

Das Programm PIKAS richtet sich an Fachberater, Schulleitungen und alle, die selbst Fortbildungen zum Thema Fachdidaktik in Mathematik durchführen. Es gibt zwar viele Materialien zur Gestaltung des Unterrichts, aber für fachbezogene Fortbildungen gibt es das kaum. PIKAS schließt diese Lücke und bietet auch viele konkrete Anregungen, wie man das Gelernte im Unterricht ausprobieren könnte. Fortbildung sollte kontinuierlich sein. Nach der Phase der Erprobung im Unterricht treffen sich die Lehrkräfte erneut, um die Erfahrungen in der Praxis auszuwerten. Inzwischen nutzen bereits 15 Bundesländer dieses Programm. Wir haben am DZLM auch noch weitere Projekte, die man gesammelt auf proprima.dzlm.de findet.

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  • Ein Nachhilfelehrer, der zuvor ein halbes Jahrhundert Mathematiklehrer war, erzählt, was Kinder und Jugendliche zu ihm führen und wie er ihnen die Angst vor dem Fach nimmt.
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